"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Empörung zum ixten Mal

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Jede Gesellschaft, man möchte fast sagen, jedes Land entwickelt eigene Formen der Empörung. In Frankreich schlägt sie grad wieder mal hohe Wellen. Der Auslöser ist die Neuauflage eines Projekts zur Reform der Renten respektive zur Erhöhung des Rentenalters.
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10:26 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.01.2023 / 00:46

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.01.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jede Gesellschaft, man möchte fast sagen, jedes Land entwickelt eigene Formen der Empörung. In Frankreich schlägt sie grad wieder mal hohe Wellen. Der Auslöser ist die Neuauflage eines Projekts zur Reform der Renten respektive zur Erhöhung des Rentenalters.
Grundsätzlich würde man meinen, dass eine Gesellschaft in der Lage sein müsste, den außerordentlichen Erfolg der massiven Verlängerung der Lebenserwartung zu feiern und die damit zusammenhängende Frage des steigenden Rentenbedarfs oder allenfalls einer, sagen wir mal: Flexibilisierung des Rentenalters nüchtern zu diskutieren. Flexibilisierung sage ich deswegen, weil man die Erhöhung des Rentenalters als eine Möglichkeit unter vielen diskutieren kann, neben eben zum Beispiel der Flexibilisierung, welche es erlaubt, dass diejenigen weiterhin berufstätig oder sonstwie aktiv bleiben, die dazu noch imstande und willens sind; die sture Erhöhung dagegen ist, da haben die Gewerkschaften durchaus recht, durchaus nicht zwingend, da die Steigerung der Produktivität um ein Vielfaches höher ausgefallen ist als die Zunahme der Lebenserwartung, die in den letzten fünfzig Jahren ein Viertel oder ein Drittel betrug – die Produktivität hat sich, sagen wir mal: verhundertfacht. So genau weiß ich das gar nicht, vielleicht ist diese hohe Schätzung eher der Ausdruck meiner Hochachtung vor einer unerhörten technisch-zivilisatorischen Leistung, die eigentlich beide Bereiche beschlägt, sowohl die wirtschaftliche Ebene als auch die menschliche – denn hinter der Zunahme der Lebenserwartung steht auch eine massive Verbesserung der Lebensbedingungen, von der Qualität von Ernährung und Wohnung bis hin zur medizinischen Versorgung. Wäre dem nicht so, dann wären die Menschen nämlich aus Protest nicht auf die Straße gegangen, sondern gestorben und hätten so dem Anstieg der Lebenserwartung einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und wenn jetzt die professionellen Vertreter:innen der Armutsbetroffenen und Stimmgabeln der Stimmlosen protestieren, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten die Schwächsten am meisten betreffe und dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander klaffe, so kann ich nur sagen: Recht haben sie – aber sie haben eben auch Unrecht, weil ihr Lamento nur zutrifft vor dem eben erwähnten Hintergrund einer massiven Zunahme des allgemeinen Wohlstandes, also auch der Ärmsten und Unter- beziehungsweise überhaupt nicht Privilegierten im Lande, bildlich gesprochen: der Nackten und der Toten. Wobei: sterben tut man nach wie vor, aber nackert läuft bei uns niemand herum, mit Ausnahme der Flitzer während den Fußballspielen.

Was ja wiederum nicht heißt, dass man sich dieser Frage, also der Armutsfrage und der damit zusammenhängenden Problemfelder der mangelnden Ausbildung, fehlender Teilhabe, der Zertrümmerung individueller Perspektiven und so weiter nicht annehmen soll; vielmehr ist es gerade vor dem Hintergrund des massiv gestiegenen Wohlstandes absolut unverständlich und ein absoluter Riesenskandal, dass sich unsere Gesellschaften nach wie vor Zustände leistet, als hätte es die erwähnten Produktivitätsgewinne nicht gegeben. Aber so etwas beruht eben nicht auf den Produktivitätsgewinnen, sondern darauf, dass unsere Gesellschaften in punkto Einsicht keineswegs die gleichen Fortschritte erzielt haben wie in Punkto Montagetechnologie.

