Ist ziviler Widerstand auch in zwischenstaatlichen Konflikten erfolgreicher oder werden hier Äpfel mit Birnen verglichen?

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Russlands Überfall auf die Ukraine wirft die Frage auf, wie man sich eines Aggressors erwehren kann, dem mit Entspannung nicht beizukommen ist, weil er Krieg einfach als Mittel seiner Politik gebraucht. Für diesen Fall sehen viele aus der alten deutschen Friedensbewegung das Konzept der zivilen Verteidigung vor. Eine Statistik soll die hohe Wirksamkeit zeigen. Wenn das stimmt, könnte man die Erde zu einem viel besseren Ort ohne Militär machen. Doch nur weil uns das Ergebnis gefällt, muss es noch nicht stimmen oder wie in diesem Fall auf Konflikte zwischen Staaten übertragbar sein. Der Kommentar geht dieser Frage nach. jk
Audio
07:25 min, 17 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.04.2023 / 17:37

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Mittagsmagazin
Entstehung

AutorInnen: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 20.04.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wäre ziviler Widerstand eine Alternative in der Ukraine gewesen? Die Frage ist theoretischer Natur, denn die Geschichte lässt sich nicht einfach zurückspulen und aus einem Krieg, in dem so viele Menschen bereits gestorben sind, so viel Leid und Zerstörung bereits stattgefunden hat, kann man nicht einfach zu zivilem Widerstand umschalten. Das sieht auch Jürgen Grässlin ehrlicherweise so, der in Reden und Interviews, unter anderem mit Radio Dreyeckland, den zivilen Widerstand als erfolgversprechende Alternative empfiehlt.
Die Frage ist für die Ukraine zwar nicht aktuell, aber auch nicht ganz so theoretisch wie es scheint. Wenn Ziviler Widerstand der erfolgreichere Weg ist, dann bräuchte man der Ukraine keine militärischen Sicherheitsgarantien im Falle eines Friedens mit Russland anbieten und könnte das auch nicht, denn die Abschaffung des Militärs wäre die logische Konsequenz.
Auf den russischen Überfall auf die Ukraine haben viele europäische Staaten mit Aufrüstung reagiert. Wenn zivile Verteidigung erfolgreicher ist, dann sollten sie weiter abrüsten, so wie sie es in den letzten Jahrzehnten überwiegend getan haben, obwohl Russland seine Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag, der die Abrüstung in Europa regeln sollte, seit 2007 nichtmehr erfüllt hat und dann 2015 sogar offiziell aus diesem Abrüstungsvertrag ausgestiegen ist. Während im Westen Panzer meist verschrottet wurden hat man sie in Russland eingemottet, wie man mittlerweile weiß, durchaus in Hinblick auf einen künftigen Krieg.
Das weist auf ein anderes Problem hin, nämlich dass selbst wenn man glaubt, rein ziviler Widerstand sei erfolgreicher, die andere Seite sich durch Abrüstung ermutigt sehen kann, trotzdem einen Angriff zu wagen. Unabhängig davon, wie man die Erfolgsaussichten bewertet, möchte wohl niemand gerne das Experiment machen. Panzer eines Aggressors auf den Straßen, dazu Greifkommandos, die sich unbotmäßige Menschen abgreifen, um mit ihnen Gott weiß was anzustellen. Frauen, die nur hoffen können, dass die Besatzer die Situation nicht ausnutzen etc. Gewaltfreier Widerstand hätte nur dann einen Abschreckungseffekt, wenn auch Militaristen ihn fürchten würden, was wir bezweifeln.
Statistiken über den Erfolg gewaltfreien Widerstandes sind fraglich, denn jeder Fall ist anders. Eine viel beachtete Studie von Maria Stephan und Erica Chenoweth, die auf der Kundgebung zum Freiburger Ostermarsch als scheinbar schlagendes Argument angeführt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass gewaltfreier Widerstand deutlich häufiger zum Erfolg führt als gewaltsamer. Allerdings bezieht sich die Statistik ganz überwiegend auf innerstaatliche Konflikte. Ob es der Widerstand mit der eigenen Polizei oder den Soldaten eines anderen Landes zu tun hat, macht aber sicherlich einen Unterschied. Wenn es nach der Besetzung der Ukraine dort zu einem Generalstreik kommt, dann kann das Putin sicher besser aussitzen als einen Generalstreik in Russland usw.
