Albert Jörimann - Jahresrückblick

ID 119460
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Der Jahreswechsel wird gern benutzt, um nicht nur finanziell Bilanz zu ziehen, das ist fast ein Volkssport, man tritt etwas zurück oder, sozusagen in der vegetarischen Variante der Sofakartoffel...
Audio
12:27 min, 29 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.12.2022 / 22:29

Dateizugriffe: 117

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.12.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Jahreswechsel wird gern benutzt, um nicht nur finanziell Bilanz zu ziehen, das ist fast ein Volkssport, man tritt etwas zurück oder, sozusagen in der vegetarischen Variante der Sofakartoffel...
Man lehnt sich zurück, schließt die Augen und lässt die vergangenen zwölf Monate Revue passieren, also vor dem geistigen Auge nochmals an sich vorüber ziehen, und dieser Prozess, also sowohl das Betrachten des inneren Jahres-Zusammenschnittes als auch das Erstellen des Fazits, findet seine Äußerung in einem langen und tiefen Rülpser. Das war's; und wenn man Ton­auf­zeich­nun­gen dieser Rülpser hätte, könnte man damit ein Archiv bestücken mit ebenso vielen Ein­tra­gungen, wie man Lebensjahre zählt. Es wäre interessant zu beobachten, wie sich diese Rülpser im Lauf der Jahre verändern, vom schüchternen kleinen Börp der Kindergärtnerinnen über das absichtlich übertrieben laut herausgerotzte Buährg pubertierender Jungmänner bis zum gesetzten und gepflegten, abgerundeten, nach Tabak und Tannin und Zinnamon riechenden und durchaus der Neujahrsansprache einer Bundespräsidentin vergleichbaren Rülpsverlautbarung von weiblichen Vorstandsvorsitzenden fünf Jahre vor ihrer Pensionierung. Vielleicht ließe sich mit etwas musi­ka­li­schem Geschick daraus eine Epochen-Kantate komponieren, untermalt vielleicht von ein paar zeittypischen externen Geräuschzutaten aus Handyaufnahmen und von Tiktok und Instagram. Ja, schön war's, das abgelaufene Jahr, mindestens als Rülpser im Jahresrückblick.

