"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Neutrale Sicht

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Wir haben Konkurrenz bekommen! In Kreuzlingen, dem schweizerischen Anhängsel an das deutsche Konstanz am Bodensee, ist ein Verein entstanden mit dem Namen «Neutrale Sicht». Ich gehe davon aus, dass er weniger lange Bestand haben wird als diese Sendung im Freien Radio Erfurt International, weil er offensichtlich nur zu einem Zweck gegründet wurde, nämlich um als Veranstalter für einen Auftritt des Verschweißungs-, Verlötungs- und Verschwörungs-theoretikers Doktor Daniele Ganser am 4. Mai dieses Jahres aufzutreten.
Audio
11:09 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.02.2023 / 23:50

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.02.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wir haben Konkurrenz bekommen! In Kreuzlingen, dem schweizerischen Anhängsel an das deutsche Konstanz am Bodensee, ist ein Verein entstanden mit dem Namen «Neutrale Sicht». Ich gehe davon aus, dass er weniger lange Bestand haben wird als diese Sendung im Freien Radio Erfurt International, weil er offensichtlich nur zu einem Zweck gegründet wurde, nämlich um als Veranstalter für einen Auftritt des Verschweißungs-, Verlötungs- und Verschwörungs-theoretikers Doktor Daniele Ganser am 4. Mai dieses Jahres aufzutreten.
Der Anlass beginnt um 19.30 Uhr und dauert 90 Minuten, der Eintritt kostet 35 Schweizer Franken, und das Thema lautet: «Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?» Den gleichen Vortrag hält Doktor Daniele Ganser zuvor auch in Rostock, wo der Eintritt 29.90 Euro kostet, gleichviel wie anschließend in Kiel und dann in Hanno­ver; im österreichischen Hallein bei Salzburg kosten die Tickets zwar 40 Euro, aber die Veran­stal­tung ist bereits ausverkauft. Hier wird der Abend von einer Organisation mit dem Namen Menschheitsfamilie durchgeführt, die auch spätere Anlässe mit Doktor Daniele Ganser in Wels, Graz und St. Pölten durchführt, wobei Wels und Graz ebenfalls schon ausverkauft sind, ebenso wie die bereits im Januar abgehakten Vorträge in Seefeld im Tirol, Garsten und Klagenfurt. Der Doktor tritt vor Kreuzlingen noch auf in Dortmund, Aachen, Offenbach und Basel und zieht anschließend weiter nach Nürnberg und München. Ausverkauft ist schon jetzt die Veranstaltung in der Anthroposophenhauptstadt Stuttgart vom 12. Mai. In Bad Aibling ändert sich das Thema leicht: «Warum ist Krieg in Europa?», fragt Doktor Daniele Ganser da, was überhaupt die Hauptaufgabe in seinem Leben ist, wie er immer wieder betont. «Ich stelle nur Fragen», sei einer seiner Lieblingssprüche, steht in einem älteren Bericht über eine ältere Veranstaltung.

Mir wäre es natürlich lieber, der Kreuzlinger Verein würde sich ebenso Menschheitsfamilie nennen wie die Veranstalter in Österreich, denn das ist offenbar so ein, eben halt anthroposophischer Begriff für die Weltbevölkerung, welcher diese ebenso umzingelt wie seinerzeit Schiller in der Ode an die Freude mit dem Spruch «Seid umschlungen, Millionen». Aber wir leben in einem freien Land, wir müssen den Verein Neutrale Sicht gewähren lassen und hoffen einfach darauf, dass uns niemand am Schluss den Doktor Daniele Ganser ans Bein heftet, für den wir überhaupt nichts können. Dies gesagt, kann ich zu meinem persönlichen Vortrag anheben unter dem Titel: «Warum ist in der Ukraine Krieg ausgebrochen?», aber da ich zu diesem Thema meine Brühwurst- bezie­hungsweise EU-Kommissionspräsident-José-Barroso-These seit über zehn Jahren regelmäßig vorgestellt habe, kann ich den Vortrag auch gleich wieder abbrechen. Höchstens schiebe ich noch den Aspekt der demokratischen US-Regierungen seit Amtsantritt von Barack Obama nach, dessen Vizepräsident damals Joe Biden war; deren antirussische Politik habe ich damals noch vernachlässigt, was Europa anging, die sah ich zunächst nur in der Instrumentalisierung des arabischen Frühlings in Syrien zwecks Schleifung des russischen Stützpunkte in Latakia und Tartus. Auch das Drängen der polnischen PiS-Partei auf eine umgehende Entrussifizierung der Ukraine war für mich eher Begleit­musik zu Barrosos Expansionsplänen. Die Folgen sind bekannt, es ist ein mehr oder weniger geradliniger Weg ins Schlachtgeschehen, dem wir heute beiwohnen.

