"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Querverschwörer-innen

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Es ist nicht alles Verwirrung und Verblendung, was in den Köpfen von Querdenker:innen und Verschwörungstheoretiker:innen herum geistert, wobei mir gerade auffällt, dass der Begriff Verschwörungstheorie aus den zwei Begriffen Verschwörung und Theorie zusammengesetzt ist, also aus zwei artfremden Bezeichnungen, denn an eine Verschwörung mag man glauben und es hat in der Geschichte auch immer wieder welche gegeben, aber eine Theorie der Verschwörung scheint mir per Definition ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
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10:54 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.03.2023 / 10:36

Dateizugriffe: 90

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.03.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es ist nicht alles Verwirrung und Verblendung, was in den Köpfen von Querdenker:innen und Verschwörungstheoretiker:innen herum geistert, wobei mir gerade auffällt, dass der Begriff Verschwörungstheorie aus den zwei Begriffen Verschwörung und Theorie zusammengesetzt ist, also aus zwei artfremden Bezeichnungen, denn an eine Verschwörung mag man glauben und es hat in der Geschichte auch immer wieder welche gegeben, aber eine Theorie der Verschwörung scheint mir per Definition ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
Für Verschwörungen gibt es sowenig Theorien wie beispielsweise für ein Attentat, es gibt hier nur die Praxis, und was das allfällige Ziel der Verschwörung angeht, gibt es nur die Spekulation. Aber solange die Menschen gut mit der Bezeichnung leben können, soll es mir unter diesem Vorbehalt recht sein, und wie gesagt, die queren Verschwörerinnen zeigen manchmal Ansätze, die auch andernorts zu finden sind, zum Beispiel bei der Selbstversorgung. Das ist zwar kein realistisches Ziel für eine Weltbevölkerung von 8 Milliarden Menschen, aber die dahinter lauernde Idee einer natürlichen Produktion von Lebens­mitteln, welche nicht über tausende von Kilometern transportiert werden, um anschließend zur Hälfte als Foodwaste in Biogasanlagen zu landen, ist unbedingt vernünftig und müsste in jeder entsprechend vernünftigen Landwirtschaftspolitik einen festen Platz erhalten. Naturnah und regional produzieren, soweit es geht, der Rest wird in industrieller Landwirtschaft hergestellt, das müsste sich durchaus realisieren lassen, zumal in einem System der umfassenden Planwirtschaft, wie es die Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union schon längstens ist. Dabei wäre noch die Einschränkung anzubringen, dass nicht alles, was Chemie ist und aus Chemiefabriken stammt, zum Vornherein schädlich sein muss; ich erinnere daran, dass die Natur selber ausschließlich mit Chemie arbeitet und insofern die größte Chemiefabrik weltweit ist, einschließlich der Produktion von Giften und tödlichen Viren. Aufgepasst mit der Natur, meine Damen und Herren, wie ich immer sage. Trotzdem: Die Vorstellung einer Kreislaufwirtschaft erscheint mir sympathisch, sofern man sie eben mit den Zusatzstoffen aus der Industrie ergänzt. Auch die Kritik am Schulsystem beziehungsweise am zugrunde liegenden pädagogischen Konzept kann ich zum Teil nachvoll­zie­hen. Es ist kein Zufall, dass viele Querverschwörerinnen aus dem Umfeld der Anthroposoph:innen stammen, welche bekanntlich über eine eigene Pädagogik verfügen, die deutlich stärker auf das Schüler:innen-Individuum zugeschnitten ist als der Apparat der öffentlichen Schulen. Was mich nebenbei zur Frage führt, ob es für die öffentlichen Schulen überhaupt ein pädagogisches Konzept gibt? Ich gehe vorsichtshalber mal davon aus, dass dies nicht der Fall ist beziehungsweise dass sich solche Konzepte schon seit einiger Zeit aus dem Schulalltag geschlichen haben, aus einem Alltag, der einfach darin besteht, dem Schüler:innengut möglichst viel Stoff in guter Qualität beizubringen. Das sieht schon mal nach einem Konzept aus, ist aber natürlich keines, denn eine Schule, die etwas anderes zum Ziel hat, wäre keine Schule. Nein, nach meinen Beobachtungen gibt es für die öffent­liche Schule kein pädagogisches Konzept, sondern nur Behörden und Ministerien, welche ihre Kräfte nicht in die Pädagogik investieren, sondern darin, ihre Budgets und Zuständigkeiten zu ver­tei­digen. Ihr seht, geschätzte Hörerinnen und Hörer, ich bin bereits am Mitjaulen im Chor der Quer­verschwörerinnen. Aber an unseren Schulen gibt es tatsächlich viel zu kritisieren respektive gäbe es viel zu verbessern. Vielleicht wird das mal ein Thema, wenn der Rüstungswumms dann aus­ge­wummst ist, wobei ich schon jetzt darauf hinweise, dass es im Schulwesen nicht allein darum geht, mehr Mittel in Bildung und Infrastruktur zu investieren, sondern eben das ganze pädagogische Kon­zept zu erneuern und vor allem die Hoheit der Bundesländer über die Bildung drastisch einzu­schrän­ken zugunsten von Vorgaben und Lehrmitteln vom Bund. Wir bezahlen schließlich heute auch nicht mehr mit 12 Gulden hessisch und 13 Batzen preußisch, sondern haben sogar schon die Reichsmark überwunden, und das gilt im Prinzip eben auch für die Bildung: Regionale Beson­der­heiten und Anforderungen in Ehren, aber die Ausstattung der Kindsköpfe mit schulischem Basis- und gehobenem Wissen dürfte sich mindestens anatomisch in Frankfurt an der Oder nicht anders abspielen als in Biarritz am Golf von Biskaya.

