"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Zahlungsunfähige USA

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Sind die Vereinigten Staaten von Amerika demnächst zahlungsunfähig? Die Frage stellt sich alle Jahre wieder, wenn es darum geht, im Parlament die gesetzliche Schulden-Obergrenze anzuheben. Sie stellt sich unabhängig vom Präsidenten; immer führt die jeweilige Opposition ein Affentheater auf, um sich dann auf einen Kompromiss zu einigen. Das Theater erinnert an die Verhandlungen über Tariflöhne zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ist es diesmal anders?
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09:58 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.05.2023 / 22:49

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.05.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sind die Vereinigten Staaten von Amerika demnächst zahlungsunfähig? Die Frage stellt sich alle Jahre wieder, wenn es darum geht, im Parlament die gesetzliche Schulden-Obergrenze anzuheben. Sie stellt sich unabhängig vom Präsidenten; immer führt die jeweilige Opposition ein Affentheater auf, um sich dann auf einen Kompromiss zu einigen. Das Theater erinnert an die Verhandlungen über Tariflöhne zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ist es diesmal anders?
Der Vor­sit­zende der republikanischen Mehrheit im Abgeordnetenhaus, Kevin McCarthy, ist erst im zigsten Durchgang von seiner Fraktion gewählt worden, weil die Rechtsanarchist:innen ihm verschiedene Zusagen bezüglich des politischen Kurses abringen wollten, was ihnen offenbar schließlich auch gelang, wobei man nichts genaueres nicht weiß, was den konkreten Inhalt dieser Zusagen angeht. Es ist nicht völlig undenkbar, dass es sich justament um diese Zahlungsunfähigkeit handelte bezie­hungs­weise um die Verweigerung der Anhebung der Schuldenobergrenze; es ist deswegen nicht undenk­bar, weil die Rechtsanarchisten über die Zerschlagung möglichst breiter Teile des Zentral­staates hinaus keine anderen politischen Ziele haben. Und hier, beim Haushalt, böte sich eine Gelegenheit zur Sabotage dieses vermeintlichen Molochs.

Was heißt da vermeintlich: Die Regierung in Washington, einschließlich der Administration und des Parlaments, ist ein Moloch. Hier treffen die Interessen aller maßgeblichen Gruppen in den Vereinigten Staaten aufeinander und ringen en gros und en détail um Macht, Einfluss und Budgetanteile, und dass dabei auch in den Samthandschuhen Eisenfäuste stecken, versteht sich von selber. Wenn man so will, ist das der Kern einer Verschwörung: dass im Weißen Haus und auf dem Kapitol der Kampf um Gesetze und deren Auslegung ausgetragen wird, von dem durchschnittlich gebildete Menschen keine Ahnung haben, die aber doch einen wichtigen Einfluss haben auf die Bedingungen, unter denen wir leben, zum Beispiel durch Verbote oder Nichtverbote von Opiaten und so weiter.

Die Schuldenobergrenze beziehungsweise die gesetzlich festgelegte Obergrenze der Staatsver­schuldung spielt in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle. Die Vereinigten Staaten werden nicht kollabieren, falls für einmal kein Kompromiss erzielt wird, weil die libertären Betonköpfe bei den Republikanern einen solchen ums Verrecken blockieren wollen. Dann regiert man halt mit Notrecht, bis die republikanische Wähler:innenbasis ein Einsehen hat und ihr Führungspersonal austauscht. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist allerdings sehr gering, zuerst müsste wohl die republikanische Wähler:innenbasis ausgetauscht werden. Also werden es halt vor allem die Sponsoren beider Parteien sein, welche den Druck auf das Parlament erhöhen, damit eine Lösung gefunden wird. Ein Theater im Theater, sozusagen.

