"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Morawietzki

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Wo er recht hat, hat er recht: der polnische Ministerpräsident wirft den EU-Stammländern vor, die Neumitglieder aus dem Osten zu bevormunden und von ihnen zu erwarten, dass sie einfach ausführen, was in Brüssel beschlossen wird. Das ist gut beobachtet. Nun plant er zusammen mit Prag einen gemeinsamen osteuropäischen Wirtschaftsraum als eigenständiges Gewicht in der Europäischen Union; weitere Partner sind Rumänien, nicht aber Ungarn, das sich offenbar unterdessen komplett aus dem Spiel manövriert hat, dafür aber die Ukraine.
Audio
10:16 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.04.2023 / 12:45

Dateizugriffe: 69

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.04.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wo er recht hat, hat er recht: der polnische Ministerpräsident wirft den EU-Stammländern vor, die Neumitglieder aus dem Osten zu bevormunden und von ihnen zu erwarten, dass sie einfach ausführen, was in Brüssel beschlossen wird. Das ist gut beobachtet. Nun plant er zusammen mit Prag einen gemeinsamen osteuropäischen Wirtschaftsraum als eigenständiges Gewicht in der Europäischen Union; weitere Partner sind Rumänien, nicht aber Ungarn, das sich offenbar unterdessen komplett aus dem Spiel manövriert hat, dafür aber die Ukraine.
Dass der EU-Beitritt der Ukraine seit 20 Jahren ein offener oder verdeckter Schwerpunkt der polnischen Politik ist, wissen wir; wir wissen auch, dass die entsprechenden Anstrengungen der Europäischen Union zu den zentralen Gründen für den Krieg in der Ukraine zählen. Man muss nun noch etwas warten, wie der Krieg denn ausgeht, immer vorausgesetzt, dass er sich nicht noch 29 Jahre hinzieht, weil dann sowieso alles andere wäre und wir vermutlich auf dem Gebiet der Ukraine so etwas wie einen Ableger von Mondlandschaften hätten. Jedenfalls gibt es vor der Gründung dieses neuen Warschauer Wirtschaftspaktes noch einige Hürden zu nehmen.

Am nächsten Tag beschwert sich Morawietzki über den Import billigen ukrainischen Getreides, welcher den polnischen Bauern Probleme bereitet beim Absatz ihrer Ware, und zwar beschwert er sich bei der Europäischen Kommission. Vermutlich hat er auch hier recht, aber auf einer anderen Ebene als zuvor mit dem Vorwurf der Gängelung und später mit dem Vorschlag des Warschauer Wirt­schafts­paktes; damit erinnert er mich immer mehr an den serbischen Präsidenten Vucic, der auch jeden Tag mehrmals etwas sagt und vermutlich auf der jeweiligen Ebene auch immer recht hat, vor allem aber jeden Tag etwas sagt. Nachdem ich letzte Woche die Methode von Donald Trump auf die Wrestling-Zirkusakte zurückführen konnte, bin ich heute soweit, im Fall von Vucic eine kos­me­tische Beschreibung vorzunehmen, das heißt, ich empfehle dem polnischen Ministerpräsidenten Morawietzki, seine Lippen ähnlich schön aufzuspritzen wie der serbische Präsident Vucic, dann kommen die unterschiedlichen Ebenen seiner Rechthaberei auch richtig an.

Immerhin will ich die Augen nicht davor verschließen, dass ein Teil der ukrainischen Getreide­ex­porte, die wegen des Kriegs zum Teil umgeleitet wurden vom Schwarze Meer über die polnischen Seehäfen, offenbar den Weg auf den polnischen Binnenmarkt gefunden hat und dort für Furore sorgt, nämlich für Preiseinbrüche – wenn es denn stimmt, was ich durchaus nicht kontrollieren kann; in der Praxis müssten die entsprechenden Züge ja dann irgendwo anhalten und entladen werden, und wo das geschehen sein soll, ist mir völlig unbekannt. Aber auf jeden Fall hat der Gründer der Nahrungsmittelproduzentenvereinigung AgroUnia Michal Kolodziejczak massive Kritik geübt an den bisherigen Ausgleichszahlungen der EU in der Höhe von 56.3 Millionen Euro – für alle bulgarischen, polnischen und rumänischen Getreideproduzentinnen. Das reiche hinten und vorne nicht, sagt Kolodziejczak und nennt eine Summe von 8 bis 10 Milliarden Euro, allein für seine polnischen Mitbäuerinnen. Das entspricht dem Weltmarktpreis für die gesamte polnische Getreide­pro­duktion. Diese belief sich übrigens im Jahr 2020 auf 35 Millionen Tonnen; im Jahr 1990 waren es noch 28 Millionen Tonnen gewesen, die bis im Jahr 2000 abnahmen auf 22 Mil­lio­nen Tonnen, um bis 2010 wieder anzusteigen auf 27 Millionen und jetzt eben auf 35 Millionen. Und für die will Kolodziejczak jetzt EU-Subventionen im vollen Umfang und bestätigt damit, was wir nicht erst seit der Lektüre des «Hauptstadt»-Romans von Robert Menasse vom heutigen Bauern als solchem und vom EU-Bauern im Besonderen halten.