Es scheint, dass gewaltfreier Widerstand gegen verunsicherte Regime hilft, wobei er häufig auch nicht völlig gewaltfrei ist. Das Mubarrak-Regime in Ägypten und das Schah-Regime in Iran wurden mit überwiegend gewaltfreien Bewegungen nicht fertig. Ihre Nachfolgeregime dann aber sehr wohl. Insbesondere in Iran gibt es immer wieder weitgehend gewaltfreie Widerstandsbewegungen, die groß und entschlossen sind, sich aber bisher nicht durchsetzen konnten. Mag sein, dass die Widerstandsbewegung, die nach dem Polizeimord an Jina Mahsa Amini im September begann, vielleicht doch noch zu einer Veränderung führt, aber bisher hat das Mullahregime noch jeden Protest überstanden.
Beispiele, die der Situation in Europa näher kommen sind etwa der Widerstand gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes 1967, der Widerstand gegen Lukaschenko in Weißrussland und auch die Antikriegsproteste in Russland, die Putin doch recht schnell abräumen konnte. Auch in Teilen der Ukraine gab es gewaltfreien Widerstand, der sicher auch an der Moral einiger russischer Soldaten gekratzt hat, mit dem die Besatzer aber ebenfalls bald fertig wurden.
Es wird auch immer wieder auf erfolgreichen Widerstand Gandhis gegen das britische Kolonialregime in Indien verwiesen. Schon Gandhi selbst machte den Fehler, seine Methode zu universalisieren als er den deutschen Juden gewaltfreien Widerstand gegen die Nazidiktatur empfahl. Die Voraussetzungen für Gandhis Erfolg waren indessen sehr speziell. Nach 6 Jahren im 2. Weltkrieg, die auch einen riesigen Schuldenberg, fast das Dreifache der gesamten Wirtschaftsleistung eines Jahres zurückließen, war Großbritannien kriegsmüde. Auch wenn man Indien, zu dem damals auch Pakistan und Bangladesch zählten, bisher in Schach gehalten hatte, so war es doch ein riesiges Land und weit weg. Und es war ja keineswegs garantiert, dass nach einer Niederschlagung der Bewegung Gandis alles friedlich bleiben würde. Das alles in einer Welt, in der Großbritannien plötzlich keine Großmacht mehr war und die neuen Supermächte USA und Sowjetunion eine antikoloniale Haltung einnahmen. Überall bröckelten die Kolonialreiche. 50 Jahre früher hätte Großbritannien möglicherweise viel härter reagiert.
Militarismus ist das Hochhalten des Militärischen, das sich Berauschen an Macht und Gewalt, die Bevorzugung militärischen Vorgehens gegenüber anderen Mitteln. Man kann das alles wieder sehr gut in Putins Russland studieren. Doch bei aller Abneigung gegen das Militär, muss man halt auch realistisch bleiben. Heute zahlt vor allem die Ukraine den Preis dafür, dass Europa und insbesondere die deutsche Politik und Öffentlichkeit, die Möglichkeit einer militärischen Aggression Russlands nicht in Betracht gezogen haben und das obwohl die Aggression gegen die Ukraine schon im Jahre 2014 begonnen hat. Die Ukraine ist ein besonders krasses Beispiel für das Versagen deeskalierender Maßnahmen, wie die Abgabe der Atomwaffen, die Abtretung von Kriegsschiffen, die Überlassung eines Marinestützpunktes, die Zurückweisung der Nato-Mitgliedschaft 2008, die Wahl eines Präsidenten, mit dem Versprechen, den Krieg im Donbas auf dem Verhandlungswege zu beenden, mit Namen Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2019. Putins Propaganda hat das alles in Russland vergessen lassen und zum Teil auch hier.
Konzepte aus Teilen der Friedensbewegung erscheinen manchmal nicht zu Ende gedacht. Immer wieder laufen sie auf eine Begünstigung des Aggressors hinaus, was so weit der Autor sieht, von der Friedensbewegung niemals auch nur als Problem benannt wird. Andere Ansichten sollten nicht pauschal als Militarismus oder Kriegslogik abgetan werden. Man muss aus politischen Erfahrungen auch lernen. Nie wieder 2014!