"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Weltmacht Polen

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Der Mensch ist ein Konglomerat aus unendlich vielen Bestandteilen wie zum Beispiel Milz und Malz, Herz und Schmerz, Magen und Darm, vor allem aber im Bereich von Geist und Seele, welche ich im Gegensatz zu vielen meiner Kolleg:innen nicht primär als Darmfunktion verstehe, sondern ganz allgemein als das zentrale Element, welches den Menschen vom Tier unterscheidet.
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12:13 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.02.2023 / 19:18

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 21.02.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Mensch ist ein Konglomerat aus unendlich vielen Bestandteilen wie zum Beispiel Milz und Malz, Herz und Schmerz, Magen und Darm, vor allem aber im Bereich von Geist und Seele, welche ich im Gegensatz zu vielen meiner Kolleg:innen nicht primär als Darmfunktion verstehe, sondern ganz allgemein als das zentrale Element, welches den Menschen vom Tier unterscheidet.
Bei mir laufen Geist und Seele sowieso unter dem Überbegriff von Vernunft, was wiederum nicht un­kont­ro­vers ist, wie ich ja selber weiß, denn die Gefühle, geschätzte Hörerinnen und Hörer, die Gefühle! Wie soll man diese im Hause der Vernunft unterbringen, in welcher Rumpelkammer des Verstandes hat es noch ein bisschen Platz für Emotionen, wo doch das ganze Haus, was sage ich das ganze Haus, ein einzelnes Individuum ist ja viel mehr als nur gerade ein einzelnes Haus, jedes Individuum umfasst mindestens eine Kleinstadt, und in dieser Kleinstadt sind alle Wohnungen schon belegt mit all den unterschiedlichen und gegensätzlichen Bestandteilen der Vernunft – wo sollen da noch die Gefühle hin? – Jaja, ich weiß, dass die Gefühle nicht nur eine gewaltige Rolle spielen, sondern die Men­schen sowohl einzeln als auch im Kollektiv viel stärker leiten als die offiziellen Leitlinien der Vernunft, aber, merkt auf: die Gefühle sind eigentlich ihrerseits nichts weiter als eine Urform der Vernunft, und auch wenn darüber in der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaftler:innen und insonderheit bei den Psycholog:innen wohl kein Konsens besteht, ja noch nicht mal in allen Unterabteilungen meines eigenen Ich, so bleibe ich doch dabei. Gefühle sind vernünftig! Es ist vernünftig, Gefühle zu haben, es ist auch vernünftig, regelmäßig unvernünftig zu sein und eben gerne mal emotional, es wäre absolut unvernünftig, wenn man nie emotional wäre, und so weiter.

So – das lasse ich jetzt mal als Axiom und Arbeitshypothese im Raum stehen und komme zurück zu den zahllosen gegen­sätzlichen Bestandteilen, welche so eine mittlere Kleinstadt mit dem Namen Individuum ausmachen, weil ich mir davon die Paare herausgreifen möchte, welche die Organis­a­tion der Menschen in Europa beschlagen, unter anderem mit den Über­le­gun­gen zur Zukunft des Nationalstaates, aber auch mit einem Rückblick darauf, dass nach dem Fall der Mauer und der Liquidation der Sowjetunion viele begeisterte Köpfe vom Europa der Regionen im Rahmen der Europäischen Union träumten und diskutierten. Die Katalan:innen entsandten eine Delegation nach Aachen ans Grab des ersten gesamteuropäischen Kaisers, Karl dem Großen, in der Hoffnung darauf, dass sie gar keine Unabhängigkeit vom spanischen Zentralstaat benötigen würden, da die Nationalstaaten im Superstaat Europa ohnehin aufgehen und aufgehoben werden würden, und in unzähligen Zusammenkünften der Bilderberger und der Mont-Pélérin-Society und anderer gut finanzierter großbürgerlicher Denkungsmanufakturen ging es hoch zu und her. Ein Europa ohne Grenzen stand als praktisch fixfertiger Entwurf greifbar vor der geistigen Tür, auch wenn schon damals alle Entscheidungsträger:innen genau wussten, dass sie ein solches Projekt niemals umsetzen würden, nicht zuletzt deshalb, weil sie es letztlich gar nicht wollten – das hätte all jenen Kräften widersprochen, die sie in ihre jeweiligen Rollen gespült hatten. Trotzdem finde ich es heute ausgesprochen krass und lustig, solche Debatten, an denen auch Euer damaliger erster gesamtdeutscher Bundeskanzler Kohl teilnahm, immer noch ganz beduselt von der anderen plötzlich Realität gewordenen Vision, nämlich der Wiedervereinigung Deutschlands, mit der heutigen Realität zu vergleichen bezie­hungs­weise mit jener Großstadt an Realitäten, welche das heutige Europa umfasst. Ein Europa ohne Grenzen! Mit dieser Lachnummer kannst du nicht mal in Belgrad im Kabarett auftreten. Stattdessen treten neben die Grundsätze wie bürgerliche Freiheiten, Wohlstand für alle, technologischer Wandel und so weiter die Realitäten von Korruption zum einen, der Korruptionsbekämpfung als Mittel der Interessenpolitik zum anderen, insgesamt das massive Anschwellen der Partikularinteressen, welche sich ebenso gut der nationalen Politik bemäch­tigen wie des übernationalen oder gar antinationalen Lobbyismus, die gebändigt werden durch das Feilschen um die Kreditvergabe der Europäischen Union, was am Schluss zum Wachstum der europäischen Realitätengroßstadt zu einer wahren Megalopole führt. Und in all dem wabern die nationalistischen Träume ungebrochen fort.