Daneben tröpfeln jetzt bei den US-Republikaner:innen nach und nach die Kandidaturen für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr ein. Neben der ehemaligen Uno-Botschafterin Nikki Haley hat sich Tim Scott angemeldet. Er ist der einzige republikanische Senator mit schwarzer Hautfarbe, was seine Chancen für die Wahl zum offiziellen Kandidaten der Partei auch schon festlegt: Sie sind gleich null, seine Bewerbung reine Folklore. Ein Schwarzer oder, wie im Fall von Nikki Haley, eine Frau, wo kämen wir denn da hin? Nein, Trump wird es sein, falls die Gerichte nicht zum Schluss kommen, dass er gar nicht zur Wahl zugelassen wird; der aussichtsreichste Gegenkandidat ist Ron de Santis, und sie gehen mir beide derart auf den Keks, dass ich gar nicht darüber sprechen mag, und angesichts dieses unsäglichen Angebots habe ich nicht einmal Lust, mich über Gebühr über den auseinander fallenden Joe Biden lustig zu machen.

Der G7-Gipfel hat weitere Sanktionen gegen Russland beschlossen. Es handelt sich um die x-te Verschärfung dieser Sanktionen. Ich frage mich, wie weit man da noch gehen kann beziehungs­weise wie es denn um die anfänglichen Sanktionen bestellt war, wenn man die nach Belieben weiter verschärfen kann. Übrigens steht neben der Verschärfung immer wieder die Forderung im Raum, dass Russland den Export ukrainischen Getreides über das Schwarzmeer zulassen müsse. Auch das passt nicht zusammen, wie überhaupt fast nichts zusammenpasst in dieser Geschichte; das ist möglicherweise typisch für den Krieg insgesamt. Jedenfalls haben sich die G7-Staatschefs nicht nur in Hiroshima getroffen und der Bombenabwürfe durch die US-Amerikaner in der letzten Phase des Krieges gedacht, sondern sie haben sich offenbar auch darauf geeinigt, dass Japan jetzt wieder aufrüsten soll, im Rahmen des allgemeinen und normalen Rüstungswettlaufes, der nicht direkt in einen Krieg mündet, weil dieser Krieg bereits im Gang ist, sondern in einer möglichen Variante der Kriegsphysik eben wieder in den Abwurf von einer oder zweien Atombomben auf irgendeine schöne Stadt, diesmal wird es wohl nicht gerade in Japan sein. Jedenfalls steht der Ukrainekrieg ständig unter dem Vorzeichen der nuklearen Bedrohung. Die direkte Einmischung der Nato ins Kriegsgeschehen spielt dabei offiziell eine wichtige Rolle, und wenn Russland die ständige Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine nicht durch die Nato an und für sich, aber doch durch sämtliche Natostaaten als eine Form der Einmischung der Nato betrachtet, ist das nicht unverständlich, einmal abgesehen von der Tatsache, dass die ukrainische Armee sowieso in den letzten paar Jahren von der Nato auf Vordermann gebracht worden war. Ich staune nach wie vor darüber, wie effizient sich die ukrainischen Kräfte gegen das russische Militär wehren, ganz abgesehen von der umfassenden logistischen und waffentechnischen Unterstützung durch – naja, eben diese Nato beziehungsweise ihre Mitgliedländer. Aber kämpfen müssen an der Front immer noch die ukrainischen Soldaten, und die schlagen sich ausgezeichnet.

Nach der Türkei haben sich die konservativen Kräfte auch bei den Wahlen in Griechenland durchgesetzt, wobei die Kandidaten in beiden Fällen Wohltaten für die schwächeren Schichten der Gesellschaft in Aussicht gestellt haben, also sozialdemokratische Programme vorgestellt haben. Anders gewinnt man nicht mal mehr in der Türkei die Wahlen, während man gedacht hätte, dass in Griechenland die verschiedenen Skandale und Unglücke doch mehr Wähler:innen von der Neuen Demokratie ferngehalten hätten, als dies dann tatsächlich der Fall war. Naja, das wird nicht immer so bleiben, aber auf absehbare Zukunft bleiben werden sozialdemokratische Programme in der Politik. – Übrigens muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich die italienische Regierungs­chefin Meloni am Fernsehen ziemlich glaubhaft fand, als sie die Überschwemmungsgebiete in der Emilia Romagna besuchte. Vielleicht lag es daran, dass sie radikal darauf verzichtete, sich so richtig fesch herzumachen und entgegen ihren sonstigen Auftritten ungeschminkt mit nach hinten gebundenem Haar und Kopftuch durch die Fluten zu waten und Hände zu schütteln. Ich weiß, dass das keine besonders starken antifaschistischen Argumente sind, aber irgendwie fühle ich mich bestärkt in meiner Vermutung, dass die Meloni eben nur eine Schein-Faschistin ist und ansonsten genauso eine sozialdemokratische Politik betreibt wie alle anderen Verantwortlichen ebenfalls, selbstverständlich nicht zuletzt deshalb, weil sie radikal darauf verzichtet, die Hand, welche sie beziehungsweise den italienischen Staat füttert, zu beißen. Das unterscheidet sie sehr stark von ihrem Mitkämpfer Salvini von der Lega, dem ich zwar nicht den Faschisten, aber doch den rechtsextremen Trottel gebe. Davon habe ich bei der Meloni, abgesehen von gewissen rhetorischen Glanzlichtern, in letzter Zeit kaum etwas bemerkt.