Bis man sich aber an diesen Bildungs-Wumms macht, müssen wir einfach darauf vertrauen, dass das bestehende Lehrpersonal die Kinderchen weiterhin nach bestem Wissen unterrichtet, was gottseidank nach wie vor eine oft beobachtete Realität ist. Und für den Bildungs-Wumms selber braucht es dann noch eine kleine theoretische Unterfütterung, eben ein paar Novellierungen der pädagogischen Konzepte, sowie eine große politische Anstrengung, wobei der Großteil der Kräfte wohl dafür vergeudet werden muss, jene Politikerinnen zu bekämpfen, die sich nicht entblöden, aus der Bildungspolitik ihrer jeweiligen Länder einen Gegenstand des Populismus zu machen, der sie in irgendwelche Ämter tragen oder dort bestätigen soll.

Dann ist da noch die Sache mit dem Staat. Er wird abwechslungsweise selber als Verschwörung angesehen oder aber als Maschine, die von den Verschwörer:innen gesteuert wird. Der Kern solcher Neurosen liegt in der Tatsache, dass der Staat oft meilenweit entfernt und gesichtslos erscheint, auch wenn die staatlichen Institutionen in der Praxis bis hinein ins Schlafzimmer reichen, wenn man das Licht ausschaltet, oder bis zum Wasserzapfhahn in Küche und Badezimmer; dass die Straßen asphaltiert sind und je nach Ortschaft Löcher haben oder nicht, dass das Telefon funktioniert, die medizinische Versorgung, die zwar auch dringend reformiert beziehungsweise gewummst werden müsste, aber immerhin in den Grundzügen noch vorhanden ist, in all diesen alltäglichen Dingen ist der Staat präsent. Das kann man sich aus praktischen Gründen natürlich nicht in jedem Augenblick vergegenwärtigen und sogar dafür applaudieren – für Applaus gibt es oft keinen Grund, aber immerhin ist die Einsicht nicht falsch, dass der Staat eben durchaus eine physische Gegenwart hat. Diese steht oft im Gegensatz zu dem, was als Politik ausgegeben und betrieben wird. In der Praxis werden unterschiedliche politische Richtungen kaum etwas anderes anstellen als ihre politischen Gegner:innen, sobald sie an der Macht sind. Dass es in der Regie­rungs­realität große Unterschiede von Bundesland zu Bundesland gibt, ist dann wieder eine andere Nummer, wobei wir hier wirklich gespannt sind darauf, was in der Hauptstadt unter der neuen Zusammensetzung wirklich ändert. Berlin macht allerdings den Eindruck eines echten Sonder­falls, den man nicht auf die anderen Teile der Bundesrepublik übertragen kann. «Arm, aber sexy» nannte Klaus Wowereit die Stadt seinerzeit, nachdem er das Tafelsilber verschleudert hatte; das ist unterdessen nicht mehr das Problem, die Wirtschaftsleistung pro Kopf liegt über dem deutschen Durchschnitt, aber die Verwaltung, welche offenbar im Kleinen die Regionalfürsten-Mentalität auf Bundesländerebene reproduziert, sowie die Entstehung von Räumen, in denen nicht mehr der Staat die wichtigste Ordnungsmacht ist, machen doch etwas Kopfschmerzen.

