"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Liberation

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Es ist wieder mal soweit, die Vorstädte in Frankreich sind in Aufruhr, der Auslöser spielt dabei nur eine Nebenrolle, auch wenn es schon der spezifischen Merkmale bedurfte, um ihn zum Auslöser zu qualifizieren, konkret ein tödlicher Schuss eines Polizisten bei einer Verkehrskontrolle auf einen minderjährigen farbigen Pizzaauslieferer ohne Fahrausweis, zum einen, die reflexhafte Begründung, es sei Notwehr gewesen, weil der Junge die Polizisten habe überfahren wollen...
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11:02 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.07.2023 / 23:18

Dateizugriffe: 97

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.07.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es ist wieder mal soweit, die Vorstädte in Frankreich sind in Aufruhr, der Auslöser spielt dabei nur eine Nebenrolle, auch wenn es schon der spezifischen Merkmale bedurfte, um ihn zum Auslöser zu qualifizieren, konkret ein tödlicher Schuss eines Polizisten bei einer Verkehrskontrolle auf einen minderjährigen farbigen Pizzaauslieferer ohne Fahrausweis, zum einen, die reflexhafte Begründung, es sei Notwehr gewesen, weil der Junge die Polizisten habe überfahren wollen, zum anderen, auch wenn diese Begründung umgehend zurückgezogen wurde, weil es Videoaufnahmen des Mordes gab, leistete sie doch ihren unerlässlichen Beitrag zum Ausbruch der Gewalt.Diese aber ist in den Strukturen der französischen Städte angelegt. Ich habe zu diesem Thema schon im Jahr 2005 folgende Überlegungen angestellt, ich zitiere:
«Jetzt haben sie also gebrannt, die Vorstädte in Frankreich, das ist wirklich erstaunlich, das heißt, erstaunlich ist, dass es erst jetzt so weit gekommen ist, nachdem dieses Desaster mehr oder weniger bereits bei der Anlage dieser Vorstädte vor, was weiß ich, zwanzig oder dreißig Jahren vorgespurt worden war. Konkret lag es wohl weniger bei der Planung der Neubauviertel selber als vielmehr bei der anschließenden Verdrängung der sozialen Realität in den Bidonvilles oder Suburbs. Dass es hier aber gärte, wusste man nicht erst seit Filmen wie «La Haine» oder «Baise-moi». Die Vorstädte in Frankreich sind Zonen, in denen das Faustrecht wieder Einzug gehalten hat, weil sich der Staat oder die Gesellschaft nicht weiter drum gekümmert hat. Französische Vorstadt, das war und ist nichts anderes als die kalte Schulter oder vielmehr der kalte Arsch, den die offizielle Gesellschaft jenen Schichten zeigt, die sie nie geliebt hat und für die sie eben eher pro forma als aus wirklicher Einsicht notdürftig Wohn- und Schlafstätten aus dem Boden stampfte, um sie dann gleich wieder zu vergessen, die Schuldigkeit war getan. Die Ignoranz oder Verachtung der kulturell reinrassigen französischen Mittelschicht, der angeblich überlegenen Zivilisation gegenüber den Ein­wan­de­rerIn­nen, aber auch gegenüber den echt französischen Verlierern war gründlich. Die französische Gesellschaft selber hatte andere Dinge zu tun als sich um die Sitten auf der Straße in den Vorstädten zu kümmern. Die französische Gesellschaft musste dringend ihre Überwindung des Klein­bürger­tums zelebrieren, unter anderem und nicht zuletzt durch die zwanghafte sexuelle Betätigung in allen möglichen Kontexten, Gruppensex am Mittwoch und Samstag, Saso/Maso am Montag und Freitag und so weiter. Die beiden Komponenten gehören leider untrennbar zusammen und werden ergänzt durch die hohe Kunst, die Philosophie als raunendes und pointenhaschendes Gewerbe zu etablieren. Dieses Konglomerat begleitete eine absolut missglückte Verstädterung in Frankreich, die zum Teil ganze Landstriche entvölkerte, während eben im urbanen Raum die soziale Segregation auch eine architektonische Entsprechung fand. Ein Ausdruck davon ist unter anderem die praktisch um­fas­sende Liquidierung des öffentlichen Regionalverkehrs ausserhalb der Städte. Besonders interessant ist dabei die Tatsache, dass es insbesondere die linken bzw. sozialistischen Regierungen in Frank­reich programmatisch versäumt haben, den katastrophalen und wirklich menschenverachtenden Zuständen in den Vorstädten ein Ende zu setzen; sie waren diesbezüglich genau so blind wie die bürgerlichen Regierungen, was korrekterweise heißt, dass sie viel blinder waren, denn im Sozia­lismus wäre ja die Sensibilität für die unteren Schichten und Klassen der Gesellschaft eigentlich vorgezeichnet. Aber mit diesen Immigranten war ja kein Staat zu machen und keine Regierung zu bilden, und mehr interessierte die Sozialisten in Frankreich nicht.»

