Wir wollen immer artig sein... Eine Buchvorstellung (nur Skript)

ID 11928
 
'Wir wollen immer artig sein...'
Punk, New Wave und Independent-Szene in der DDR von 1980 bis 1990

herausgegeben von Ronald Galenza und Heinz Havemeister im Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf

die zweite, erheblich erweiterte Auflage ist derzeit im Buchhandel erhältlich

Länge: ca. 6'30 Min. (Text), ca. 30' Min. (mit Musik)
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Upload vom 16.03.2006 / 13:20

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Musik, Jugend, Kultur
Entstehung

AutorInnen: Steffen (RUM)
Radio: RUM-90,1, Marburg im www
Produktionsdatum: 16.03.2006
keine Linzenz
Skript
Rad(i)otage (eine Themenmagazinsendung)

Manuskript vom 16. März 2006

'Wir wollen immer artig sein...'
eine Buchvorstellung

Die DDR ist seit 1990 Vergangenheit. Die Beschäftigung mit ihrem kulturellen und musikalischen Erbe gehört von Zeit zu Zeit zu den Lieblingsbeschäftigungen der Feuilletons. Dabei haben gelegentlich auch subkulturelle Phänomene Eingang in die historisierende Forschung gefunden, etwa im Rahmen des Punk-Kongresses in Kassel 2004.
Ein umfassendes Highlight in diesem Sektor erschien Ende 1999:

„Wir wollen immer artig sein..."
Nach dieser Titelzeile eines Songs von Feeling B benannten Ronald Galenza und Heinz Havemeister ihr Buch über die Punk, New Wave, Hiphop- und Independentszene in der DDR zwischen 1980 und 90.

Musik: Feeling B 'Wir wollen immer artig sein'

„Wir wollen immer artig sein..." wurde nun vor einigen Monaten in zweiter Auflage als Taschenbuch herausgebracht. Die erheblichen inhaltlichen Erweiterungen machen diesen Band nun schon fast zu einer Art Standardwerk, speziell zur Geschichte des DDR-Punkrock.

Anfang der 80er bedeutete Punk in der DDR den völligen Bruch mit der Gesellschaft, war Ausstieg und Provokation: Ein grober Verstoß gegen die Normen der sozialistischen Moral. Logischerweise geriet Punk sofort ins Visier der Staatsorgane. Treffpunkte für Punks gab es nur in abrißgefährdeten Häusern, privaten Kellern, oder einzelnen Kirchen. Skurrile Ausnahmen, wie etwa die jugoslawische Botschaft in Ostberlin, änderten daran nichts.
Der Alltag der frühen Punkzeit war geprägt von Streß mit dem Staat und seinen Bürgern. Ausweiskontrollen, Knasterfahrungen, Berlin-Verbote und Ordnungsstrafen wegen asozialen Lebenswandels waren ebenso normal wie Massenschlägereien mit Langhaarigen oder Spießern. Interessanterweise waren kirchliche Bluesmessen mit hunderten von Langhaarigen oft der erste und einzige öffentliche Auftrittsort für Punkbands. Mangel herrschte allerdingsnicht nur an Auftrittsorten: Instrumente und Equipment wurden irgendwie beschafft oder selbst gebaut und häufig von mehreren benutzt. Als Verstärker wurden oftmals umgebaute Kassettenrecorder verwendet. Studioproduktionen oder gar Plattenaufnahmen bei DDR - Firmen gab es nicht.
Allmählich entwickelte sich jedoch die Aufnahme und Verbreitung von selbstaufgenommenen Kassetten. In einigen wenigen Fällen wurden Aufnahmen mit hohem Risiko in den Westen geschmuggelt und dort auf Platten gepreßt. Die LP 'Live in Paradise' von 1984 ist dafür ein Beispiel. Aus Sicherheitsgründen sind auf dem Cover keine Namen von Bands angegeben.

- Musik: 'Live in Paradise'

1983 sollte Punk aus der DDR verschwinden: Stasi-Minister Mielke wollte das Problem vom Tisch haben. Die erste Ostberliner Punkgeneration verschwand fast komplett im Knast oder im Westen. Bands wie die legendären 'Namenlos' lösten sich auf.
Ost-Underground bot aber auch andere Formen avantgardistischer und experimenteller Musik in Verbindung mit Malerei, Literatur oder Aktionskunst. Aus der Literaturszene vom Berliner Prenzlauer Berg spielten etwa Sascha Anderson und Bert Papenfuß auch musikalisch eine Rolle.