Ich stelle das auch bei mir selber fest. Ich halte die Tradition meiner verehrten Frau Mutter aufrecht und bedaure nach wie vor, dass uns die europäischen Mächte im Jahr 1815 das Veltlin gestohlen haben. Würde das Veltlin heute zur Schweiz gehören, dann hätten wir längst einen Tunnel unter dem Stilfserjoch hindurch gebaut und die Eisenbahnlinie durch das Vintschgau mit dem Comersee verbunden, nicht zu vergessen die erste elektrifizierte Eisenbahnstrecke Italiens von Colico nach Chiavenna. Das wäre schön. Die meisten nationalistischen Träume beinhalten aber nicht in erster Linie den Bau von Eisenbahnlinien. Die Pol:innen zum Beispiel wissen mit ihrer Geschichte, die rein territorial zwischen null und fast unendlich schwankt, gar nicht so recht, wohin sie ihren Kopf rücken sollen, mit einer Ausnahme: Im Gegensatz zu Deutschland, dessen historische Schulden mit dem Abbüßen der Nazi-Vergan­genheit einigermaßen getilgt zu sein scheinen bis auf jene Fälle, in denen die deutsche Regierung sich wieder mal erfrecht, von Polen eine ordnungsgemäße Rechts­staatlichkeit einzufordern, da stellen die polnischen Regierungen immer sehr schnell Forderungen nach Reparations­zahlungen für die im Zweiten Weltkrieg erlittenen Verluste, möglichst in der Höhe eines zehnfachen Bruttoinlandprodukts wahlweise von Polen, Deutschland oder den Vereinigten Staaten. Davon abgesehen aber ist in Polen in erster Linie die umfassende Abneigung gegen die Russ:innen lebendig, was man zum einen begreifen kann; zum anderen stellt Polen mit seinen Initiativen zur Integration der Ukraine in die EU, ununterbrochen seit 20 Jahren, eine wichtige Triebkraft dar, die zur Auslösung des aktuellen Ukraine-Kriegs beigetragen hat. Die Schwächung Russlands – das ist eigentlich massiv untertrieben: die vollständige Vernichtung Russlands als Land und Machtgebiet ist das unausgesprochene Ziel, die Schwächung nur eine Etappe auf dem Weg dahin, ebenso wie die Assoziierung der ehemals polnischen Gebiete in der Ukraine, das sind nicht zu unterschätzende polnische Träume, vor allem mit der dazu gehörigen historischen Tiefe, und wenn man mich hier der Schwadroniererei bezichtigt, so räume ich dies zum Teil ein, verweise aber darauf, dass schon früher gestandene Rummsköppe bürgerlichen Geschichtsverständnisses wie zum Beispiel der vor zwanzig Jahren verstorbene Golo Mann in solchen Übungen exzelliert haben. Dass so etwas jetzt tatsächlich wieder aktuell wird und einen neuen Körper erhält, hätte man sich allerdings nicht träumen lassen.