Hat sich also nichts geändert seither? Dochdoch, eine ganze Menge. Aus den Feuern im Jahr 2005 wuchsen zum Beispiel die verschiedenen islamistischen Attentate, vor allem auf den Club Bataclan und auf die Redaktion des Charlie Hebdo, welche in den Vorstädten fast uneingeschränkt auf Abscheu und Verständnislosigkeit stießen. Es wurden auch finanzielle Mittel in die Verbesserung der Lage in den Vorstädten investiert; ob sie wirklich viel geholfen haben, weiß ich nicht, aber die Anstrengungen sind ebenso vorhanden wie das Problembewusstsein. Leider ist es nie zu einer größeren Kampagne gekommen, eine, bei der Staat gewisse Viertel gerade heraus militärisch besetzt hätte und dann die notwendigen Maßnahmen im architektonischen und sozialen Bereich vollzogen hätte, selbstverständlich unter Wahrung der bürgerlichen Freiheiten der Bewohner:innen. Aber wie auch immer: 2023 ist nicht 2005, abgesehen davon, dass sich nach der Publikation der Leitbroschüre «Empört euch» von Stéphane Hessel diese Empörung bis in die kleinbürgerlichen Kreise der Gesellschaft ausgedehnt hat, am deutlichsten sichtbar mit der Bewegung der Gelbwesten Ende 2018. Die Empörung hat dort zu gewissen Teilen die sexuelle Befreiung abgelöst. Das Voka­bular der Empörung kennen wir selbstverständlich schon von früher her aus dem gewerk­schaft­li­chen und antikapitalistischen Diskurs; seither hat es vor allem bei den patriotisch-nationalistisch-rechtsextremen Kreisen Verbreitung gefunden. Die Praxis der Empörung aber sieht man kaum einmal so deutlich wie jetzt in Frankreich. Die Vorstädte brennen. Auf der Webseite der franzö­si­schen Zeitung «Libération» lautete ein anklagender Titel sogar, dass die Ordnungskräfte in diesen Vorstädten nicht einschreiten, während sie die Champs Elysée um jeden Preis schützen, ein schla­gender Beweis für Klassen- und Rassenjustiz also. Für meine Begriffe geht dabei unter, dass die Vorstädte doch immerhin von den Bewohner:innen dieser Vorstädte selber angezündet worden sind, wenn auch zweifellos nicht von allen zusammen; aber immerhin sind die Interventionen der Sicher­heitskräfte in diesen Gegenden ungleich schwieriger als eben im Zentrum von Paris. Das wollen wir doch auch noch anmerken, ebenso wie die Drohung der Polizeigewerkschaften, dass sie bezie­hungs­weise ihre Mitglieder, also die Polizei, bereit seien, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Das ist auch wieder nicht besonders hilfreich.

In allen Debatten über die Ursachen der Wut in den Vorstädten wird immer wieder der Mangel an Perspektiven erwähnt und das Gefühl, von der Gesellschaft ausgeschlossen und verachtet zu werden. Auch ich habe mich schon in diesem Sinn geäußert. Ganz und gar nicht präsent ist in der ganzen Empörung ein Hauch von Klassenkampf, es sei denn, man nehme das Dauerröhren von Jean-Luc Mélenchon als solchen. Dabei weist Frankreich derart sichtbare Eliten in Wirtschaft und Politik auf wie sonst kaum ein Land. Präsident Macron hat nicht nur das Verdienst, seine Rentenreform durchgedrückt zu haben, sondern auch jenes der Abschaffung der Vermögenssteuer. Die Interessen der Bollorés, Arnault, Pinault und so weiter werden nicht nur von den Lobbys im Parlament, sondern zum Beispiel in Afrika auch direkt von der Regierung und der Fremdenlegion befördert, einmal abgesehen davon, dass sie sich, namentlich die Bollorés, vermittels des Kaufs von Medienunternehmen direkt und unverschämt in die Politik einmischen. Übrigens besitzen laut Forbes Bernard Arnault und Familie 211 Milliarden Dollar, Frau Bettencourt 80 Milliarden, François Pinault 40 Milliarden, Alain und Gerarde Wertheimer zusammen 32 Milliarden, Em­ma­nuel Besnier 22 Milliarden, Nicolas Puech 10 Milliarden und die Geschwister Saadé zusammen ebenfalls 10 Milliarden. Nicht alle sind so dreist wie Vincent Bolloré, der ebenfalls 10 Milliarden Dollar schwer ist. Aber trotzdem – offenbar sind es in Frankreich eben eher die Strukturen als die einzelnen Akteure, welche den Erwartungen vieler Menschen nicht gerecht werden bezie­hungs­weise sie frustrieren, einmal abgesehen davon, dass die Wirtschaft in ihrer globalisierten Form den Klassenkampf im nationalen Rahmen nicht mehr so richtig erlaubt. Genau aus diesem Grund ist das Geschrei der Ununterworfenen Franzosen auch so folgenlos. Trotzdem – eine richtig knackige politische Dimension der ganzen Aufstände ist im Moment nicht ersichtlich, auch wenn man weiß, dass die verschiedenen Zutaten, welche im Topfe des Aufruhrs miteinander reagieren, manchmal durchaus eigenartige Ergebnisse produzieren können. Es wird gemeldet, dass sich vor allem Jugendliche an den Protestaktionen beteiligen – da ist möglicherweise auch die Ablösung der alten Aktivistinnengarde eben vom Schlag des Mélenchon im Gange. Diese sind nach zehn-, zwanzig- und dreißigjährigem erfolglosem Geschrei längstens ihrerseits Teil des Establish­ments geworden . Das wissen sie selber vermutlich ebenso gut wie die jugendlichen Krawallan­tin­nen.