Die Bilanz zum diesjährigen Jahreswechsel dagegen ist sehr provisorisch und unvollständig mit dem weiter laufenden Krieg in der Ukraine, den nun selbst der Oberste Chef in Russland einen Krieg nennt, weshalb ihn ein Petersburger Abgeordneter geradewegs des Landesverrats beschuldigt und eingeklagt hat, weil es bis dato offenbar hochgradig verboten war, von Krieg zu sprechen und nicht von irgendwelchen Sonderoperationen; diesen Vorgang finde ich immerhin amüsant mitten in dieser geistigen Landschaft Russ­lands, die schon vor dem Krieg von der herrschenden Klasse mehr oder weniger in Trümmer gelegt worden war. Dies ist eine weitere Frage, auf welche wir im ver­gan­genen Jahr keine Antwort erhalten haben: Weshalb lässt sich ein ganzes Land das Maul und das Denken verbieten, ein Land, dessen Ausbildungsstand doch nach wie vor einigermaßen anständig angenommen werden kann? Kriegspropaganda in allen Ehren, aber die Russinnen und Russen hören doch seit mindestens zehn Jahren nur noch Bullshit von den offiziellen Stellen, und sie kön­nen das wissen. Sagen wir mal: Sie wissen es auch. Was ist da los? Ist das eine Nation von Ultra-Stoikern, oder handelt es sich um die Auswirkungen von 100 Jahren Stalinismus? Ich weiß es ein­fach nicht. Jedenfalls hat diese passive Haltung der russischen Bevölkerung, der Mangel an Wille, sich als solche zu manifestieren, schon zum Ende der Sowjetunion dazu geführt, dass sich eine Handvoll von Glücksrittern die frei herum liegenden Besitzrechte an all dem, was im Land halb­wegs einen Wert besaß, einfach so appropriierte, die Chodorkowski, Abramowitsch, Vekselberg und so weiter. Keinerlei Aufmucken des russischen Subjektes, welches sich so nicht als Subjekt im philosophisch-historischen, sondern im feudalen Sinne zeigt. Wie auch immer und zurück zum Krieg: Dessen Dauer und Ausgang lassen sich zwar parametrieren, aber schwer vor­aus­sagen. Die Parameter bestehen in erster Linie in der Neigung der US-Amerikaner, weiterhin auf ukrainischem Boden auf die russischen Truppen einzudreschen. Sobald sie davon die Nase voll haben, werden sie eine Verhandlungslösung herbeiführen, sei es durch einen offiziellen Eingriff der Nato, nachdem diese inoffiziell seit acht Jahren im Lande steht, oder durch sonstwelche öffent­lich­keits­wirksame Aktionen; damit findet dann die Heimkehr der Ukraine ins europäische Reich, dem sie wesenhaft seit mehreren tausend Jahren angehört, ihren Abschluss. Ich erinnere bei dieser Gelegenheit immer wieder gerne daran, und das ist nun kein Jahresrückblick, sondern ein Jahrzehnt-Rückblick, dass der Beginn der Ukraine-Kampagne in die erste Amtszeit der Brühwurst Barroso als EU-Kom­mis­sions­präsident, aber auch in die erste Amtszeit von Joe Biden als Vizepräsident der Vereinigten Staaten fällt; den ersten Höhepunkt stellte zweifellos das Asso­ziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine aus dem Jahr 2011 dar, das nicht einfach ein Handels- oder Kreditabkommen darstellte, sondern die Abkehr der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft von den Standards der russischen Föderation beinhaltete und ihren Austausch gegen die europäischen. Dieses Abkommen lehnte Präsident Janukowitsch Ende 2013 im letzten Augenblick doch noch ab, und an diese Stelle gehört auch noch die Erinnerung daran, dass auch die damalige deutsche Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel, die dermaßen einseitig aufgesetzten Verträge für unausgegoren und verfrüht hielt. Janu­ko­witsch verweigerte also Ende 2013 die Unterschrift, selbstverständlich nicht zuletzt wegen des Drucks aus Russland, worauf die Maidan-Proteste ein­setzten, über deren Entstehung irgendwann einmal ein Bericht erstellt werden wird, der nicht von Klick-Medien oder von ideo­logisch vorge­koch­ten Experten verfasst ist. Wenn man die Ursache am Ergebnis misst, sind die Dinge klar, näm­lich ende­ten diese Proteste mit dem Sturz von Janukowitsch und der Einsetzung einer Regierung, welche das Assoziations­ab­kom­men unterstützte, worauf die Russen und ihre Verbündeten die nördliche Schwarz­meerküste der Ukraine und die Halbinsel Krim besetzten aus Gründen, die schon damals völlig unbstritten waren – man wollte die Nato nicht in Sichtweite oder gar mit territorialer Hoheit über die wichtigsten russischen Flottenstützpunkte haben. Umgehend begannen die US-Amerikaner und die Nato, die ukrainische Armee auf Vordermann zu bringen, mit allerlei Erfolg, wie wir ziem­lich erstaunt festgestellt haben, wobei das Erstaunen vor allem darauf beruhte, dass diese Sorte der Aufrüstung bezie­hungs­weise die friedliche Übernahme der gesamten ukrai­ni­schen Armee durch die Nato völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit vonstatten ging. Das vor­läu­fige Ergebnis bezie­hungs­weise eben die Zwischen­bilanz kennen wir, und was den weiteren Verlauf angeht, so kann man wie gesagt nur Vermutungen anstellen. In erster Linie kommt es auf die Lau­nen der US-Amerikaner an. Den Russen traut man im Moment keine größeren Erfolge oder gar den Sieg in diesem Krieg zu. Der Einsatz von Atom­bom­ben, den man im ersten Moment befürchtet hatte von dem Punkt an, da die russische Armee­füh­rung ihre eigene Lage als aussichtslos ein­schätzt, scheint keine Option zu sein, wie wir mit einiger Erleichterung feststellen. Möglicherweise sind die US-Amerikaner bezie­hungs­weise die Nato im ballistischen Bereich unterdessen derart weit fortgeschritten, dass sie all­fäl­lige russische Träger­ra­ke­ten nach Belieben abschießen könnten, ich weiß es nicht. Ein Nuklearkrieg zeichnet sich jedenfalls nicht ab, was aber noch lange nicht bedeutet, dass die militärische Nieder­lage Russlands bereits feststeht; schon früher haben sich verschiedene groß­mächtige Gegner an der Tiefe des russischen Hinterlandes die Zähne ausgebissen. In einem Jahr wissen wir mehr und mel­den uns dann wieder aus der Tiefe des Raumes.

