"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Sunak

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Die Liste der Verhältnisse und Personen, gegen die ich keine Einwände habe bis auf ein paar kleinere oder grundsätzliche, ist nicht nur lang, sondern umfassend. Ich habe nicht mal etwas gegen Friedrich Merz, dessen Berufung für die Politik sich mir allerdings nicht ganz erschließt.
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12:08 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 31.01.2023 / 11:59

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 31.01.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Liste der Verhältnisse und Personen, gegen die ich keine Einwände habe bis auf ein paar kleinere oder grundsätzliche, ist nicht nur lang, sondern umfassend. Ich habe nicht mal etwas gegen Friedrich Merz, dessen Berufung für die Politik sich mir allerdings nicht ganz erschließt.
Eine Steuerreform, die Platz fände auf einem Bierdeckel, hatte der vor vielen Jahren mal vorge­schlagen, als er seine Biberzähne noch dazu nutzte, am Stuhl von Angela Merkel zu nagen. Auf einem Bierdeckel! Das geht ja noch weiter als der Vorschlag des verstorbenen dm-Gründers und Grundeinkommens-Befürworters Götz Werner, der die Finanzierung des Grundeinkommens, neben den sonstigen Staatsaufgaben, mit der Ablö­sung aller direkten Steuern durch eine Mehrwertsteuer von 100 Prozent erreichen wollte mit dem glücklichen Nebeneffekt, dass endlich die Besteuerung der Unternehmensgewinne abgeschafft worden wäre. Zu dieser Reinform des Liberalismus hat sich nicht mal Christian Lindner zu bekennen getraut und Friedrich Merz eben auch nicht, aber wie Merz sein Bierdeckel-Budget erstellen wollte, ist mir auch heute noch unbekannt, und es interessiert mich auch nicht. Merz' wichtigste Kompetenz ist es, im Bundestag den Fritz Merz zu geben, den Oppositionsführer, der sämtliche Beschlüsse der Regierung erstens ablehnt, zweitens als viel zu spät kritisiert, bevor sie gefällt werden und drittens als übereilt, wenn sie dann mal gefallen sind. Das ist eine bewährte Rolle im Kleintheater des Bundestages, gegen die ich wie gesagt keine Einwände habe. Dass Merz seine Biberzähne zwischenzeitlich beim Vermögensverwalter Blackrock wetzte und zwei Businessjets sein eigen nennt, möchte ich ebenso wenig kritisieren; da sieht man doch schon an der Figur des Bundesvorsitzenden, welche Werte die Volkspartei CDU in der Praxis vertritt. Schließlich haben ja auch die Italiener:innen ihr Vertrauen bis vor einem Jahr in einen bei Goldman Sachs in der Wolle gefärbten ehemaligen EZB-Chef gesetzt, den guten alten Mario Draghi, von dem man jetzt nur noch die Georgina Meloni sieht. Gegen die ich im Übrigen ebenfalls keine Einwände habe: Was soll man zum ersten von einer Neofaschistin anderes erwarten als ein neo­fa­schis­ti­sches Vokabular und zum zweiten inhaltlich den vollkommenen Verrat an den eigenen Grundsätzen, sobald man an die Macht kommt? Das ist nichts, wogegen man protestieren sollte, das wissen auch die deutschen Grünen, die deswegen auch nur alle zwanzig Jahre ein Intermezzo in der Regierung haben. Ich bin zwar dagegen und bedaure in erster Linie die aufrechten Aktivist:innen in dieser Partei, welche die Suppe jeweils auslöffeln müssen; aber auch indem ich dagegen bin, habe ich keine Einwände, weil mir das Ganze folgerichtig erscheint.

