"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Mohamed Bmougar Sarr

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Als ich zum ersten Mal eine dieser unterdessen recht gut verbreiteten animierten 3-D-Kunst­pro­jek­tio­nen anschaute, nämlich zum Thema Klimt und Jugendstil im Atelier des Lumières in Paris, wohin ich von Zürich aus mit dem Zug deutlich weniger lang fahre als zum Beispiel nach Erfurt, da war ich nicht nur stark beeindruckt vom Spektakel, wie übrigens auch später noch ein paarmal, sondern ich benutzte die Gelegenheit und erstand im Bahnhofskiosk ein Buch, nämlich den Prix Goncourt aus dem Jahr 2016, «Chanson Douce» von Leïla Slimani.
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13:04 min, 30 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.01.2023 / 22:46

Dateizugriffe: 91

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.01.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als ich zum ersten Mal eine dieser unterdessen recht gut verbreiteten animierten 3-D-Kunst­pro­jek­tio­nen anschaute, nämlich zum Thema Klimt und Jugendstil im Atelier des Lumières in Paris, wohin ich von Zürich aus mit dem Zug deutlich weniger lang fahre als zum Beispiel nach Erfurt, da war ich nicht nur stark beeindruckt vom Spektakel, wie übrigens auch später noch ein paarmal, sondern ich benutzte die Gelegenheit und erstand im Bahnhofskiosk ein Buch, nämlich den Prix Goncourt aus dem Jahr 2016, «Chanson Douce» von Leïla Slimani.
Ich habe mich damals im Freien Radio Erfurt International kurz dazu geäußert und meinem Unbehagen Ausdruck verliehen über dieses «Attentat auf den Gefühlshaushalt, anhand dessen eine ansonsten diffuse Bedrückung der französischen gehobenen Mittelschicht wieder mal ins Wort gefasst werden kann», wie ich damals sagte und den Beginn «Le bébé est mort. Il a suffi de quelques secondes» verglich mit dem Beginn von «L'Etranger» von Albert Camus: «Aujourd'hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.» Und dann schob ich noch nach: «Vielleicht ist die Babysitterin dann auch noch eine Algerie­rin wie bei Camus», aber hier lag ich etwas daneben, indem das Kindermädchen, wie es sich in der französischen Mittel­schicht gehört, sehr wohl aus dem Maghreb stammt, aber die Autorin, deren Identifikation mit dem fiktiven kindsmörderischen Kindermädchen mindestens so weit geht, dass sie einen Roman darüber schreibt, ist nicht Algerierin, sondern – Französin, natürlich, aber eine Französin marokkanischen Ursprungs. Und sowas erhält den Goncourt, könnte man nun ausrufen, beziehungsweise man könnte sagen, dass sowas den Goncourt gerade deshalb erhält, weil es die Bedrohung der fran­zö­si­schen Kerngesellschaft, korrekter: die Empfindung der Bedrohung sublimiert und literarisch fasst mit einer klaren Schuldzuweisung an die Immigrantin, vor welcher die französische Gesellschaft ähnliche Ängste hat wie die deutsche, bloß ist die fran­zö­si­sche Variante um die Epoche der Kolonien reicher, auch deutlich älter im Gegensatz zu den nach wie vor panischen vaterländischen Idioten bei der Allianz für Deutschland, in Frankreich eben auch geprägt durch die Präsenz zahlloser Abkömmlinge aus diesen Kolonien im Unterschied zur deutschen, und die Ghettobildung, die Segregation, die Krawalle, die Unruhen in den Vorstädten sind ebenfalls um einiges älter und umfassender als das, was gerade wieder mal in Deutschland diskutiert wird, aber das führt jetzt zu weit, nämlich wollte ich bloß sagen, dass es eben seit einiger Zeit keine Ausnahme mehr ist, dass sowas den Goncourt erhält. Im Jahr 2009 ging er an Marie Ndiaye, eine Schwarze mit Wurzeln im Senegal, für den Roman «Trois femmes puissantes», zu dem ich mich nicht äußern kann, weil ich ihn nicht gelesen habe; der Titel aber gefällt mir. Ein Jahr zuvor erhielt ihn Atiq Rahmi für «Pierre de Patience», wobei der im afghanischen Kabul aufgewachsen ist und nicht in einer französischen Kolonie, aber immer­hin; dann muss man wieder eine längere Zeit zurück­blättern bis 1993, als der libanesischstämmige Amin Maalouf den Goncourt erhielt für den Roman «Le rocher de Tanios», ein Jahr zuvor war Patrick Chamoiseau geehrt worden für «Les filles du calvaire», und Chamoiseau stammt aus der Übersee-Provinz Martinique. Im Jahr 1987 aber erhielt ihn der Marokkaner Tahar Ben Jelloun für das Buch «La nuit sacrée». Mit ihm begann die Reihe der nichtweißen Goncourt-Preisträger und damit die Ära des französischen Stoßseufzers «und sowas erhält den Goncourt». Es ist der Stoßseufzer einer aussterbenden Generation, die der ehemaligen kolonialen Grande Nation nachtrauert.