- Musik: Zwitschermaschine: Geh übern Fluss

Der Name Sascha Anderson führt uns zu einem anderen brisanten Aspekt: Dem schwierigen Verhältnis von Widerstand und Repression durch die Einbindung zentraler Szenegrößen als Stasispitzel. Neben Anderson betrifft das etwa Leute der Berliner Band 'Die Firma' oder den Leipziger Imad Abdul-Majid.
Imad war Initiator einer Reihe kultureller und politischer Projekte und Kopf der Bands 'Wutanfall' und 'L’Attentat'.
Ab Mitte der 80er Jahre kam es zu einer gewissen Lockerung der Verhältnisse. Kulturelle Experimente und schräge Sounds werden geduldet, solange keine politischen Forderungen damit verbunden werden.
Diese kulturelle Öffnung der Gesellschaft führt zu einer tiefen Spaltung der Szene: die einen treten bei offiziellen Veranstaltungen auf, bekommen Möglichkeiten zu Platten- und Rundfunkproduktionen und werden quasi zu Aushängeschildern der scheinbaren SED - Liberalität.
Die anderen bleiben kompromißlos und werden weiter verfolgt. Aus ihrer Sicht hatte die Punkszene längst ihre Unschuld verloren.
Der dresdener Jörg Löffler schreibt über diese Zeit: „Die Punkszene war ab 1984/85 zunehmend von Bahnhofskneipenprolls durchsetzt. Punk war eigentlich keine politische Untergrundbewegung, sondern eine Jugendmode, genau wie Heavy Metal, Popper, Skins, Batman-Fans und Dirty-Dancing. Eine Rebellion im Kinderzimmer."
Löfflers Band 'Paranoia' wandte sich deshalb von der Punkszene ab und schor sich die Haare.

- Musik: Paranoia: Kid-Punx verpisst euch

Ein großes Plus von „Wir wollen immer artig sein..." liegt in der subjektiven Sicht der AutorInnen als unmittelbar Beteiligte. Zwar gibt es dadurch eine ganze Reihe von Wiederholungen, allerdings liegt das wohl eher in der großen Bedeutung einiger einzelner Ereignisse und Personen der recht kleinen und provinziellen DDR-Szene begründet.

Ein weiteres Plus ist der Blick über den Berliner Tellerrand, auch wenn die Entwicklungen in Berlin sehr dominant sind.
Die regionalen Kapitel sind im Übrigen die wichtigste Erweiterung der aktuellen Neuauflage.
Gab es schon 1999 eigene Kapitel zu den Szenen in Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt und in Thüringen, so sind nun auch Magdeburg, Halle und Weimar beschrieben, außerdem besondere Phänomene wie die Dorfkneipe im brandenburgischen Lugau. Wünschenswert wäre für die dritte Auflage noch ein Kapitel über die Mecklenburgische Szene. Die gab es nämlich auch, kommt aber bisher nicht in ‘Wir wollen immer artig sein...’ vor.

- Musik: Dritte Wahl:

Die Entwicklungswege bestimmter Personen und Bandprojekte werden nachgezeichnet und durch eine umfangreiche, wenngleich nicht vollständige Disko- und Cassettographie ergänzt.
Am Beispiel der Berliner Band 'die anderen' ist einiges über die Probleme mit staatlicher Vereinnahmung, mit Plattenaufnahmen, Medien und Westreisen zu erfahren.

- Musik: die anderen: Pauls Hochzeit

Galenza und Havemeister bemühen sich um die Zeichnung eines Alltagsbildes. Ihr Buch kommt ohne Heroisierung und Verklärung aus und verzichtet auf eine Verwissenschaftlichung. Und es kommen bisher weitgehend ignorierte Phänomene wie HipHop in der DDR vor.
Die in der Erstauflage vorhandenen Defizite sind nun teilweise abgestellt worden. So widmet sich der Schlussteil der Entwicklung und Veränderung der Szenen nach 1989, die immerhin solche seltsamen Erscheinungen wie 'Rammstein' hervorbrachten.
Manche Schwächen des Bandes sind allerdings erhalten geblieben:
Das wichtigste Problem liegt in der Zielgruppe. ‘Wir wollen immer artig sein...’ ist in erster Linie ein Insiderbuch. Wer nicht selbst die DDR erlebt hat oder eben selber Teil einer subkulturellen Szene war (oder ist), der wird es schwerhaben, sich den Kontext und die zahlreichen detaillierten Anspielungen zu erschließen. Für den Rest ist es eine unschätzbare Fundgrube.
Zudem drängt sich bei der Lektüre der Eindruck auf, als sei die DDR-Untergrund-Szene eine extrem männerlastige gewesen. Unabhängig davon, ob dieser Eindruck stimmt, wäre eine Betrachtung dieser Szene aus geschlechtsspezifischer Sicht zweifellos eine Bereicherung gewesen.

Ein anderes strukturelles Problem ist mit einem Buch alleine natürlich nicht zu beheben. Eine Band aus den 80ern lernt man nicht kennen, indem man über sie liest. Ein begleitender Tonträger wäre eigentlich ein Muss für die Zweitauflage gewesen.
So seien alle Hör-Interessierten auf die Website www.parocktikum.de verwiesen. Auf dieser Site ist immerhin ein gewisser Teil der im Buch erwähnten Bands auch mit Höreindrücken zu finden. im dortigen Forum wurde vor kurzem auch über eine geplante 4-CD-Compilation zum DDR-Untergrund berichtet. Sie könnte eine wundervolle Ergänzung zu ‘Wir sind immer artig sein...’

Ich hoffe, dass dann auch eine meiner Lieblingsbands, die Berliner 'Tina has never had a teddybear' darauf zu hören sind. Über diese wunderbare Band hätte ich schon 1999 gerne mehr erfahren, doch auch in der Neuauflage werden sie nicht ausführlich gewürdigt. Bleibt also noch Platz, erwähnt.

- Musik: Tina has never had a teddybear: he's coming back

'Wir wollen immer artig sein...'
Punk, New Wave und Independent-Szene in der DDR von 1980 bis 1990
wurde herausgegeben von Ronald Galenza und Heinz Havemeister im Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf
die zweite Auflage ist derzeit im Buchhandel erhältlich