"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Meilensteine

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Manchmal frage ich mich, ob es das jetzt gewesen ist mit dem sozialdemokratischen Jahrhundert. Der Abtritt der beiden Leuchtfiguren, welche die Erde an den Enden ihrer Achse zusammen gehalten haben, Jacinda Ardern in Neuseeland und Sanna Marin in Finnland, lässt diesen Schluss zu, obwohl in Neuseeland weiterhin ein Labour-Politiker regiert, während die neue Regierung in Finnland die Staatsverschuldung senken, die Atomkraft ausbauen und das Einwanderungsrecht verschärfen will, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am vergangenen Freitag schrieb.
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11:01 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.06.2023 / 09:33

Dateizugriffe: 60

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.06.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Manchmal frage ich mich, ob es das jetzt gewesen ist mit dem sozialdemokratischen Jahrhundert. Der Abtritt der beiden Leuchtfiguren, welche die Erde an den Enden ihrer Achse zusammen gehalten haben, Jacinda Ardern in Neuseeland und Sanna Marin in Finnland, lässt diesen Schluss zu, obwohl in Neuseeland weiterhin ein Labour-Politiker regiert, während die neue Regierung in Finnland die Staatsverschuldung senken, die Atomkraft ausbauen und das Einwanderungsrecht verschärfen will, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am vergangenen Freitag schrieb.
Der neue Regierungschef Petteri Orpo ist Chef der konservativen wirtschaftsliberalen Sammlungspartei; er regiert zusammen mit den Christdemokraten sowie den beiden nationalistischen Parteien Wahre Finnen und Schwedische Volkspartei, was mich immerhin zur Bemerkung veranlasst, dass ich mir in der Schweiz eine Regierungsbeteiligung der nationalistischen Österreichischen Volkspartei verbeten möchte. Daneben erwähnt die FAZ noch ein Aktiensparkonto für Neugeborene, für das der Staat jedem Kind die erste Investition zahlen werde, wobei noch unklar sei, wie hoch diese sein wird; ich kann mir den Betrag sehr gut vorstellen bei einer Regierung, welche die Staats­ver­schul­dung senken will. Die Ausgaben werden hauptsächlich bei den Sozial- und Gesundheitsausgaben gekürzt, woran ich halt auch nicht so recht glaube, da auch diese Regierung irgendwann mal wiedergewählt werden will. Auch dass in Finnland Ausländer künftig zur Ausreise gezwungen werden sollen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Ende des bisherigen Arbeits­ver­hält­nisses ein neues gefunden haben, kann ich mir nicht plastisch vorstellen; das bedingt meines Wissens den Verzicht auf die Personenfreizügigkeit, also einen vorgängigen Austritt aus der Europäischen Union, und davon ist dann wieder nicht die Rede. Stattdessen fordert die Regierung von der EU, dass sie von der aktuellen Wiederaufbau-Politik abkehrt und wieder auf ein nachhaltiges Finanzgebaren einschwenkt, wobei selbstverständlich zusätzliche EU-Investitionen willkommen bleiben, soweit Finnland diese als wichtig erachtet. Immerhin müssen die nationalen Interessen Finnlands im Rahmen der EU identifiziert und verteidigt werden.

Ja, dies ist der neue Sound aus den sozialdemokratischen Vorreiterstaaten in Nordeuropa. Schweden wird ebenfalls von einer konservativen Regierung geführt, die von den rechtsnationalistischen Schwedendemokraten unterstützt wird, während die wahren Finnen in Schweden nicht aktiv sind. In Dänemark regiert seit Ende letzten Jahres eine Große Koalition. Bei den Wahlen hatte hier die rechtspopulistische Dänische Volkspartei mehr oder weniger ins Gras gebissen, dafür gewannen an ihrer Stelle die neu gegründeten Dänemarkdemokraten 14 der insgesamt 175 Mandate. Norwegen wird von einer Koalitionsregierung unter Leitung der Sozialdemokraten regiert; hier hatten die Rechtspopulist:innen bei den letzten Wahlen nicht so viel Zulauf, was wohl auch damit zusammen hängt, dass das Land nicht der EU angehört und dass man deswegen keine Ressentiments-Punkte sammeln kann mit antizentralistischem Geschrei und Gefuchtel.