Im Gegensatz dazu muss ich die Verhältnisse außerhalb der EU-Außengrenze in England doch ernsthaft zur Ordnung bitten. Was die dort veranstalten, und zwar seit Jahren, wo nicht Jahrzehnten, hat ja überhaupt nichts mehr zu tun mit jenen Eigenschaften, die wir als typisch englisch verstanden haben, ein gewisser Formalismus, eine steife Oberlippe, ein ins pedantische neigender Rationalismus vor dem Hintergrund einer Mischung aus Stoizismus und Klassenbewusstsein. Dass man dort nun aber, eben, seit Jahren, wo nicht Jahrzehnten, Regierungen gewähren lässt, welche den tief sitzenden Ekel der Konservativen vor allem, was entfernt nach sozial ausschaut, in die Praxis umsetzen, Treibjagden auf die schwä­che­ren Mitglieder der Gesellschaft veranstalten, notabene unter dem Applaus der Murdoch-Medien, und auch das Gesundheits- oder Krankheitssystem derart massiv in den Dreck fahren, dass sogar Ikonen des Rechtspopulismus wie der Rocker Rod Stewart zu murren beginnen, das versetzt diesen Staat in eine eigene Kategorie. England ist wohl das einzige Land im Konzert der entwickelten Nationen, das sich, wo nicht den Ideen, so doch min­des­tens der Praxis eines minimalen sozialdemokratischen Ausgleichs verwehrt. Ohne Not, aus rein ideologischen Gründen. Dass diese ideologische Fixiertheit so weit geht, dass die Tories sogar einen ausgewachsenen Clown und Hampelmann wie Boris Johnson zur Führungs­figur erkoren, solange er ihnen nur den gewünschten Schmäh zum Besten gab, ist das beste Zeugnis für die Verstockung. Die konservative Parteispitze braucht tatsächlich externe Bera­ter, welche ihr beibringt, dass man als Mitglied der Regierung die eigenen Gesetze, unter anderem im Steuerbereich, ebenfalls einzuhalten hat, mehr noch: dass die Bevöl­ke­rung es ausdrücklich begrüßt, wenn die Frau des Premierministers ihr Steuerdomizil nicht auf den Bahamas, in Delaware oder auf den Jungferninseln aufschlägt, sondern mitten in der City of London. Jetzt hat es den Parteivorsitzenden erwischt, der nicht nur Steuern hinterzogen hat, sondern dies auch bestritt und Journalist:innen, welche auf die Sache gestoßen waren, mit Strafanzeigen drohte. Es war für diesen Typen, der in verschiedenen Regierungen Minister gewesen war, unter anderem auch Finanzminister, ganz einfach selbstverständlich, dass man auch als Staatsdiener keine Regeln einzuhalten braucht, und für all die Regierungschef:innen, die ihn als Minister bestellten, war es eben auch selbstverständlich. Kein Hahn krähte danach, in erster Linie nicht die Murdoch-Medien.

Dagegen habe ich tatsächlich Einwände, nicht aus moralischer Sicht, sondern weil das ganz einfach gegen die aktuellen Standards in entwickelten Nationen verstößt. Es ist, als würde man einen Zählrahmen verwenden, um die Bilanz einer multinationalen Unternehmung zu erstellen. Und dass sich ein Land solche Dinge erlaubt, also nicht nur Liz Truss, sondern auch Boris Johnson oder Rishi Sunak, vor allem aber die systematische Zerstörung des nationalen Gesundheitsdienstes, das ist ein ausgewachsener, systemimmanenter Skandal.

Dass man das System als solches in Frage stellen kann beziehungsweise muss, ist eine andere Geschichte, die nichts zu tun hat mit meinen Einwänden. Diese Geschichte dreht sich in erster Linie um die Betreiber:innen des Systems und unserer Gesellschaften, also um die das System und die Gesellschaften bewohnenden Menschen. Was sich diese alles bieten lassen beziehungsweise was sie selber alles bieten, im Moment gerade zum Beispiel in Sachen Urlaubsplanung, wo es offenbar absolut unverzeihbar ist, keine Flugreise von mindestens 10'000 Kilometern einzuplanen, und dies erst noch im vollen Bewusstsein der Umweltschädlichkeit solcher Flugreisen, all das nur schon auszuhalten, braucht einen überaus starken Charakter. Es ist tatsächlich seltsam: Im heißen Sommer ächzten die Leute nur leise vor sich hin, weil sie Grund hatten, in der Hitze die These von der menschengemachten Klimaerwärmung bestätigt zu sehen. Über Weihnachten und Neujahr war die Stimmung aus dem gleichen Grund leicht bedrückt. Und jetzt erzählen mir sämtliche Bekannten und Verwandten, wie sie sich auf Thailand freuen. Sie erzählen mir dies ins Gesicht hinein, obwohl sie genau wissen, dass ich das sowohl grundsätzlich als auch praktisch ablehne. Das ist mir bisher so noch nicht untergekommen. Und so richtig reagieren und korrekt explodieren kann ich auch wiederum nicht, weil ich sonst den Weg in die selbstverschuldete soziale Isolation nehme, was auch keine Option ist. Mein Umfeld stellt mein Demokratieverständnis wieder mal auf eine harte Probe.