Die Preisträgerin des Jahres 2022 heißt Brigitte Giraud, das bepreiste Buch ist «Vivre vite», ich kenne es nicht, kann aber immerhin angeben, dass Brigitte Giraud während dem Algerienkrieg in Algerien geboren wurde. Was ich dagegen kenne, ist der Vorgänger aus dem Jahr 2021, das Buch «La plus secrète mémoire des hommes» von Mohamed Mbougar Sarr, der nicht nur senegalesische Wurzeln hat, sondern direktemang und höchstpersönlich senegalesischer Staatsbürger ist. Er bezie­hungsweise sein Buch hat einen Tabak gemacht, wie die Französin sagt, der Hanser Verlag erwarb die deutschen Rechte für über 100'000 Euro, und für weitere 21 Sprachen wurden die Rechte ebenfalls verkauft. Und obwohl wir hier also von einem Tabak, also einer Erfolgsgeschichte spre­chen, hat mir das Buch gefallen, eigentlich; allerdings macht es den Eindruck, als sei es über gewisse Strecken aufgrund von Marktforschungs­er­geb­nissen bei der französischen Leser:in­nen­schaft verfasst worden (und offenbar nicht nur der französischen), namentlich der obligatorische Abstecher in die Zeit der deutschen Besetzung von Paris mit dem obligatorischen deutschen Offizier, der berühmt ist für seine Härte an der Front, daneben aber hoch kultiviert ist, Rimbaud und Rilke auch im Schlaf rezitiert und Französisch spricht wie eine Brieftaube, bei dem die arischen Züge aber sofort durchbrechen, sobald er den Namen des jüdischen Verlegers hört, den er um­gehend ins KZ abführen lässt. Aber insgesamt beschäftigen sich Sarrs geheimsten Erinnerungen der Menschen in mehreren Anläufen auf vernünftige Art und Weise mit der Frage, wie ein:e fran­zö­sisch­spra­chige:r Autor:in aus den Kolonien in Frankreich schreiben und gelesen werden kann. Im Lauf des Buches wird die zweite Frage dominant, nämlich was mit der Identität dieser Autor:innen geschieht.