Eine weitere Entwicklung, die man nicht so richtig bilanzieren kann, ist die der fortgeschrittenen Gesellschaften in Richtung des allgemeinen Wohlstandes. Eigentlich erfasst diese Entwicklung alle Regionen des Planeten, aber zum Zwecke der Verallgemeinerung des allgemeinen Wohlstandes sind gewisse Voraussetzungen der gesellschaftlichen Organisation zu erfüllen, die nicht überall gegeben sind. Ich verweise unter anderem wieder auf die offenbar anspruchslose Geduld des russischen Gesamtsubjektes, welches bisher noch keine Anstrengungen unternommen hat, diesen Wohlstand für sich selber als Recht zu reklamieren und nicht als eine Gnade oder eine Himmels­gabe. Aber wie auch immer: In den fortgeschrittenen Gesellschaften sind wir nicht nur soweit, sondern es ist seit mehreren Jahren stehende Praxis, den allgemeinen Wohlstand und auch die materielle Ausstattung der unteren Gesellschaftsschichten deutlich anzuheben, warum, es geht bei uns gar nicht anders, wo die ökonomischen Gesetze von Absatz und Produktion gar keine Wahl lassen, wenn es um die Verteilung der produzierten Güter geht. Wie man diesen grundsätzlich positiven Trend nun aber einrichtet, das ist eine Frage, die noch nicht geklärt ist. Wir haben immer das bedingungslose Grundeinkommen als ein Instrument dieser Entwicklung aufgefasst, nicht als das einzige, bei Weitem nicht, aber als jenes Instrument, das mindestens mit der absoluten Armut ein für allemal Schluss macht. Dass angesichts des Standes der Produktivkräfte ein viel höheres Grundeinkommen zum Standard werden müsste, versteht sich aus der gleichen Perspektive ganz von selber. Kürzlich habe ich bei den österreichischen Kolleg:innen einen entsprechenden Ansatz gefunden, den ich hier aus Spaß an der Sache zitieren will: Sie fügen zur Mindestsicherung, also zur absoluten Ausmerzung der absoluten Armut, noch einen Wohlstandsanteil hinzu. Volltreffer!, kann ich hierzu nur sagen, genau so muss es sein. Wer heute noch behauptet, unsere Gesellschaft könne sich einen allgemeinen Wohlstand finanziell nicht leisten, die oder der sollte sich was schämen. Die österreichischen Kolleg:innen nennen dafür auch Zahlen, ich glaube, sie stammen aus dem Jahr 2021: Die Mindestsicherung liegt bei 950 Euro, und dazu kommt ein Wohlstandsanteil von gleicher Höhe, macht insgesamt ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1900 Euro pro erwachsene Person. Diese neue Komponente des Wohlstandsanteils habe ich zum ersten Mal gesehen, und sie leuchtet mir derart ein, dass ich sie für die fortgeschrittenen Gesellschaften umgehend in meine Überlegungen aufnehme. Ob es dann gerade 100% sind oder eventuell auch nur die Hälfte, ist gar nicht so wichtig; wichtig ist, dass wir damit auch offiziell akzeptieren, dass wir es nicht mehr mit dem Armutsproblem zu tun haben, sondern mit dem Wohlstandsproblem. Und das, geschätzte Hö­re­rinnen und Hörer, ist auch als Zwischenbilanz eine absolut erfreuliche Feststellung. Sie ver­än­dert meines Erachtens die Art, die Gesellschaft zu analysieren und politische Forderungen zu stellen.

Die österreichischen Kolleg:innen sind sich übrigens bewusst, dass die Lage nicht auf der ganzen Welt die gleiche ist. Sie schlagen Mittel und Wege vor, wie man regionale Unterschiede und Abhängigkeiten aufheben kann, sodass schließlich das Wohlstandsniveau auf der ganzen Welt auf den möglichen und realistischen Stand angehoben wird. Einer dieser Wege beruht auf der Änderung des bestehenden Geldsystems. Naja, ändern wir doch mal schnell das bestehende Geldsystem. Bloß wie? Mit einer konsultativen Volksabstimmung im österreichischen Bundesland Kärnten zum Beispiel? Solange für solche Dinge weder Ansätze noch politische Trägergruppen bestehen, was übrigens auch eine Jahrzehnte dauernde Arbeit auf globaler Ebene voraussetzt, bleibt so etwas ein frommer Wunsch. Stattdessen halte ich es für eine realistische Möglichkeit, dass unser System, also der Kapitalismus, gerade im Rahmen seines Geldsystems, das sich ja auch fast täglich verändert, an neue Situationen anpasst und selber neue Verhältnisse schafft, neue Wege der Wohlstandsverteilung austüftelt. Ich nenne als Paradebeispiel dafür die keineswegs mehr irgendwie verhüllten Maß­nah­men der Staatengemeinschaft zur Schaffung neuer Gelder. Diese Kapitalien entstehen nicht auf den Kapitalmärkten, wie wir es uns seit zwanzig oder dreißig Jahren gewohnt sind, sondern eben in den Kassen der Europäischen Union, zum Beispiel, oder der US-amerikanischen Zentralbank. Die ent­spre­chenden Hunderte von Milliarden Dollar oder Euro gehen zwar nur in seltenen Fällen direkt an die Bevölkerung, zum Beispiel als Direktzahlung, wie dies in den USA letztes Jahr der Fall war; in der Regel wird der Umweg über irgendwelche Investitions- und insofern Beschäftigungsprogramme gesucht, wobei solche Programme immer wieder die bekannten Nebenwirkungen wie Sparquoten und solche Effekte auf den meisten Ebenen, mit Ausnahme in der Regel der untersten, erzielen und so durch die Verwandlung eines gewissen Teils der Investitionen in Kapital wiederum zur Verbrei­te­rung des Kapitalertragsmechanismus beitragen. Auf diese, oberflächlich gesehen ziemlich klas­si­sche Art und Weise kann die Verteilung von Wohlstand ebenfalls besorgt werden. Ich nenne sie oberflächlich, weil sie längstens jenseits von allen klassischen Prinzipien der Wertschöpfung erfolgt. Aber die Kritik daran darf sich in der puren Feststellung erschöpfen; solange das System funktioniert und solange tatsächlich auch die wenig bemittelten Bevölkerungsschichten einen ausreichenden Anteil daran haben, also eben ihren Wohlstandsanteil, solange besteht zunächst kein Grund zu meckern.

Kommentare
30.12.2022 / 17:57 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 30.12.. Vielen Dank !