Belgien sieht sich offenbar außerstande, Panzer zu liefern an die Ukraine, weil man in den nuller Jahren begonnen habe, drastisch abzurüsten im Vertrauen darauf, dass das Zeitalter der Kriege vorbei sei. Ich hätte den Belgier:innen nichts besseres raten können. Allerdings ging ich schon davon aus, dass der Grundsatz respektiert würde, dass das Vertrauen von beiden Seiten aufgebaut und eingehalten werden muss. Mit anderen Worten: Wenn die EU beziehungsweise der Westen die Ukraine stärker in die sogenannte westliche Familie einbinden wollte, was ich ebenfalls unbedingt befürworte, so konnte dies nicht ohne stetigen Einbezug der russischen Russ:innen geschehen. Dass dies keine einfache Sache ist, vielleicht sogar eine unmögliche, war eigentlich zum Vornherein klar; aber ein einseitiges Vorgehen konnte wie gesagt letztlich nur eine Konsequenz haben, nämlich jene, die wir nun bedauern. Wir wissen nicht, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird; wir sind bass erstaunt darüber, in welchem Tempo und mit welcher Effizienz die Nato die ukrainische Armee nach der Krim-Annexion kriegstauglich gemacht hat, was mindestens in kriegstechnischer Hinsicht bedingungslose Bewunderung verlangt, eben auch wegen der erfolgreichen Verschleierung dieser Arbeiten, mindestens gegenüber der Öffentlichkeit, aber offensichtlich auch gegenüber Russland, das sonst wohl die Vorbereitungsarbeiten für die Invasion vor einem Jahr etwas anders angepackt hätte; ebenso erstaunt bin ich auch jetzt noch über die offenbar umfassende Ahnungslosigkeit der russischen Armeeführung über die Stärke und den Verteidigungswillen des Gegners, welche uns selbstverständlich ebenfalls den größten Respekt abverlangen.

Eine Frage möchte ich gerne im Nachhinein beantwortet wissen, nicht von Doktor Daniele Ganser, der ja eben nicht der Spezialist für Antworten ist: Wäre eine friedliche Transition, anders gesagt: wäre eine friedliche Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen, konkret natürlich nur der EU denkbar gewesen, bei welcher die Ukraine eine zentrale Drehscheibenfunktion ein­ge­nom­men hätte? Diese Frage beziehungsweise eben die Antwort darauf trägt wesentlich zur Gesamtein­schätzung bei. Es gibt verschiedene Elemente, welche eine Verneinung unterstützen. Das aktuelle Russland ist eine vom russischen Geheimdienst zunächst nur notdürftig zusammengezimmerte Klep­to­kratie, ein Verbund von Gangstern, welche sich die Vermögenswerte des sowjetischen Staa­tes unter den Nagel gerissen haben und dann zu einem halbwegs funktionierenden Gemisch von Institutionen geworden sind. Kleptokratische Faktoren ziehen sich auch durch die jüngere Ver­gan­genheit, namentlich die Bestehlung westlicher Konzerne im Erdölsektor. Die innere Stabilität des Landes beruht ganz offensichtlich auf einem inneren Handlungsunwillen der Bevölkerung, für den ich keine Erklärung habe und damit auch kein Gegenrezept. Das tragende Gerüst des Landes bilden einerseits Polizei, Geheimdienst und Armee, sozusagen als Exoskelett, und anderseits vermutlich die auf irgendeine Hundsart transformierten Verwaltungsstrukturen der Sowjetunion, die ich hier versuchshalber mal als einen Rückfall in die zaristischen Verhältnisse bezeichnen will. Die Ver­west­lichung der Ukraine war für Russland somit nicht zum Vornherein die Verheißung des Para­dieses, sondern tendenziell eine Bedrohung des Status quo, der allerdings für jeden intelligenten Menschen in diesem Land ebenfalls eine Bedrohung darstellte; nebenbei bringt der Ukraine-Krieg auch diese innere Bedrohung wohl zu einer Zuspitzung, wie man sie seit dem Sturm aufs Weiße Haus in Moskau nicht mehr erlebt hat, selbstverständlich mit dem Unterschied, dass die wichtigsten Herrschafts- beziehungsweise Repressionsinstrumente heute scheinbar vollständig unter der Kontrolle des Kreml stehen. Trotzdem hat dieser Krieg für Russland eine innenpolitische Dimension, die wir im Moment nur erahnen können.

