: Kapitalismus - Geldvermehrung als Daseinszweck (Moneycracy #3)

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Nachdem wir uns in den ersten beiden Podcastfolgen mit der Erfindung des Geldes und seiner Entwertung über Inflation beschäftigt haben, kommen wir diesmal zum Kernelement unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, dem Kapitalismus selbst. Dieser Begriff beschreibt den alles entscheidenden Mechanismus wirtschaftlichen Handelns, den Wunsch, aus bestehendem Kapital mehr Kapital zu machen.
Dieser Vorgang wird in den Wirtschaftswissensschafen Akkumulation, also Anhäufung genannt. Gerade die deutsche Begrifflichkeit beschreibt sehr anschaulich, worum es geht: die Anhäufung von Reichtum, vor allem die Anhäufung von Geld. Denn erst die Erfindung des Geldes ermöglichte, die Eigentumsunterschiede in einer Gesellschaft extrem werden zu lassen. Der reichste deutsche Mensch, Lidl Boss Schwarz, besitzt rund 36 Milliarden, eine Zahl mit 9 Nullen. Er ist damit 50.000 Mal so reich wie ein Durchschnittsmensch unseres Landes.
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29:31 min, 34 MB, mp3
mp3, 162 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 29.07.2023 / 13:51

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Moneycracy
Entstehung

AutorInnen: F. Liberatout und Moneycracy-Team
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 29.07.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Kapitalismus – Kapitalvermehrung als Daseinszweck

Nachdem wir uns in den ersten beiden Podcastfolgen mit der Erfindung des Geldes und seiner Entwertung über Inflation beschäftigt haben, kommen wir diesmal zum Kernelement unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, dem Kapitalismus selbst. Dieser Begriff beschreibt den alles entscheidenden Mechanismus wirtschaftlichen Handelns, den Wunsch, aus bestehendem Kapital mehr Kapital zu machen.
Dieser Vorgang wird in den Wirtschaftswissensschafen Akkumulation, also Anhäufung genannt. Gerade die deutsche Begrifflichkeit beschreibt sehr anschaulich, worum es geht: die Anhäufung von Reichtum, vor allem die Anhäufung von Geld. Denn erst die Erfindung des Geldes ermöglichte, die Eigentumsunterschiede in einer Gesellschaft extrem werden zu lassen. Der reichste deutsche Mensch, Lidl Boss Schwarz, besitzt rund 36 Milliarden, eine Zahl mit 9 Nullen. Er ist damit 50.000 Mal so reich wie ein Durchschnittsmensch unseres Landes.

Aber wie kann ein einzelner Mensch überhaupt so viel Reichtum anhäufen? Nach Marx und Engels ist Arbeit die Quelle allen Reichtums. Wobei diese Erkenntnis schon rund 150 Jahre früher vom Begründer der sogenannten Nationalökonomie, dem Engländer John Locke formuliert wurde. Obwohl der Satz erst mal einleuchtend klingt, irren alle drei berühmten Herren. Denn durch eigene Arbeit wird niemand besonders reich, wie schon der Milliardär David Rockefeller wusste: „Wer den ganzen Tag arbeitet, hat keine Zeit, reich zu werden“.
Die krassen Besitzunterschiede zwischen den Wohlhabenden und NormalbürgerInnen haben mit der individuellen Arbeitsleistung nichts zu tun. Niemand wird annehmen, dass Herr Musk oder Herr Schwarz 50.000 Mal so viel arbeitet wie du oder ich.
Aber wie werden die 2300 Milliardäre dieser Welt so reich, wenn es auf ihrer eigenen Arbeit nicht beruhen kann ? Dieser unvorstellbare Reichtum Einzelner beruht auf der Tatsache, dass unser Wirtschaftssystem Regeln enthält, die dazu führen, dass aus Besitz quasi automatisch mehr Besitz wird. Man könnte es grob mit der Gravitation in der Naturwissenschaft vergleichen: wenn unterschiedlich große Teilchen durch einen begrenzten Raum schweben, dann werden durch die Anziehungskräfte die großen Teile immer größer. In diesem Sinne zieht bestehenden Besitz beständig neuen Besitz an. Aber wie funktioniert das? Das wollen wir uns jetzt ansehen:

Wir hatten dem Geld innewohnenden Fähigkeit, aus sich selbst mehr Geld zu generieren, bereits in einer früheren Podcastfolge erörtert. Geld ist das universelle Machtinstrument, es ermöglicht auf allen Ebenen Prozesse in Bewegung zu setzen, Menschen zu kontrollieren, Gebiete zu erobern und zu beherrschen oder auch das eigene Leben angenehm zu gestalten. Daher besteht ein universeller Bedarf an Geld. Wer etwas tun möchte, aber nicht genug Geld hat, muss es sich leihen. Dafür fällt aber eine Gebühr an, der sogenannte Zins.
Eine solche Gebühr für die zeitweise Überlassung einer Sache gab es bereits vor der Geldwirtschaft.
HörerInnen früherer Podcastfolgen kennen schon die fiktive Insel Merkatolos, auf der die Menschen wirtschaftlich und politisch frei ihren Interessen nachgehen. Die InselbewohnerInnen benutzen ein Naturalgeld, in diesem Fall Muschelgeld, was tatsächlich im Wesentlichen dazu dient, Tauschgeschäfte zu vereinfachen. Aber auch hier gibt es Zinsgeschäfte. Beispielsweise kann das Boot eines Fischers in einem Sturm zerstört werden. Ein anderer Fischer hat ein gebrochenes Bein und kann nicht ausfahren. Er stellt sein Boot dem anderen zur Verfügung und verlangt dafür eine Gebühr, beispielsweise in Form von einigen Fischen pro Woche. Auf diese Weise entstehen ebenfalls gewisse Besitzunterschiede, die jedoch insgesamt in überschaubarem Rahmen bleiben.
In ähnlicher Form gab es in nahezu allen frühen Kulturen bereits eine Art Zins für die Überlassung von Weideland, Werkzeugen oder anderen Produktivgütern. In der Regel wurde der Zins in Naturalien beglichen.
Das gleiche Zinsprinzip auf das universelle und dauerhafte Machtmittel Geld angewendet, führte jedoch zu viel größeren Besitzunterschieden und der Herausbildung einer ganz neuen Klasse von Menschen, den KapitalistInnen. Sie verfügten über so viel Geld, dass sie selbst nicht mehr arbeiten müssen, sondern „das Geld für sich arbeiten lassen“. KapitaleignerInnen wurden ohne eigene Anstrengung reicher und reicher.
Dies wurde schon früh als ungerecht, ja als wider die Natur empfunden:
Der bedeutende antike Philosoph Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende:
„Daher wird mit allergrößter Berechtigung eine dritte Form der Erwerbstätigkeit, der Geldverleih gegen Zinsen, gehasst; denn dabei stammt der Gewinn aus dem Münzgeld selber, nicht aus der Verwendung, für die es geschaffen wurde, denn es entstand zur Erleichterung des Tauschhandels. Zins aber ist Geld gezeugt von Geld. Daher ist auch diese Form von Erwerb am meisten wider die Natur.“
Es war nicht die erste, aber wahrscheinlich die pointierteste antike Kritik an der Zinswirtschaft. Fast 2000 Jahre später hört sich das beim Reformator Martin Luther so an:
„Aber das größte Unglück für die deutsche Nation ist gewiss das Kreditwesen. Es besteht nicht viel länger als 100 Jahre und hat schon fast alle Fürsten, Stifte, Städte, Adel und Erben in Armut, Jammer und Verderben gebracht. Hier müsste man wahrlich auch den Fuggern und dergleichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen.“
Luther sorgt sich in seiner Kritik am Kreditwesen besonders um die Fürsten, Stifte und den Adel, und trifft die damalige Problematik genau. Die unteren Schichten, die Luther unabhängig von unserer konkreten Fragestellung ohnehin nicht interessierten, konnten keine Kredite aufnehmen. Die Herrschenden hatten sich allerdings bereits seit Jahrhunderten daran gewöhnt, ihre Herrschaft mit geliehenem Geld aufrechtzuerhalten. Eine derartige Konstellation führte unausweichlich dazu, dass die Kreditgeber bald ebenfalls an die Schaltstellen der Macht kamen.