Insgesamt ist aber die Vorhut des sozialdemokratischen Gesellschaftsmodells in Europa, also Skandinavien, eindeutig in die Hände der Konservativen und der Rechten gefallen. In Spanien bereitet sich der Partido Popular darauf vor, zusammen mit der rechtsnationalistischen Vox die Macht zu übernehmen, wobei der Erfolg noch nicht garantiert ist; ein Valencia macht noch kein ganzes Spanien. Die Griechinnen haben vor einem Monaten die Konservativen von Premierminister Mitsotakis bestätigt. Die Meloni in Italien kommt aus der neofaschistischen Ecke, dementiert ihre Herkunft allerdings seit dem Regierungsantritt in der Praxis Tag für Tag; sie erinnert mich an einen Vor-Vorgänger, Gian-Franco Fini, ebenfalls ein Neofaschist, der am Schluss in einer der Regie­rungen des unterdessen dahin geschmolzenen Silvio Berlusconi zum einzigen Leuchtturm wurde, der sich konsequent gegen die Verteufelung von Ausländer:innen und Flüchtlingen einsetzte.

A proposito Berlusconi: Ich war doch erstaunt, als mich die Nachricht seines Todes erreichte, denn ich ging davon aus, dass Wachsfiguren ein ewiges Leben haben. Nun ist er also doch dahin, der erste Clown der modernen Politik, dem später so manche andere nachgeeifert haben, zum Beispiel Donald Trump, der die Clown-Rolle zwar als Wrestling-Charakter ausübt, aber eben doch als Clown, wobei man Trump nicht nachsagen wird, dass er auch nur entfernt so erfolgreich im echten Geschäftsleben war wie Silvio Berlusconi, der das Schmieren und Intrigieren und Geschäftemachen in Italien auf den Punkt beziehungsweise auf die Person beziehungsweise auf den Clown brachte und dessen Fernsehansprachen übrigens zeit seines Lebens eine echte Katastrophe von erschütternder Langweiligkeit waren. Neben Trump nenne ich Boris Johnson, zu dessen Zukunft im Zirkus ich nur mit Sicherheit weiß, dass er sich wieder bewerben wird; aber die Darbietung als solche wird man als Zirkuskritiker wohl mit ungefähr einer acht bewerten, vor allem in den Zeiten des Brexit, als er sich als viel geschmeidigerer Populist erwies als der UKIP-Gründer Nigel Farrage. Johnsons Talent als Geschäftemacher dagegen war und bleibt gleich null. Der letzte in Europa aktive Clown heißt Alexander Vucic und ist Präsident Serbiens, und es könnte sein, dass ausgerechnet im aufs Schwerste in seinem Selbstverständnis beschädigte Serbien eine fundamentale Trendumkehr eingeleitet wird. Dort wird seit sieben Wochen regelmässig und massiv gegen die Regierung und ihre Medien protestiert, gegen eine Lügenpresse, welche im Gegensatz zu den Systemmedien im zivilisierten Europa ganz und gar ohne Anspruch und Ambition auf die Wiedergabe der Realitäten funktioniert und reine, nationalistische Stimmung macht auf allen Ebenen und Kanälen, bis hin zu Reality-Shows, die ich im übrigen nicht kenne, die aber aufgrund der Proteste abgesetzt werden mussten; die Proteste brachen aus nach zwei Amokläufen am 3. und 4. Mai mit 18 Todesopfern, welche die Protestierenden lautstark auf die Gewaltkultur in eben den Medien zurückführen. Als Verantwortliche dafür stellen sie die Regierung an den Pranger. Nicht ohne Wirkung; Vucic hat praktisch umgehend den Vorsitz seiner nationalistischen Partei abgegeben und versprochen, er werde in Zukunft der Präsident aller Serbinnen und Serben sein und nicht nur seiner Parteiangehörigen, was ein etwas sonderbares Licht auf seine bisherige Amtstätigkeit und -führung wirft. Aber wie auch immer: In Serbien wird meines Wissens zum ersten Mal in diesem Ausmaß gegen all das protestiert, was nicht nur die Regierungsmedien, sondern vor allem die angeblich sozialen Medien an Hass und Lügen verbreiten. Belgrad, Novi Sad, Nis, Kragujevac – wenn der Protest gegen die menschenverachtende und antihumanistische Raserei sich von diesen Städten und von diesem Land aus verbreitet im Rest Europas, dann hat sich die Spitze der Avantgarde tatsächlich verschoben, aus Skandinavien in den Balkan, und das kommt für mich ausgesprochen unerwartet.