Aber eben, wäre es denkbar gewesen, die Ukraine zu einer Plattform auszubauen, von welcher aus die Modernisierungstendenzen innerhalb von nützlicher Frist nach Russland überschwappen hätten können? – Ich gehe davon aus, dass über solche Aspekte recht intensiv diskutiert wurde – nicht zwischen der Brühwurst und dem Kreml, aber doch zwischen eurer damaligen Bundeskanzlerin und Wladimir Putin, von dem es zu dieser Zeit durchaus eine vernünftige Version gab. Das Ergebnis kenne ich nicht, und auch wenn ich spekuliere und extrapoliere, komme ich auf keinen grünen Zweig. Möglich, aber auch nicht möglich. Das Einzige, was man mit Sicherheit feststellen kann, ist die extreme Durchseuchung des ukrainischen Staates mit ziemlich radikaler Korruption. Es war immer ein Hin und Her zwischen der Bestechung von beiden Seiten; auch vor dem Maidan 2014 erhielt Präsident Janukowitsch vom Kreml wieder mal Kreditzusagen in der Höhe von ich weiß gar nicht mehr wievielen Milliarden Dollar, weshalb er ja auch die Ratifizierung der vollständigen EU-Homologisierung der Ukraine schließlich ablehnte.

Die Antwort ist nicht klar, abgesehen davon, dass sie nicht mehr relevant ist für die Tatsachen. Im Raum stehen bleibt vorderhand nur die Frage, ob der Ukraine-Krieg als direkte Folge der Ent­rus­si­fi­zie­rungsanstrengungen von Nato und EU das Ergebnis rechtfertigt. Auch hier weiß ich keine rich­tige Antwort, einmal abgesehen von der grundsätzlichen Ablehnung aller Kriege, welche uns aller­dings nicht weiter bringt. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir die Opfer, die Schäden und die Folgen besser beurteilen können. Bis dahin bleibt uns nicht viel mehr übrig, als den Kopf nicht zu verlieren und selbstverständlich so gut zu helfen, wie irgendwie möglich. Ob dazu auch Kampf­pan­zer und Kampfjets gehören, würde ich eher bezweifeln, aber die Lage ist wirklich radikal ungewiss.
Beim Erdbeben letzte Woche in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien sind offenbar bis zu 50'000 Menschen gestorben. Als ob es das auch noch gebraucht hätte. Aber gegen die Natur­gewalten beziehungsweise gegen die tektonischen Spannungen an der Erdoberfläche kann man vorderhand noch nicht viel ausrichten. Auch hier gilt der Grundsatz der möglichst raschen und effizienten Hilfe von staatlichen und internationalen Institutionen. Eine politische Dimension sehe ich hier zunächst nicht, obwohl diese Ebene bei der Abwicklung der Hilfsoperationen eine Rolle spielt. Höchstens sprechen einige Beobachter:innen davon, dass die politische Karriere des Erdopampels vor über zwanzig Jahren ebenfalls mit einem Erdbeben begonnen hat, jenem von Gölcük im Jahr 1999; damals war Erdogan seit zwei Monaten wieder auf freiem Fuß, nachdem er vier der ursprünglich zehn Monate dauernden Strafe wegen Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft abgesessen hatte. Jetzt könne sie mit einem Erdbeben zu Ende gehen. Das kann ich nicht beurteilen. Wie gesagt: Für die Plattentektonik mache ich nicht mal den Erdopampel haftbar, auch wenn ich es durchaus gerne täte. Allenfalls kann man ihm in die Schuhe schieben, dass seine Partei nicht dafür gesorgt hat, dass die Bauindustrie strenger kontrolliert wird; aber die Schuld hierfür würde ich eher in einem vormodernen Denken suchen, für das nicht Erdogan selber verantwortlich ist, von dem er allerdings in den letzten Jahren politisch zunehmend profitiert hat, nachdem er sich zu Beginn seiner Karriere auf nationaler Ebene als durchaus vernünftiger Politiker gezeigt hatte. Heute aber steht schon lange nicht mehr die Modernisierung auf seiner Agenda, sondern die Etablierung der Türkei als Regionalmacht auf militärischer, wirtschaftlicher und politischer Ebene. Ein Versuch, der neben verschiedenen Erfolgen auch immer wieder Rückschläge verzeichnet und dessen wichtigstes Opfer eben die Einrichtung des Landes nach modernen Prinzipien ist. Aber eben: Gegen ein solches Erdbeben helfen auch moderne Prinzipien nicht.