Eine Verschwörung ist so etwas allerdings nicht, beziehungsweise: Wenn es eine wäre, dann wäre es eine ausgesprochen schlechte Verschwörung. Dagegen ist mindestens die Modernisierung der staatlichen Verwaltung ein absolutes Muss, dem sich offenbar vor allem innerhalb dieser Verwaltung tatsächlich obskure Kräfte entgegenstellen. Dies wiederum fassen die meisten Querverschwörerinnen nach meinem Wissen nicht als Kern einer Verschwörung auf. Der Widerstand innerhalb des Apparates gegen tendenziell jegliche Reform wird noch gestützt durch den Umstand, dass der Gesetzgebungsprozess seit langer Zeit Rücksicht nehmen muss auf gesamteuropäische Elemente. Was ursprünglich als befreiende Vereinheitlichung angekündigt war, zeigt sich in der Realität oft als Möglichkeit zur Blockade. Hier gibt es viel zu tun, und auch hier wäre vielleicht ein neues pädagogisches Konzept durchaus nützlich.

An der freien, sozialen und Marktwirtschaft dagegen haben die Querverschwörer:innen in der Regel nichts auszusetzen. Dies gilt selbstverständlich nicht für das Finanzkapital, das vermutlich die Kernsphäre jeder Weltverschwörung bildet. Die Querverschwörer:innen sind in der Kritik des Finanzkapitals natürlich nicht allein. Zur Not bedienen sich sogar Fraktionen des Finanzkapitals selber eines kapitalkritischen Vokabulars, wenn es darum geht, einer anderen Fraktion eins auszuwischen. Bei der antikapitalistischen Linken steht die Kritik am Finanzkapital seit eh und je im Zentrum der politischen Bestrebungen; das normale, produktive Kapital erscheint im Vergleich dazu nicht nur als harmlos, sondern nach wie vor als jene Kraft, welche die produktive Wirklichkeit schafft, die man bei Gelegenheit mit dem Mittel einer Revolution einfach übernehmen kann durch die Umstülpung der Machtverhältnisse in den Fabriken, aber ansonsten sind sich die Kapi­ta­list:in­nen und Revolutionär:innen durchaus einig in dem, was man früher den Industrialismus genannt hat. Das Finanzkapital dagegen scheint sich oft zuvörderst gegen das Industriekapital zu wehren, indem es mit diesem spielt, sei es an der Börse, sei es durch unrealistische Gewinnvorgaben oder was auch immer. Es macht unterdessen auch ein Mehrfaches dieses Industriekapitals aus, wobei es nicht immer leicht ist, diese Zahlen zu berechnen und ein- und zuzuordnen, weil verschiedene Zahlen hier hineinspielen, zum Beispiel die Kontrakte über gegenwärtige und zukünftige Rohstofflieferungen. Aber es ist eine unbestrittene Tatsache, dass das Finanzkapital ein, zwar an die Realwirtschaft geknüpfter, aber tendenziell davon wegstrebender Teil der globalen Wirtschaft geworden ist. Bei der überwiegenden Mehrheit der Querverschwörer:innen ist das Finanzkapital in erster Linie die Emanation des ewigen Juden auf der Welt. Und damit lande ich wieder beim Anfang: Es ist nicht alles Verwirrung und Verblendung, was in den Köpfen von Querdenker:innen und Verschwörungstheoretiker:innen herum geistert, aber ein Großteil ist es eben doch. Dies gilt insbesondere für den Antisemitismus. Querverschwörer:innen halten sich oft für Verteidiger:innen eines christlichen Abendlandes, und das ist gerade bei den antijüdischen Reflexen vollkommen paradox. Da mache ich mich fast lieber über die letztlich heidnischen Wurzeln lustig, welchen die Naturverehrer:innen anhängen, einmal abgesehen davon, dass auch einige Christ:innen seit einiger Zeit in die geschöpfte Schöpfung auch die Tier- und Pflanzenwelt gleichwertig integrieren. All das ist recht chaotisch.

Immerhin sind die meisten Menschen von solchen Hirngespinsten nur am Rande betroffen oder überhaupt nicht. Ich bin hier vor allem kurz darauf eingegangen wegen der Fragen, die eine Ursache in der Realität haben. Vor wenigen Jahren konnte man solche Fragen noch im Rahmen von politischen Programmen diskutieren. Heute sind solche Programme nicht nur weitgehend identisch, sondern auch nichts mehr wert, und das ist möglicherweise eine Hauptursache dafür, dass sich die Hirngespinste den Doktortitel Theorie aneignen können und sich in einer doch ansehnlichen Anzahl Köpfe verbreiten.

Kommentare
16.03.2023 / 17:57 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 16.03.. Vielen Dank !