Meine tägliche Portion Europa beziehe ich unter anderem aus dem Internet-Magazin Euractiv. In diesem schreibt der Redaktionsleiter für Bulgarien, Georgi Gotev, dass Polen im Zusammenhang mit dem Krieg zu einer der größten europäischen Militärmächte angewachsen sei, was selbstver­ständlich vor allem mit seiner Lage an der Ostfront zum einen, mit den massiven Waffenlieferungen von Seiten der US-Amerikaner zusammenhängt. Polen hat wie gesagt seit dem EU-Beitritt, nein, schon seit dem Kollaps der Sowjetunion keine Sekunde lang auf eine friedliche Koexistenz mit Russland gesetzt, im Gegensatz zu den Gründerländern der Europäischen Union beziehungsweise ihrer Vorläuferorganisationen, die allerdings ein völlig anderes Verhältnis zu Russland haben als die ehemaligen Satellitenstaaten im Warschauer Pakt. Georgi Gotev meint nun, dass Polen dank seiner militärischen Stählung bald eines der Schwergewichte innerhalb der EU werde. Aus neutraler Sicht gibt es dafür allerdings keine Hinweise. Die 170'000 Mann und Frau zählende polnische Armee ist beispielsweise den deutschen Beständen mindestens im Moment noch nicht überlegen, auch wenn Verteidigungsminister Blaszczak die größten Landstreitkräfte Europas aufbauen will mit 300'000 Mann, und die Rüstungsausgaben liegen mit 2.4% des Bruttoinlandprodukts wohl im Verhältnis über jenen Eurer schönen Republik, aber da kommt ja jetzt auch einer jener Wumms oder Bumms, die zur Spezialität Eures Kanzlers geworden sind. Was die Pol:innen den Deutsch/ innen voraus haben, ist wie erwähnt die ingrimmige Ablehnung Russlands, aber das reicht noch nicht aus für eine Position als europäische Supermacht. Solche müssten auch eine gewisse wirt­schaft­liche Potenz haben, und wenn auch das CIA Fact Book für Polen im Jahr 2021 ein Brutto­inlandprodukt von 1.31 Billionen Dollar nach Kaufkraftparität ausweist, so sind es nominal halt doch nur 600 Milliarden Dollar; das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der 40 Millionen Pol:innen liegt bei 35'000 Dollar im Jahr. Im Vergleich dazu gibt die CIA für Deutsch­land ein Bruttoinlandprodukt nach Kaufkraftparität von 4.42 Billionen Dollar an, während es nominal immerhin 3.8 Billionen sind, und da besteht doch ein massiver Oder-Neisse-Graben, den auch ein um 100'000 Mann stärkeres Heer nicht auffüllen wird. Pro Kopf erarbeitet Deutschland übrigens 53'000 Dollar.

Nein, da verschätzt sich Georgi Gotev ziemlich massiv, wenn er auch richtig erkennt, dass Polen ein Lieblingskind der Vereinigten Staaten von Amerika in Europa und in der EU ist. Aber das wird nicht ausreichen, um Polen zur europäischen Exklave der USA, also sozusagen zum europäischen Israel auszubauen, weil nur schon die Länder in Europas Westen nicht zu vergleichen sind mit den palästinensischen und arabischen Nachbarländern im Nahen Osten; und soviel weiß die Ameri­ka­ne­rin doch hoffentlich, dass es die EU nicht so einfach hinnehmen würde, wenn die US-Ame­ri­ka­ne­r:in­nen Polen aus der EU heraus­zu­bre­chen versuchten, so wie es die EU mit der Ukraine getan hat.

Gotev schreibt, dass die Zeit für Polen arbeite und dass die Aufwertung spätestens dann stattfinde, wenn die Ukraine der EU beitrete mit ihrer mächtigen und kriegsgestählten Armee. Hier verwech­selt Gotev zwar die Europäische Union mit der Nato, aber das kann schon mal passieren in diesen Zeiten. Vorderhand ist der Krieg noch nicht entschieden, und ich verfüge nicht über Hinweise über den wahrscheinlichen Ausgang. Das einzige, was ich weiß, ist, dass Russland mit dem immer er­wähn­ten riesigen Hinterland die Ukraine mit ihren 40 Millionen Einwohner:innen in einem Abnüt­zungskrieg ausbluten kann, wenn die Nato nicht am Schluss doch noch selber eingreift, was dann allerdings zu einem kritischen Moment führen würde, in dem sich entscheidet, ob Nuklear­waf­fen ins Spiel kommen oder nicht. Ein Verhandlungsfrieden dagegen würde nach dem jetzigen Stand der Informationen kaum beinhalten, dass die Ukraine der Nato beitritt und an der russischen Grenze genau jenes Militärarsenal aufbaut, welches Russland mit der Invasion vor acht Jahren vom Schwarzmeer fernhalten wollte. Gotevs Spekulation beinhaltet also eine militärische Niederlage Russlands, wofür es wie gesagt im Moment keine Belege gibt.

Neben solchen Schwadronierereien kann man mit Sicherheit festhalten, dass die Polinnen und Polen im Kern ebenso friedliebende Leute sind wie zum Beispiel die Tschechinnen und Tschechen oder die Ukrainerinnen und Ukrainer. Die historisch-bellizistischen Spekulationen belegen nur einen von zehntausend Räumen im polnischen Volkspalast. Es gibt keinen Grund, den Pol:innen mehr vorzuwerfen, als ihnen vorzuwerfen ist, nämlich ihre Regierung mit der PiS-Partei, die nicht aufhört, zentrale Elemente jener Demokratie, welche sie gegen Russland zu verteidigen vorgeben, im eigenen Land zu schleifen, namentlich bei der Unabhängigkeit der Justiz.

Und man kann auch festhalten, dass alle Fragen in Bezug auf Russland offen bleiben. Besteht die Aussicht darauf, dass es dort in absehbarer Zeit mal einen modernen Staat gibt, der nicht auf Diebstahl, sondern auf ganz normaler kapitalistischer Aneignung und sozialdemokratischer Umverteilung beruht und der seine Positionen im Rahmen von Verhandlungen unter zivilisierten Partnernationen durchsetzt? Hier fehlen mir sämtliche Anhaltspunkte für eine Antwort.