Selbstverständlich sind es die unerwarteten Dinge im Leben, die es spannend machen. In diesem Sinne interpretiere ich auch den Besuch des saudiarabischen Außenministers in Teheran, welcher einen weiteren Schritt der Entspannung im Verhältnis zwischen Saudiarabien und dem Iran darstellt. Damit zeichnet sich so etwas wie ein Prozess ab, den tatsächlich der Chineserer eingeleitet hat, wer hätte das gedacht, auch dies völlig unerwartet. Dabei gäbe es ohne unerwartete oder untypische Vorkommnisse ja nicht nur kein spannendes Leben, sondern überhaupt keine Geschichte. Es gilt nach wie vor: Alles fließt und ist in ständiger Bewegung, auch wenn man es an der Oberfläche gar nicht sieht.

Das bringt mich wieder zum Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Ich bin mir nicht sicher, ob man dieses jetzt in der Praxis feststellen kann. Vielmehr vermute ich, dass es in eine neue Phase hinüber tritt, und zwar in eine Phase, in welcher sämtliche Parteien eine sozialdemokratische Politik ganz selbstverständlich betreiben. Die ursprünglichen sozialdemokratischen Parteien vermögen da entweder mitzuhalten oder auch nicht, wie zum Beispiel in Frankreich, aber das macht auch keinen Unterschied mehr. Stimmen werden heute im demokratischen Prozess mit anderen Themen geholt, eben nicht zuletzt mit Vucic-ähnlichem Theater, in welchem grundsätzlich tief liegende Schichten im öffentlichen Unterbewusstsein angesprochen werden, die ich unter dem Oberbegriff antizivilisatorisch zusammenfassen möchte. Faustrecht, Lynchjustiz und vor allem die Abscheu vor allem, was aussieht wie ein Funken Intelligenz sind prägende Merkmale davon. Zu dieser Abscheu vor der Intelligenz haben selbstverständlich die Intelligenten in Staat und Gesellschaft ihr Teil beigetragen, indem sie diese Intelligenz bewusst missbraucht haben zur Vernebelung der tatsächlichen Verhältnisse, zum Beispiel, aber auch durch die massenhafte Produktion von Klischees, wie es auf der linken politischen Seite gang und gäbe ist, eine linke Seite, die sich nach wie vor ihrer Vergangenheit mit der kritischen Theorie und all den Bollwerken der Vernunft rühmt, während sie in der politischen Praxis schon längstens alle Grundsätze hat fahren lassen, derer sie sich in ihren Programmen rühmt. So etwas färbt selbstverständlich mit der Zeit auch auf die Wahlergebnisse ab; in dieser Beziehung ist Italien wieder als Protagonistin zu erwähnen, wo die Linke nach verschiedenen Regierungsbeteiligungen nachweislich nichts anderes getan hat, als die persönlichen Bedürfnisse unterschiedlicher Cliquen zu befriedigen, anstatt dass sie jene Reformen vorgenommen hätte, die in Italien möglich gewesen wären. Ich spreche hier noch nicht mal von einer Revolution, weise aber darauf hin, dass die Weigerung, Reformen vorzunehmen, oft unter dem Deckmantel erfolgte, dass es eben keine Revolution sei. Aber dies am Rande.

Im Zeitalter des Überflusses ist es sinnlos, Politik zu machen mit Parteiprogrammen aus den Zeiten des Mangels. Das ist schon mal ein zentrales Prinzip für die Einrichtung einer politischen Bewegung, die sich wieder aus der Erstarrung lösen will, in welche die politische Politik verfallen ist. Im Vordergrund stehen die Bemühungen, das Leben der Menschen zu verbessern, ohne dass die Umwelt dem Überfluss zum Opfer fällt. In engem Zusammenhang damit muss der Bildungsgrad der Gesamtgesellschaft um ein Mehrfaches gesteigert werden. Ein Gradmesser dafür sind ohne Zweifel die Stimmenanteile der rechtspopulistischen, nationalistischen Parteien bei den jeweiligen Wahlen. Zu einem weiteren Gradmesser könnte nun eben Serbien werden. Wenn es dort gelingt, auch nur für einen historisch kurzen Moment die Macht des Populismus und der Boulevardpresse und insgesamt der Social Media in ihrem atavistischen Teil zu brechen, dann haben wir einen Meilenstein in der Geschichte Europas erreicht.

Kommentare
23.06.2023 / 16:57 Ingolf, Radio F.R.E.I., Erfurt
gespielt bei Osmose
Vielen Dank!