Der reale Roman von Sarr dreht sich um einen fiktiven französischsprachigen Roman von T.C. Elimane, einem senegalesischen Autor, aus dem Jahr 1938, der kurzzeitig seinerseits einen Tabak gemacht hat als erstes Werk eines Verfassers aus den Kolonien, der das Niveau der kolonisierenden Kultur erreichte und dem Verfasser neben verschiedenen rassistischen Anfeindungen auch die Bezeichnung eines schwarzen Rimbauds eintrug, jedoch kurz nach dem Erscheinen und aufgrund von Anfeindungen verschiedener Art in den Buchbesprechungen wieder aus dem Buchhandel genommen wurde; vom Autor fehlt seither jede Spur. Als Erzählfiguren treten bei Sarr auf der poetische Ich-Erzähler Diégane Latyr Faye, der ungefähr dem Autor entspricht, ein in Frankreich im Exil lebender, in diesem Exil aber sozusagen in seinem poeti­schen Vater- oder Mutterland schreibender Senegalese, begleitet von einigem Personal aus dem Exil-Afrikaner:innen-Umfeld; seine in Paris und in Dakar auftretende senegalesische Freundin spielt die Rolle allen Fleisches, also keine weiter nennenswerte, im Gegensatz zur 60-jährigen senegalesischen Autorin Siga D., welche dem poetischen Ich nicht nur das gesuchte Werk tatsächlich in die Hände drückt, sondern ihm auch wichtige Teile der Geschichte des Buchs, des Autors und der Personen rund herum vermittelt. Sarr nennt sie die Mutterspinne, und irgendwann stellt sich heraus, dass es sich um eine um Jahrzehnte jüngere Halbschwester von T.C. Elimane handelt. Dann tauchen noch auf eine Bekannte dieser Autorin, die aus Haiti stammt, aber auf mirakulöse Weise in Buenos Aires eine Beziehung mit Elimane gepflegt hatte, sowie das Familienpersonal von Elimane mit dem blinden, aber zauberkräftigen Vater, dessen im ersten Weltkrieg gestorbenen Zwillingsbruder und der Mutter, die den Verstand verloren hat, weil Elimane sich nie mehr bei ihr gemeldet hat. In den Passagen rund um die Familiengeschichte breitet Mohamed Mbougar Sarr die Geistes- und Geisterwelt im Dorf aus, aus welchem der Autor stammt. Der Blick aus dieser Perspektive auf die Kolonisierung, die wie eine Naturgewalt auf das Dorf und auf die Familie einwirkt, wird der europäischen Leserin dargebracht in der Befriedigung eines ähnlichen Bedürfnisses wie zuvor jenes nach der Aktivierung des Faschismus- und Résistance-Klischees; da ich mich in dieser Welt nicht auskenne, bin ich gehalten, Mohamed Sarr seine Schilderung abzunehmen.

Man merkt nach wenigen Sätzen, dass Mohamed Mbougar Sarr ein tadelloses Französisch schreibt oder, wie es in einer Besprechung stand, «impeccable». Selbstredend klingt in dieser Feststellung das alte Vorurteil nach, dass es erstaunlich sei, dass Schwarze das Französische ebenso gut beherrschen wie die Weißen, und dieses alte Vorurteil ist wiederum der Abglanz des ursprünglichen rassistischen Grundsatzes, wonach die Schwarzen aus den Kolonien weder der Sprache noch insgesamt der überlegenen Zivilisation der Kolonialherren je richtig mächtig sein werden. Wenn man noch tiefer bohrt, kann man feststellen, dass diese ganze Argumentation auf dem Grundsatz aufbaut, dass die koloniale Kultur weiter entwickelt und damit implizit besser sei als die indigene. Aber diese Ebene will ich hier nicht vertiefen. – Man kann davon ausgehen, dass niemand von einer anderen Goncourt-Preisträgerin sagen würde, dass sie tadelloses Französisch schreibt – sonst würde sie für diese Auszeichnung wohl kaum in Frage kommen. Erwischt!, muss man sich da selber zubrüllen; aber es steckt noch etwas mehr in der Aussage, nämlich zum ersten, dass ich doch davon ausgehen kann, dass Sarr das Französische nicht als Muttersprache spricht. Bisher haben sich verschiedene Menschen nicht davon abhalten lassen, in einer anderen Sprache zu exzellieren, aber selbstverständlich ist es nicht, und deshalb kann oder muss man die Bemerkung ohne andere Unter- oder Obertöne anbringen; sie ist in jedem Fall als Kompliment gemeint. Im Übrigen ist mir nicht bekannt, dass es in den Sprachen Afrikas irgend­welche literarischen Meisterwerke gibt. Meines Wissens sind diese Familien, vom Lingala bis zum Wolof und Swahili, erst nach der Kolonisierung überhaupt kodifiziert worden; die Erzähltradition hatte keine weiteren formalen Etappen durch­laufen und umfasste hauptsächlich mündlich überlieferte Mythen, Sagen und Legenden, wobei die mündliche Überlieferung sich in der Regel der Zeit anpasst, in welcher sie stattfindet. Insofern bietet sich die französische Sprache für eine senegalesische Literatin als jenes Medium an, in welchem sie tatsächlich Literatur abfassen kann; innerhalb dieses Literaturkörpers sind die externen Bezugspunkte dann automatisch die europäischen, im Fall von Mbougar Sarr bis hin zu Haruki Murakami, Kierkegaard und Wittgenstein. Dies ist ein Fakt, und zwar ein Fakt, welcher in der senegalesischen Literatin oder im Literaten selber ein klassisches Dilemma auslöst: Allein die Tatsache, dass sie oder er sich an die Produktion von Literatur macht, katapultiert sie automatisch aus ihrer Herkunft heraus. Sie ist mindestens im Rahmen der Kolonialismus-Debatte eine Verräterin. Zwar ist die Kraft des Verzeihens, wie sich im Lauf der Erzählung herausstellt, recht groß, aber der vor allem zu Beginn geschilderte Konflikt lässt sich nicht beilegen.

