"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Lewitscharoff

ID 122660
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, alles geht den Bach runter, auch Si­bylle Lewitscharoff ist gestorben, die ich im Übrigen nicht weiter kenne, bloß ihre Figur Pong hat mich beeindruckt beziehungsweise der sprachlich anregende Umgang damit, abgesehen von den Illustrationen von Friedrich Meckerecke, der aber seinerseits vor vier Jahren den Bach runter gegangen ist. Jaja, nichts ist von Dauer oder eben in der kapitalismuskritischen Version: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer.
Audio
11:33 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 16.06.2023 / 06:28

Dateizugriffe: 64

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 16.06.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, alles geht den Bach runter, auch Si­bylle Lewitscharoff ist gestorben, die ich im Übrigen nicht weiter kenne, bloß ihre Figur Pong hat mich beeindruckt beziehungsweise der sprachlich anregende Umgang damit, abgesehen von den Illustrationen von Friedrich Meckerecke, der aber seinerseits vor vier Jahren den Bach runter gegangen ist. Jaja, nichts ist von Dauer oder eben in der kapitalismuskritischen Version: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer.
Nun gut: Die Reichen werden tatsächlich immer reicher, und zwar so reich, dass ihr Reichtum die berühmte Fantastrillionengrenze zum Teil schon überschreitet und tatsächlich die Planung von Eskapaden zum Mars erlaubt, was allerdings nur in 3D vor Augen führt, dass diese Sorte von Reichtum keine irdische Relevanz mehr hat – wer sich jeden Wunsch erfüllen kann, dem gehen bald einmal die Wünsche aus, und damit hat er erst recht abgekackt. Insofern braucht man sich mit den reichen Säcken nicht mehr zu beschäftigen, es sei denn, sie würden ihre Fantastrillionen dazu einsetzen, Wrestlingclowns wie Donald Trump zu unterstützen, aus welchen Gründen auch immer; es gibt aber immer auch die andere Seite von Fantastrillionär:innen, welche gemeinnützige Projekte oder anderweitig der Vernunft und dem Fortschritt dienende Veranstaltungen finanzieren, was die Sache insgesamt ausgleicht, sodass wir uns damit nicht zu beschäftigen brauchen, sondern tatsächlich nur mit irdischen Anliegen, nämlich eben der Frage, ob die Armen tatsächlich immer ärmer werden, und selbst wenn die Antwort lautet: selbstverständlich nicht, so geht es doch nach wie vor darum, die Lebensbedingungen der durchschnittlichen Menschen zu verbessern, bei uns und anderswo und überall auf dem Planeten. Es gibt genug zu tun, und wie man zur Finanzierung all dieser Sachen die Fantastrillionär:innen enteignet, das wüsste ich ganz gerne. Bisher haben wir uns in der Praxis weniger mit der Enteignung, sondern nur mit der Besteuerung befasst, und in dieser Beziehung sind die Fantastrillionär:innen ganz extrem flexibel, das ist leider längstens bekannt, dafür stecken die besonders Wohltätigen die Hälfte ihres Besitzes in karitative Stiftungen, was letztlich ebenfalls ärgerlich ist, unter anderem, weil sie damit die anderen legitimieren, welche nichts derartiges tun und noch mit der Wohltätigkeit Geld verdienen. Oder so ähnlich.

Aber davon wollte ich gar nicht sprechen, sondern von Sibylle Lewitscharoff beziehungsweise eben auch nicht, nicht von ihr, sondern allgemein von den neueren Entwicklungen in der Literatur, die ich leider nur in Ansätzen und ausgesprochen aleatorisch verfolge. Kürzlich habe ich das Buch «Populärer Realismus» eines Moritz Baßler erstanden in der Hoffnung, hier vielleicht nicht die letzten Kapriolen der Literaturtheorie vorzufinden, aber doch einen Überblick über die jüngeren Debatten im Raum der Sprache, der selbstverständlich ziemlich viel mehr umfasst als nur gerade den Realismus. Aber mit dem Titel sind wir sofort bei einem wichtigen Thema, nämlich bei der Popularität, sprich bei den Bestsellerlisten beziehungsweise beim Publikumsgeschmack. Als lupenreiner Demokrat liegt es mir ferne, die Vorlieben der lesenden Bevölkerung auch nur ansatzweise in Frage zu ziehen; anderseits verweisen ja gerade Dinge wie Frau Lewitscharoffs Pong, in dem das Ping immer unüberhörbar mitklingt, darauf, dass man den Raum des Realismus ungestraft verlassen kann – immerhin gibt es auch den magischen Realismus, in dem man Sibylle Lewitscharoff vielleicht eine Kammer zuordnen könnte – und doch anregende, ja sogar aus ästhetischer Sicht gute Ware verfassen kann. Diese wird allerdings im besten Fall Preise aus der Fachwelt einheimsen, aber kaum einmal in die Charts kommen. Da haben wir also den Salat: Einerseits jagt der Zeitgeist halt seine jeweiligen Titel zu Verkaufserfolgen, während anderseits vor allem bei den Spezialistinnen weiterhin die Auffassung besteht, man könne die Qualität von Schriftstücken auch unabhängig vom Absatz beurteilen, vielmehr: man müsse.