Morawietzki hatte also durchaus einen innenpolitischen und EU-agrarpolitischen Grund für die dicke Lippe zu den Getreide-Billigimporten. Am übernächsten Tag wäffelt Morawietzki dann gegen das Verbot von Verbrennungsmotoren in der EU vom Jahr 2035 an auch mit den vom deutschen Verteidigungs-, äh Verkehrsminister erzwängten Ausnahmeregelungen für synthetischen Treibstoff und will, dass Polen sich als einziger Staat in der EU gegen dieses Verbot mit Ausnahmen zur Wehr setzt. Vielleicht gibt es ja ein Zückerchen, wenn er diese befestigte Position ohne weiteren Wider­stand schleift. Jedenfalls gibt sich Morawietzki hier deutscher als die deutschen Autofetischisten, für die übrigens in Zukunft das Tragen von Karnevals- und Batman-Masken im Automobil für obliga­torisch erklärt werden sollte. Morawietzki seinerseits übertrifft bei der Absonderung von sinnlosem Gefasel und obskuren Standpunkten, die innerhalb von 90 Sekunden wechseln können und somit wahre Oktopus-Standpunkte sind, die Kadenz von Vucic deutlich, aber seine Lippen sind immer noch schmal wie zuvor. Wie geht das zusammen? Auch die Nase ist ihm nicht geschwollen wie bei Pinocchio. Wenn das so weiter geht, müssen wir unser Bild-Instrumentarium ergänzen.

In Schweden ist ein interessantes Experiment in Gange, nämlich der Betrieb einer sozial­demo­kra­tischen Politik von rechts, das heißt wirtschaftsfreundlich und auf sozialen Ausgleich bedacht, aber mit einem nationalistischen Vokabular und strikt auslän­derin­nen­feindlich. Etwas Ähnliches erlebt man seit einem halben Jahr in Italien, nur würde man italie­nische Politik grundsätzlich nicht sozial­demokratisch nennen, sondern nur italienisch. Das skan­dinavische Modell hat aber min­destens während den letzten fünfzig Jahren die Praxis in Europa geprägt, und dementsprechend ist es gut möglich, dass auch diese Entwicklung eine Pionierrolle für die mittlere Kontinentalplatte spielt. Gründe dafür, dass das Fremdenfresser-Element eine derart starke Bedeutung erhält, können zum Beispiel die tatsächliche Zunahme der Fremden in der Bevölkerung sein, von Eritreerinnen bis Nordnorwegerinnen, Finninnen und Südschweden. In der Regel spiegelt sich eine solche Umvol­kung zuerst in der Fußball-Nationalmannschaft, ich erinnere nur an Zlatan Ibrahimovic. Das Schlimmste daran ist, dass Ibrahimovic die Schweden nicht einmal zum EM-Titel umgevolkt hat, deshalb muss die Bevölkerung jetzt in eine schwer xenophobe Phase eintreten. Im Übrigen ist die kontinuierliche Zuwanderung eine Tatsache, nicht nur in Schweden; umgekehrt wimmelt es an österreichischen Universitäten unterdessen von schwedischen Studentinnen und Studenten. Was wiederum bei den Österreicherinnen eine Fremdenfresser-Phase auslöst, die allerdings in Österreich schon Tradition hat, seit sich der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn aufgelöst hat. Aber dass die Länder der entwickelten Welt schon lange nicht mehr ethnisch einheitlich sind, wenn sie es über­haupt je waren, siehe Österreich-Ungarn, das ist eine Tatsache, und diese Tatsache sorgt halt immer mal wieder für xenophobe Rülpser. Vor allem dann, wenn keine starke Ideologie mit einer gewissen gesellschaftlichen Verankerung dagegen hält. Es müsste eigentlich nicht besonders schwer fallen aufzuzeigen, was für ein Blödsinn hinter Sprüchen wie «Schweden zuerst» steht. Als ob die Schwe­din­nen im eigenen Land nichts mehr zu sagen hätten. Respektive: Oft ist es tatsächlich so, dass die Schwedinnen im eigenen Land nichts zu sagen haben; aber der Grund dafür liegt in der Regel nicht bei den Arbeitsmigrant:innen, sondern bei der eigenen Oligarchie, welche ihrerseits in der Regel keine Skrupel hat, die Landesgrenzen zu überschreiten, wenn es zum Beispiel der Steuer­maxi­mie­rung dient. Das Kapital kennt keine Grenzen, aber es nutzt sie aus, um die Bevölkerungen unter­ein­ander auszuspielen, könnte man sagen, was allerdings etwas platt und oberflächlich wäre; das Kapital kennt die Grenzen und vor allem die den Grenzen innewohnende Gesetzgebung in- und auswendig und hat anderseits auch alles Interesse an funktionierenden, modernen Staaten, und wenn es noch Nationalstaaten wären.