Am Sonntag habe ich in Till Reinders Happy Hour auf 3sat einen Kabarettisten gesehen, der so etwas wie ein kleines Mischpult mit sich herum schleppte in einem schwarzen Stoffsack, mit dem er über ein Stromkabel verbunden war, welches irgendwo unter seiner Weste verschwand, vielleicht war es eher eine Batterie, das war auf jeden Fall die optische Botschaft: der erste batteriebetriebene Comedian Deutschlands. Wie die Hälfte der Gäste in Till Reinders Show nuschelte er herum in einer Sprachform, die Geschwindigkeit und Witz suggerierte, und lachen sollte man über verdeckte Scherze, bei denen der Groschen oder der Bitcoin erst nach einer Mikro- oder Makrosekunde fällt, die ich aber leider gar nicht ausfindig machen konnte, weil ich ihn schlicht nicht verstand, schon rein sprachlich nicht, ebenso übrigens wie die anderen Comedians in dieser Hälfte der Gäste von Till Reinders Show. Darunter befand sich, damit dies erwähnt ist, auch eine Frau in den Vierzigern, die einen Witz darüber machte, dass sie sich mit dem Berühmtwerden langsam beeilen müsse und dass sie dafür wohl im falschen Sender auftrete, weil bei 3sat nichts viral geht. Der batteriebetriebene Comedian dagegen benutzte seine Batterietasche für mehrere lustige Spitalpointen, deren wichtigste jene war, dass in dem schwarzen Stoffsack gar keine Batterie stecke, sondern ein Gully für seinen Comedian-Körper, und das elektrische Kabel sei gar kein Kabel, sondern ein künstlicher Darmausgang, den er benötige, weil man ihm den ganzen Dünndarm operativ entfernt hätte. Wie gesagt, ich verstand ihn sehr schlecht, aber ganz und gar nicht durchgestiegen bin ich bei der Be- und Verarbeitung des künstlichen Dünndarmmotivs.

Da bin ich dann doch froh, dass ich mich hin und wieder mit alten Themen abgeben kann, die keinen weiteren Hirnschmalz erfordern. So bin ich kürzlich auf den Blog «Die Achse des Guten» gestoßen, der unter anderem von Henryk Broder gegründet wurde. Konkreter Anlass war ein Artikel, dessen Einleitung mit folgenden Worten begann: «In San Francisco, wo es ein bedingungsloses Grundeinkommen für Transsexuelle gibt, hat ein...» Der Rest interessierte mich nicht, dagegen aber das bedingungslose Grundeinkommen für Transsexuelle – das war mir neu. Im Text wurde auf das entsprechende Projekt mit dem Namen GIFT verwiesen, was eben ein bedingungsloses Grundeinkommen für Transsexuelle umfassen sollte. Verdankenswerterweise konnte man ohne weiteren Aufwand direkt auf die entsprechende Meldung aus San Francisco klicken, und dort stand mit Datum vom 16. November geschrieben, dass sich das GIFT tatsächlich an Transpersonen wendet; es handelt sich um ein Pilotprojekt im Rahmen von weiteren Pilotprojekten, welche untersuchen, welche Auswirkungen bedingungslose Geldzahlungen auf die Menschen haben, welche sie erhalten. Bewerben konnte man sich dafür vom 14. November bis am 15. Dezember; ins Programm aufgenommen werden sollten 55 Personen mit niedrigen Einkommen, welche bis zu 18 Monate lang 1200 Dollar pro Monat erhalten. Als Begründung für die Einrichtung eines Programms speziell für Transpersonen sagte Bürgermeisterin London Breed, dass der Anteil der von Armut und Diskriminierung Betroffenen unter den Transmenschen deutlich höher sei als bei anderen Communities.

Kurz: Es gibt in San Francisco kein bedingungsloses Grundeinkommen für Transsexuelle. Das ist der Hintergrund für die Aussage, es gebe in San Francisco ein bedingungsloses Grundeinkommen für Transsexuelle in Henryk Broders Blog DieAchse des Guten. Es ist derselbe Umgang mit Wahrheit und Fakten, den man von Impfskeptiker:innen und Coronaleugnerinnen, aber auch anderen gestandenen urbayerischen Stammtischbrüdern und -schwestern kennt, die man alle im Wikipedia-Eintrag zur Achse des Guten finden kann. Daran haben wir uns gewöhnt, an diese Achsialdelle aus Antiislamismus, Anti­femi­nismus, im Fall von Broder auch von seiner speziellen Ausformung von Zionismus, wobei ich hier zur Vorsicht mahne und dem Broder daraus keinen zusätzlichen Strick drehen will. Die Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe, welche man nicht mit den Äußerungen von Leuten eben wie Broder relativieren sollte. Und dann vollends die Realitäten in Israel haben sich nach meiner Wahrnehmung auch im kurzen Intermezzo, in dem Benjamin Netanjahu nicht an der Macht war, nicht wesentlich verändert, bloß die Siedler haben seit seinem neuerlichen Machtantritt wieder verstärkt Oberwasser, was der Auslöser gewesen sein dürfte für die Tötung von sieben Palästinenser:innen im Westjordanland, die mit Sicherheit ebenso skandalös war wie der anschließende Anschlag eines Palästinensers auf Synagogenbesucher:innen mit ebenfalls sieben Todesopfern. Ein Frieden zwischen den Parteien ist nicht in Sicht, die Annexion des Westjordanlandes in vollem Gang, und die ideologisch-politischen Mühlen drehen auf beiden Seiten auf Volltouren.