Das bekannteste Beispiel in unserer Kultur sind die Medici. Die aus unbedeutendem Kleinadel stammende Familie gründete 1397 in Florenz eine eigene Bank, was sich, wie durch alle Zeitalter bis heute, als äußerst lukrativ erwies. Geld arbeitet viel effektiver, als das 100 oder auch 1000 Menschen je könnte. Bereits 30 Jahre später sind die Medici die zweitreichste Familie der Stadt. Da Florenz damals eine führende Stadt in Europa war, gehörten die Medici nach wenigen Jahrzehnten zu den reichsten und mächtigsten Menschen des Kontinents.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass ihre Gegner im Kampf um die Macht sehr gut erkannten, dass die entscheidende Ressource der Medici ihre Bank war. Um diese vor Angriffen zu schützen, führten die Medici ihre Geldgeschäfte bereits ab 1496 unter Tarnadressen im Geheimen und waren für fast ein weiteres Jahrhundert inkognito die stärkste Finanzmacht der Welt. Weiterer Funfact: der Begriff Bank kommt von dem Tisch des Geldwechslers, italienisch Banco. Mehr als solch einen Tisch, etwas Startkapital und Geschick im Ausnutzen der kapitalistischen Grundgegebenheiten brauchten die Medici und ihre zahlreichen Kollegen nicht. Ab der frühen Neuzeit wurde es zur Regel, dass die Herrschenden ihre Herrschaft über Kredite finanzierten. Die Geldverleiher, zunächst nach ihrer Norditalienischen Herkunft Lombarden genannt, verdienten sich mit dem Geldbedarf der Fürsten eine goldene Nase.
Aber bald wussten auch die deutschen Händler und Geldverleiher, wie das Spiel funktioniert und beispielsweise die Fugger in Augsburg machten eine ähnlich steile Karriere, in dem sie Könige und Kaiser finanzierten.
Bis dahin war Landbesitz die einzig bedeutende Quelle von Reichtum gewesen. Der Adel hatte den Boden unter sich aufgeteilt und lebte von dem Zins, den das Land und die darauf zwangsweise arbeitenden Bauern abwarfen. Die Geldgeschäfte und das Kreditwesen liefen ab dem 15. Jahrhundert dem Landbesitz jedoch den locker den Rang ab. Durch Einsatz von Geld reich zu werden, erwies sich als vielfach effektiver und der Geldadel überholte die sich auf Blutlinien berufenden Adelsgeschlechter. Die Durchschlagskraft des Finanzwesens war dabei eng verknüpft mit der Einführung neuer Geldmodelle, wie dem Papiergeld und den Schuldverschreibungen, was ihr in Podcast 2 genauer nachhören könnt.
An dieser Stelle soll noch mit einem verbreiteten Irrtum aufgeräumt werden: nein es waren nicht vor allem jüdische Menschen, die an dieser sich immer weiter entwickelnden Form des Geldverdienens ohne Arbeit bereicherten. Weder die Medici noch die Fugger noch andere Finanzgrößen der frühen Neuzeit waren Juden. Das Zinsverbot des Alten Testaments hatte es nur sehr halblebig ins christliche Abendland geschafft, weil der Geldbedarf der Herrschenden nun einmal befriedigt werden wollte. Selbst die Päpste und der Vatikan mischten durch Banken früh beim Geldvermehren durch Geldverleih mit und waren selbst auch große Schuldner und ermöglichten beispielsweise unter anderem den Aufstieg der Medici. Ein effektiv durchgesetztes Zinsverbot gab es daher im christlichen Abendland nie. Die von Karl dem Großen um das Jahr 1000 ins weltliche Recht eingeführten Zinsvorschriften entsprachen im Wesentlichen dem in vielen Kulturen existierenden Wucherverbot. Fast überall in der Kulturgeschichte finden sich Zinsobergrenzen, deren Überschreitung als unmoralisch angesehen wurden. Was innerhalb dieser Regeln dennoch erlaubt war, ermöglichte die wundersame Vermehrung des eigenen Reichtums sehr effektiv und daran beteiligten sich die Kapitaleigner aller Religionen. Der Topos des jüdischen Geldverleihers beruht wohl vor allem auf der geschichtlichen Erfahrung, dass die Kleinkreditgeber vor Ort, also das, was heute die lokale Sparkasse übernimmt, innerhalb der Spätmittelalterlichen Standesordnung tatsächlich oft Juden waren. Aber schon im 16. Jahrhundert, also genau ab dem Zeitraum, wo die Herrschaft des Geldes in völlig neue Dimensionen abhob, wurde die Zinsvorschriften auch für Christen offiziell aufgehoben. Solche Einschränkungen widersprach den vitalen Interessen der Herrschenden wie der neuen Geldelite.