Wie auch immer: Die sozialdemokratische Ideologie war die Leitideologie des letzten Jahrhunderts, jetzt ist sie auf dem Rückzug und schmilzt wie die Gletscher, was in erster Linie damit zu tun hat, dass sie ihre Ziele erreicht hat, sie wird gar nicht mehr benötigt. An ihre Stelle müsste eine neue Ideologie treten, welche die Organisation der Menschen unter den Bedingungen eines neuen, all­ge­mei­nen Reichtums zum Inhalt hat, und zwar auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der Chancengleichheit, kombiniert mit dem Imperativ, den Energieverbrauch und die Produktion umweltfreundlich einzurichten, also ohne CO2-Ausstoß und ohne Verbrennermotor. Dafür braucht es keine überlegene Geistesstärke, es braucht nur Modelle, welche aufzeigen, wie man ohne Verluste und Ängste an dieses Ziel gelangt. Dann kann man auch die Fremdenfresserei wieder in den Verdauungstrakt zurück stecken, obwohl ich sie im Verdacht der Unverdaulichkeit habe. Sie ist so anachronistisch, dass man aus neutraler Sicht darüber lachen müsste, wenn sie nicht ein Zeichen der ewig gleichen gefährlichsten Krankheit der Menschheit wäre: der Dummheit. Kein Wunder, verbreitet sich die künstliche Intelligenz so schnell, wenn sich die menschliche Dummheit zur Politik aufschwingt. Das sollte man mit der Schaffung einer modernen Ideologie verhindern.
Im Moment wird grad überall ein bisschen gewählt, und überall stellt man fest, dass die Umwelt­be­we­gung stark an Schwung eingebüßt hat. Ich erkläre mir das zum Teil damit, dass es sich um eine natürliche Abwehrreaktion der Menschen handelt, die unterdessen Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat gepiesackt werden mit Nachrichten, welche die üblen Klimabefunde überdeutlich belegen. Irgendwann muss man raus aus diesem Dilemma, das sich bekanntlich mit dem Einbezug grüner Parteien in die hohe Politik nur verschärft. Der umfassende Triumph des FDP-Verkehrs­ministers über alle grünen Anliegen in seinem Dossier, sprich der Bau neuer Autobahnen anstelle von neuen Eisenbahntrassen, ist nicht dazu angetan, auch nur einen Funken Hoffnung in die gegen­wärtige politische Erscheinungsform einer Umweltlobby zu setzen, mindestens in Deutschland. Anderseits muss man einräumen, dass es keinen geraden Weg zu welchem Ziel auch immer gibt, dass also immer mit Rückschlägen zu rechnen ist. Bloß sehen diese Rückschläge im Moment gerade ziemlich übertrieben und unnötig aus. Wenn Volker Wissing im Herbst immer noch Verkehrsminister ist, rate ich dringend zu Neuwahlen.