Aber zurück zu Frankreich. Neben der erwähnten Diskussion spielen verschiedene, wo nicht alle anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit bei der Auseinandersetzung um die Altersrenten, in erster Linie die Frage der Finanzierung, die sich auf unproduktive Art und Weise mit der Frage von Privilegien auf verschiedenen Ebenen vermischt. Unter anderem beruht die Kraft der Gewerkschaften darauf, dass sie ihre Mitglieder mit der Wahrung und dem Ausbau der Errungenschaften, was eben häufig Privilegien sind, bei der Stange halten und somit aus praktischen Gründen nicht in der Lage sind, umfassende Lösungs­ansätze zu unterstützen. Es heißt dann jeweils, ihre Mitglieder würden zur Ader gelassen wie seit eh und je. Was sowieso nicht stimmt, sonst wäre wie gesagt die Lebenserwartung nicht gestiegen in den letzten Jahrzehnten. Trotzdem hält sich diese Form des gewerkschaftlichen Diskurses in den entwickelten Ländern hartnäckig und produziert zum Teil auch schöne Formulierungen wie: Am Ende des Geldes ist noch zuviel Monat vorhanden. Inhaltlich ist das Unfug – in der Praxis hat nie irgendjemand genug Geld, weder zu Beginn noch zu Ende des Monats, niemand, auch der übelste Milliardär nicht – und hat eigentlich nichts zu suchen in einer modernen Arbeitnehmer:innen-Organisation, aber der Ausdruck als solcher gefällt mir sehr gut.

Zurück zur Empörung. Der Rückgriff darauf ist so erfolgreich, weil er einem verbreiteten Bedürfnis entspricht. Das Bedürfnis entsteht aus den Frustrationen, aus der Erfahrung, dass das Individuum jenes Freiheitsversprechen, das für die moderne westliche Gesellschaft konstituierend ist, nicht umfassend einlösen kann. Es mag sein, dass das Problem aus dem Verständnis von Freiheit heraus entsteht, das im entsprechenden Versprechen mitschwingt, nämlich der Möglichkeit, mehr oder weniger immer alles erreichen zu können – oder mindestens zu erwerben, was nicht ganz das gleiche ist. Das funktioniert natürlich nicht, hat noch nie funktioniert und wird nie funktionieren; ein solcher Freiheitsbegriff ist für die Mülltonne, aber nicht für den modernen Menschen geeignet. Trotzdem durchsetzt er die Köpfe wie ein riesiger, die ganze Gesellschaft durchwuchernder Pilz. Ein Grund dafür ist sicher jener, dass damit auch gut Politik gemacht wird. Dem stellen wir provisorisch entgehen jenen Freiheitsbegriff, wonach Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei; nur die oder der ist wirklich frei, die oder der sich in die unveränderlichen Verhältnisse schickt. Mit dieser Formulierung wird auch gleich klar, was an diesem Begriff zu kritisieren ist, nämlich dass es sich um einen aus­ge­sprochen konservativen Begriff handelt – mindestens so lange, bis man auch zum Beispiel eine Revolution zur Notwendigkeit erklärt hat. Um auch hier auf einen abgegriffenen Terminus zurückzugreifen.

Ob dies der wichtigste Grund ist oder nicht – Empörung ist zum Tagesgeschäft geworden, zur Soße, welche der gesamten Medienproduktion beigegeben wird. Sie beschlägt seriell oder parallel alle möglichen Themen, sehr gerne in der Politik, wo sie mit ihrem Antipoden, dem Jubel beziehungs­weise dem Hype, ein Traumteam bildet; aber die meisten Gegenstände finden sich im Alltag auf der Ebene des Konsument:innenschutzes, wo verschiedene, zahlreiche, nein, eigentlich alle Unter­neh­men latent bestrebt sind, die Konsument:innen auszubeuten, ihnen schlechte Ware anzudrehen, ja, systematisch ihre Gesundheit zu gefährden.So ist er nämlich, der Kapitalismus: ein einziger organisierter Beschiss. – Was selbstredend völliger Stumpfsinn ist; ich verweise wieder auf die ungeheuren Fortschritte bei der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen, welche unter den Bedingungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems erzeugt worden sind, immerhin eines kapitalistischen Wirtschaftssystems im Rahmen sozialdemokratischen Ausgleichs, muss man noch anfügen, aber beides ist an und für sich unumstritten.