Diese haben vermutlich den zehn Jahre alten Knüller von Stéphane Hessel nicht gelesen und brauchen ihn auch nicht, um die tägliche Erfahrung der Diskriminierung zur Erkenntnis gerinnen zu lassen. Die neue Generation reagiert eher spontan und mit den Mitteln der elektronischen Medien, was aber auch ihrer Reichweite Grenzen setzt. Wenn die Scharmützel mit der Polizei vorbei sind, werden sich die Wogen wieder glätten, und der noch von François Mitterrand eingesetzte Minister für Stadtpolitik wird ein paar salbungsvolle Worte an die Öffentlichkeit richten und zusätzlich genau 75 Millionen Euro zur Verbesserung der Lage in den Vorstädten für sein Budget erhalten. Und wir können bis zum nächsten Ausbruch warten. Mit anderen Worten: Eine politische Lösung ist nicht in Sicht, und somit bleibt die Feststellung, dass wir zuschauen können, wie die französische Ausprägung des Wegs aus der postindustrielle in die wirklich neuzeitliche Gesellschaft Form annimmt. Wie ich immer wieder sage: Die neuzeitliche Geschichte hält nicht nur die notwendigen Güter, sondern eben auch Perspektiven für wirklich alle Teile der Gesellschaft bereit. Es sind vermutlich nicht die Perspektiven, dass die Töchter und Enkeltöchter der Migrantinnen massenweise die französische Fußball-Nationalmannschaft bevölkern werden – dafür müsste man die Spielregeln von Grund auf ändern. Es geht eher um Dinge wie Selbstverwirklichung, die allerdings erst nach Ablegung einer kritischen Prüfung des sogenannten Selbst an die Hand genommen werden darf; es geht um die echte Beteiligung aller Subjekte der Republik an dieser Republik; es geht um Freiheit, um Bildung, um Neugierde, um Genuss und Rausch und auch um Nüchternheit und Einsicht, all diese schönen Dinge, welche sich ein normaler Mensch ganz ohne Zaubertrank leisten kann. Dies sind die Forderungen, die ich eines Tages gerne auch aus den Vorstädten hören möchte, und ich sähe gerne auch Aktivitäten, die konkret in diese Richtung gehen. Aber solange Bildung und Intelligenz in Verruf stehen als Attribute der Eliten und als Instrumente zur Unterdrückung der unteren Schichten, solange wird da nix draus, einmal abgesehen davon, dass der nach wie vor virulente Islamismus genau diese Dinge am meisten hasst. Aber es ist in der Zwischenzeit ein Steckenpferd auch der völkisch-nationalen Rechten geworden, das Denken als solches zu bekämpfen. Da erinnere ich mich an meine Lieblingsfigur, ja geradezu mein Ideal von früher: das war die oder der gebildete Arbeiter:in. Menschen mit Praxiserfahrung und Verantwortung im Leben, die sich damit aber nicht begnügen, sondern die sich anstrengen, um mehr zu sehen und zu verstehen und die sich aus diesem Grund stets weiterbilden. Mindestens im Bereich der beruflichen Weiterbildung ist diese Figur unterdessen gesellschaftlich anerkannt; man muss halt auch sie aktualisieren und wieder um den Bereich der gesellschaftlichen und politischen Weiterbildung bereichern.

Kommentare
07.07.2023 / 17:57 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 7.7.. Vielen Dank !