Nun ja, es ist so, man muss. Ich nenne als Beispiel die Kategorie Lyrik. Man mag sie mögen oder nicht, in ihrer aktuellen Form oder in einer früheren oder sogar in einer zukünftigen, aber es ist eine Form, welche sich dem Realismus des Erzählens seit Langem verweigert, nachdem sie in der Epen- und später Balladenform als Zwitter zwischen Kunst- und verständlicher Sprache sogar die erste Form von Literatur gewesen war. Heute nicht mehr. Wenn man heute eine Buchhandlung betritt und dort die Lyrik-Abteilung, wird man feststellen, dass es sie schon gar nicht mehr gibt respektive dass die Lyrik durch fünf schmale Titel repräsentiert wird, welche in der Regel eher auf die Über­reste der Schulbildung der Buchhändlerin verweisen als auf eine eigenständige Sparte in der Literatur. Und trotzdem wird im Untergrund eifrig weiter gedichtet, es gibt verschiedene Klein­verlage, die vor allem von lokalen, regionalen und nationalen Fördergelder gespiesen werden oder von privaten Stiftungen und unverdrossen das poetische Schaffen fortführen. Gerne treten diese unterirdischen Netzwerke mit eigenen Pilzkörpern in Literaturzeitschriften ans Licht, die dann zum Beispiel Jenny heißen wie jene der Universität für angewandte Kunst in Wien oder aber Johnny wie jene der Stu­die­renden der Goethe-Universität Frankfurt, aber auch geradeaus Poesiealbum wie jenes des Märkischen Verlags Wilhelmshorst, dessen Lyrikreihe in die DDR zurückreicht und die Elefanten der deutschen Lyrik bringt mit Bertolt Brecht, Heinrich Heine und Eduard Mörike, aber auch Johannes R. Becher, in der gesamtdeutschen Fortsetzung dann aber auch Ror Wolf, Nora Gom­rin­ger oder Christa Reinig. Die Lyrik lebt, aber eben nicht als Massenereignis; auf die Best­sel­ler­listen schaffen es Titel wie der «Schwarm» von Frank Schätzing oder «Die Vermessung der Welt» von Daniel Kehlmann, wobei es sich dabei laut Moritz Baßler in der Regel um Werke handelt, die eine vorgegebene Erwartung befriedigen, nicht zwingend auf der inhaltlichen Ebene, aber doch vom Abspulen her. Baßler vergleicht die Manufaktur solcher Titel mit Fernseh- oder Netflix-Serien, welche die Zuschauerinnen in eine Fantasiewelt versetzen, deren Regeln sie aber sofort erfassen, sofern sie sie nicht bereits kennen und in ein Szenario eintreten, das ihnen wohlbekannt ist. Das habe ich als zentrale Umschreibung eines populären Realismus gelesen.

Baßler elaboriert weiter, über Erzählungen über Genies zum Beispiel, welche die Leser:innen ohne weiteren inhaltlichen Aufwand an der Sphäre des Genialischen teilhaben lassen, ein Absatz befasst sich mit dem «Moderne-Bashing», also dem Miesmachen von modernen literarischen Verfahren im Vergleich eben mit dem ehernen Realismus, dann aber doch mit der Besprechung verschiedener aktueller Heuler im deutschsprachigen Raum, «Stella» von Takis Würger zum Beispiel oder «1000 Serpentinen Angst» von Olivia Wenzel, über Autofiktion und Kalkülromane, was ich hier aber beiseite lasse, da ich in Baßlers Vortrag keine für mich logische theoretische Struktur erkenne. Und genau danach suche ich leider Gottes nun mal immer noch, ich kann nicht anders.

Unabhängig davon muss ich festhalten, dass ich unterdessen geneigt bin, allen Menschen, die ich im öffentlichen Raum dabei erwische, wie sie in einem Buch herum blättern, am liebsten an den Hals springen möchte. Nicht um sie zu erwürgen, sondern um sie zu herzen. Ich habe den Eindruck, dass vor allem die verschiedenen Serienkanäle, aber auch Dinge wie Podcasts dem Lesen mehr geschadet haben als die übelsten Volksschullehrer. Dementsprechend ist Zurückhaltung geboten gegenüber dem, sich in Hitparaden manifestierenden Publikumsgeschmack in der Literatur: Er mag in ästhetischer Hinsicht vollkommen falsch liegen, aber es handelt sich immer noch um ein Lesepublikum, also um Menschen, welche Buchstaben entziffern und die Inhalte in ihrem Kopf logisch zusammensetzen, nicht gemäß dem Imperativ des Bildes. Abgesehen davon, dass man in einem Buch den roten Faden zur Not auch nachverfolgen kann, indem man mal zurückblättert.