Dafür habe ich gelesen, dass Euer Arbeitsminister Hubertus Heil sich demnächst im Gefolge von Annalena Baerbock auf eine Reise nach Brasilien begibt, wo er Personal für das deutsche Gesundheitswesen rekrutieren will, das in Deutschland fehlt, trotz der Zugänge aus Polen, zum Teil wegen der Abgänge in die Schweiz, welche sich massiv auf dem deutschen Arbeitsmarkt bedient. Heil versichert dabei, dass er nur Arbeitskräfte abwerben will, die sonst auf dem Markt in den Ursprungsländern keine Chance hätten. Das muss er natürlich sagen, um die Brasilianer:innen nicht zu ärgern. Ähnliche Programme sind für Indonesien und Mexiko geplant, während es mit den Albaner:innen offenbar nicht mehr so rund läuft, nachdem sich der albanische Premierminister Edi Rama gegen die massive Abwanderung des albanischen Gesundheitspersonals nach Deutschland beschwert hatte. Insgesamt tritt ein neues Gesicht der demografischen Veränderungen an den Tag, welche von der identitären Rechten gerne als Umvolkung bezeichnet wird: Die stetige Verlängerung der Lebensdauer der Eingeborenen, also der eingeborenen Deutschen führt zu einem Anstieg ihres Anteils an der Bevölkerung, wodurch die nachstoßende Landjugend nicht mehr in der Lage ist, die Bedürfnisse der immer älter werdenden Mitmenschen zu befriedigen. Was im Gesundheitssektor gilt, ist übrigens auch in anderen Sektoren eine Tatsache, nämlich der zunehmende Mangel an Fachkräften, aber hintendrein eben auch von weniger qualifiziertem Personal. Diese Lage führt zu Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, sowohl in Deutschland als eben auch auf dem offenen gesamteuropäischen Arbeitsmarkt, und zu einer Neuausrichtung der Kräftegeometrie. Die jüngsten Streikaktionen in Deutschland sind dafür ein klares Zeichen. Strukturell ist das insofern verblüffend, als nach der kompletten Rationalisierung, Auslagerung und Globalisierung schon länger wieder ein Gegentrend eingesetzt hat. Am besten sichtbar wurde das wohl in der Coronapandemie und eben genau im Gesundheitswesen. Tatsächlich, da arbeiten nach wie vor Menschen, und zwar zum Teil in abnormal hohen Arbeitspensen zu vergleichsweise misslichen Löhnen. Manchmal habe ich den Eindruck, als würde sich die ganze Gesellschaft schütteln und sich daran erinnern, dass sie nicht aus wirtschaftsliberaler Ideologie besteht, sondern aus echten Menschen aus Fleisch und Blut. Das wäre eine schöne Erkenntnis, wenn sie sich auch in die Realität der Arbeitswelt hinein ausdehnen würde. Es wäre eine besonders lustige Volte der kapitalistischen Gesellschaft: plötzlich einmal den Menschen in den Mittelpunkt der Anstrengungen zu stellen, nachdem man ihn jahrelang nur als Kostenfaktor und Störelement in Wirtschaft und Gesellschaft behandelt hat.

Kommentare
25.05.2023 / 17:57 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 25.5.. Vielen Dank !