Wer will, kann hier ein paar Ûberlegungen rund um Fragen der kulturellen Aneignung anstellen. Nach den Maßstäben der radikalen Kritikerinnen solcher kulturellen Aneignung, die sich in den letzten Monaten zum Beispiel über Rastafrisuren an weißen Menschen empört haben, müsste Mohamed Mbougar Sarr von ihrem Tribunal ebenfalls abgeurteilt werden; dabei erinnern wir uns an die Vehemenz der kulturellen Staatsanwältinnen und ahnen ganz konkret, dass die Kraft des Verzeihens bei diesen siebzehn Selbstgerechten nicht weiter ausgeformt ist. Aber ich brauche hier keinen Schattenprozess über die Kulturwächterinnen durchzuführen, sie verstehen das sowieso nicht.

Neben der kulturellen Dimension beinhaltet die Feststellung des tadellosen Duktus weiter, dass die Sprache tatsächlich rund und ausführlich, präzise und plastisch im Detail ausgeprägt ist, dass ihr aber anderseits eine sprachinterne Nuance abgeht, welche sie über die beschreibende Ebene hinaus heben würde. Dies wird kompensiert durch die Passagen mit jenem mystischen Gehalt, welchen die Kolonialisierten oft mit letzter Kraft der Rationalität der Kolonialist:innen entgegen setzen: Der Vater von T.C. Elimane wird vom Flussgott schon in jungen Jahren mit Blind­heit geschlagen und erlangt damit, na gut, das ist eher holzschnittartig, aber was soll's, die Kraft des Sehens in eben dieser mythischen Dimension; er steht im Kontakt mit den Geistern der Verstorbenen, welche die Lebenden begleiten, zum Teil auch beeinflussen, Krankheiten verursachen oder heilen und so weiter. Diese unsichtbare, aber den Lebenden sehr nahe Sphäre wird recht ausführlich geschildert; sie hat abgesehen von allem anderen auch Parallelen in der Weltliteratur, namentlich bei Haruki Murakami, den Mohamed Mbougar Sarr wie gesagt auch erwähnt, und sie erzeugt tatsächlich ein Flirren in der Realität, das durchaus als Äquivalent zum poetischen Flirren aufgefasst werden kann. Damit wird Mohamed Mbougar Sarr nicht qualifiziert, sondern eingeordnet: Er ist kein Poet mit einer lyrischen Ader, sondern ein Erzähler, und zwar ein guter, dessen wird man schnell gewahr.

Kommentare
19.01.2023 / 17:59 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 19.1.. Vielen Dank !