Wenn man den Notstand in Betracht zieht, in dem sich das gedruckte Wort schon seit dem Auf­kom­men des Fernsehens befindet, zu dem übrigens zeitgleich die Boulevardblätter entstanden, welche einen auch heute noch weitgehend sprachlos machen, was ein interessanter Nebeneffekt ist von einer Zeitung, wie ich finde; vergegenwärtigt man sich also den Notstand des gedruckten Worts, der sich nun vor allem mit dem Internet, den sozialen Medien und eben den Kanälen wie HBO, Netflix, Disney und so weiter in die ganze Gesellschaft vorgeschoben hat, so hält sich die Literatur ja doch noch relativ anständig. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass man mit einer gewissen Hochachtung rechnen kann, wenn man sich im Bücher-Universum ein kleines bisschen auskennt; und wenn man sich dann gar mit dem beschäftigt, was Baßler in Anlehnung an Umberto Eco beziehungsweise Dwight Macdonald Midcult nennt, dann kann man sich schon fast «von» schreiben. Mit dem Midcult bezeichnet Baßler eine Art, sich in der Literatur mit Themen der sogenannten Hochkultur auseinander zu setzen, ohne dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Thema stattzufinden braucht. Wenn Daniel Kehlmann zum Beispiel in der «Vermessung der Welt» Gauß und Humboldt in Dreck, Mückenschwärmen und Genialität waten lässt, so ist das zweifellos unterhaltsam und flößt mindestens in der Humboldt-Abteilung das wohltuende Gruseln ein, das für die Lektüre auf dem Sofa unerlässlich ist, aber eine Einsicht in die Arbeiten, namentlich von Gauß vermittelt das natürlich nicht. Und trotzdem hat man sich mit ihm beschäftigt, so wie Toni Kroos' Mitspieler in der Juniorenabteilung des FC Wackersbüttel sich bei jedem Match von Real Madrid an ihn erinnern beziehungsweise sich mit ihm brüsten können. Das fördert das Lesen, aber das verständnisvolle Lesen wird damit natürlich nicht geschult.

Zwei Dinge sind mir aber bei der Lektüre des Buches von Baßler sauer aufgestoßen, zum einen die Passagen über Romane, welche das gute Leben beschreiben oder zum Inhalt haben. Als Beispiel dient der Roman «Schimmernder Dunst über Coby County» von Leif Randt, den ich mir gar nicht erst zu Gemüte führe, denn die Beschreibung eines idealen Lebens kann nur misslingen. Sorry, aber dafür ist Literatur nicht da. Schon die Abstecher der großen Klassiker in die elysischen Gefilde taugen nicht mal als Schlafmittel, sie sind lang, langweilig und irrelevant. So verhält es sich auch bei allen anderen Schilderungen eines idealen Zustandes, Lebens oder Landes. Man kann das auch nicht parodieren, es geht einfach nicht. Und das zweite betrifft die Betroffenheitsliteratur, welche Baßler mit zwei, drei Analogieschlüssen ebenfalls zum Midcult schlägt, wenn auch eben nicht im wohltuend gruseligen, sondern im betroffen solidarischen Sinne. Baßler zitiert Olivia Wenzels Roman «1000 Serpentinen Angst» und dort eine Szene mit Neonazis an einem Baggersee, in welcher die Neonazis nicht eine literarische, sondern eine mehr oder weniger politische Funktion haben, das heißt, das Kalkül geht so, dass die Leserin den Text nicht wegen literarischer Qualitäten gut findet, sondern wegen seiner politischen Ausrichtung. Das gibt es ja auch, das hat es schon gegeben und wird es immer geben, aber es sind dann eben politische Texte und nicht oder nur beiläufig oder zufällig literarische.

Naja. Der ganze Titel des Buches lautet «Populärer Realismus – vom International Style gegenwärtigen Erzählens», und im englischen Einsprengsel ist bereits eine Bemerkung enthalten, die Baßler später ausdeutscht, nämlich dass die gesamte Bestseller-Literatur geschrieben ist wie eine Übersetzung oder mindestens wie bereit für eine Übersetzung, und das sagt über das realistische Erzählen doch auch noch etwas aus: sprachliche Eigenheiten sind in diesem Bereich weitgehend weggeschliffen. Hauptsache, es verkauft sich. Und das ist vorderhand auch in Ordnung.