Die Empörung wächst seltsamerweise dort besonders stark, wo man eigentlich jubeln sollte, wie gesagt. Sie ist gesellschaftsphysikalisch eine schwache Kraft, die vor allem im Kommuni­kations­bereich für viel Antrieb sorgt. Die Medien decken am Laufmeter Skandale auf beziehungsweise skandalisieren Vorfälle und Verhältnisse, die einen Monat später schon wieder vergessen sind. Diese Form des Enthüllungsjournalismus versteht sich gerne als Teil des kritischen Journalismus im Rahmen der Pressefreiheit und als Dienstleister, wo nicht als Sturmgeschütz der Demokratie. So wird das verkauft, auch wenn es durchaus wahrheitswidrig ist: Das Schüren von Empörung hat mit objektiver Information schon längstens nichts mehr zu tun. Zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte konnte oder musste man sich über Sachen aufregen, welche aus verschiedenen Gründen unter dem Deckel gehalten werden sollten. Das trifft aber immer weniger zu, nicht zuletzt seit der Einführung von Public-Relations-Abteilungen auf allen Ebenen der Gesellschaft. Zunehmend geht es in den Medien nur noch um die Empörung selber, welche die Leserschaft bei der Stange hält.

Die Zugehörigkeit zu Ausläufern früherer politischen Bewegungen gliedert die Empörungs­ökonomie. Rechte, rechtsextreme, bürgerliche, sozialdemokratische und sozialistische Tendenzen lassen sich klar zuordnen, und sie bilden auch jeweils eigene Empörungs-Bubbles, ganz jenseits von einer politischen Analyse, die ihnen noch zugrunde liegen mag. Das stiftet auch Identität, von der das politische Individuum nach wie vor abhängig ist, sofern es seine Informationen nicht unabhängig beschaffen kann. Diese Sorte von Empörung ist meist auch langfristig folgenlos, wie zum Beispiel die periodische Erinnerung an die Milliarden von Frau Quandt zeigt – an der Steuergesetzgebung ändert sich unter einer sozialdemokratischen Regierung nix, sowieso, wenn sie einen Milliardärsadlaten als Finanzminister führt, aber daran sind wir uns schon länger gewohnt. Dass Angela Merkel seit zwei Jahren weg ist, hat ebenfalls nichts zu tun mit der Empörung der patriotischen Europäer:innen gegen die Islamisierung des Abendlandes, sondern hat rein technische Gründe. Ebenso stark verbreitet ist wie erwähnt die unpolitische, eben kon­su­men­t:innen­schützerische Art der Empörung, welche in der Regel ins Nichts des morgigen Tages verpufft.

Welcher Art dagegen jene Empörung ist, die sich rund um die Lieferung oder nicht von deutschen Leopard-Panzern an die Ukraine gebildet hat, ist ein anderes Kapitel. Ich tippe auf Stimmungs­mache aus unterschiedlichen Gründen, die mit dem Krieg in der Ukraine nichts zu tun haben. Am wohlsten scheinen sich jene Kommentator:innen zu fühlen, welche Kanzler Scholz Führungs­schwäche vorwerfen. Ich dagegen kriege Gänsehaut von ihren Kommentaren. Der Leopard mag ein ausgezeichneter Kampfpanzer sein, aber dass er geradewegs das Geschick auf dem Schlachtfeld zugunsten der ukrainischen Seite zerren wird, scheint mir doch eher unwahrscheinlich. Nicht nur Deutschland, auch die anderen europäischen Länder haben allen Grund zu einer gewissen Zurückhaltung in dieser Sache, tragen sie doch mit ihrer Unterstützung der polnischen EU-Eroberungsmission im Jahr 2009 eine Mitverantwortung an den Verheerungen in der Ukraine. Sie sollten es sich auch zwei Mal überlegen, wie weit sie die Bemühungen des US-amerikanischen Generalstabs unterstützen wollen, Russland auf diesem auserwählten Gefechtsgrund von einer Groß- zu einer Kleinmacht zurechtzustutzen. Ich bin mir nicht sicher, ob all diese Initiativen, die sich letztlich gar nicht um die Ukraine drehen, sondern direkt Russland zum Ziel haben, den Einsatz wert waren. Beziehungsweise, ich bin mir sicher, dass sie es nicht waren. Aber jetzt ist es halt mal so, wie es ist. Alle Fragen sind offen, dabei ist der Vorhang noch nicht einmal zu.

Kommentare
27.01.2023 / 17:57 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 27.01.. Vielen Dank !