Zunächst war also der Geldverleih und der damit verbundene Gewinn über Zins und Zinseszins der grundlegende Mechanismus der Geldvermehrung. Beginnend mit der Renaissance entwickelten sich jedoch rasch weitere Möglichkeiten über völlig neuartige Finanzgeschäfte. Es begann die Zeit der Entdeckungen und des Handels. Ein Handelsschiff auszurüsten kostete viel Geld und es bestand das Risiko, dass es nicht von seiner Fahrt zurückkehrte. Daher war es üblich, dass mehrere Kaufleute diesen Finanzaufwand unter sich aufteilten, wie sie bei Erfolg auch einen entsprechenden Gewinn aufteilten. Diese Verträge, also Anteilsscheine für die Handelsfahrt und ihre Gewinne, konnten in der sich entwickelnden Finanzwelt bald auch selbst verkauft werden. Wenn ein Kaufmann durch unvorhergesehene Ereignisse dringend Geld brauchte, verkaufte er seinen Anteil für das noch auf dem Meer befindliche Schiff an einen anderen.
Mit den Entdeckungen neuer Länder begann das Ausrauben und Kolonialisieren dieser Länder. Auch das war erst mal teuer. Es bildeten sich Handelsgesellschaften mit dem Ziel, ein bestimmtes Gebiet wirtschaftlich auszubeuten. Die bekanntesten dieser Handelsgesellschaften waren die Niederländische Ostindien Kompanie ab 1600 sowie ihr britisches Gegenstück. Hier erwarben die KapitalbesitzerInnen nicht Anteile an einem einzelnen Schiff, sondern an der räuberisch-kolonialen Ausbeutung eines ganzen Landstrichs. Diese Anteile konnten nun bald nach definierten Regeln an sogenannten Börsen gehandelt werden, der ersten entstanden in Amsterdam und London. Zu den Anteilsscheinen an Schiffen und Expeditionen kamen bald Anteile an wirtschaftlichen Unternehmungen jeder Art. Die Unternehmensbeteiligung in Form der Aktie war geboren.
Die grundsätzliche Idee war brillant. Wer zuvor ein Unternehmen gründen wollte, musste sich mühsam Gleichgesinnte suchen, mit denen er zusammen das notwendige Kapital aufbrachte. Wer nach gewisser Zeit sein Geld für anderes benötigte, musste ebenso aufwendig einen Käufer für seinen Anteil suchen. Die Konstruktion der Aktiengesellschaft und des Handels der Aktien an einer Börse vereinfachte die Abläufe erheblich. Menschen mit Kapital konnten relativ einfach Anteile an Unternehmen erwerben und bekamen entsprechend ihren Anteil am jährlichen Gewinn des Unternehmens, Dividende genannt, weil der entstandene Gewinn durch die Anteilseigner dividiert wurde. Bei Bedarf ließ sich der Anteil wieder verkaufen, wenn das Unternehmen sich gut entwickelt hatte, zu einem höheren Preis als beim Kauf, denn da der Wert des Unternehmens sich erhöht hatte, galt das auch für den jeweiligen Anteil.
Der Käufer einer Aktie verdiente also auf zwei Arten: erstens durch seinen jährlichen Gewinnanteil und zweitens dadurch, dass bei sich positiv entwickelnden Unternehmen, der Wert des Unternehmens und damit seines Anteils stieg.
Bei solch guten Gewinnaussichten finanzierten die KapitaleingnerInnen ab dem 17. Jahrhundert nicht mehr primär Fürstenhöfe, sondern wirtschaftliche Unternehmungen. Dies warf viel mehr Gewinn ab, als eine sich in ihrer Dekadenz selbst genügende Adelriege.
Gleichzeitig puschten die Aktienbeteiligung die Unternehmens- und Wirtschaftsentwicklung in bislang nicht gekannter Weise. Während der Industrialisierung finanzierten Aktiengesellschaften nicht mehr Eroberungsabenteuer in fremden Kontinenten, sondern Eisenbahngesellschaften, Stahlwerke, Brücken oder Minen. Die Finanzelite hatte die Macht im Staat übernommen, auch wenn in Europa die Adligen noch folkloristisch auf ihren Gütern saßen und ein König als Grüßaugust das formale Staatsoberhaupt spielte.
Das kapitalistische Zeitalter trat in seine Hochphase ein. Da es am Anfang so gut wie keine Kontrollen und Regeln für die Kapitalkumulation, also die Anhäufung von Reichtum gab, entstanden oft innerhalb weniger Jahre gigantische Vermögen. Allerdings, und das sei hier betont, beruhte ein großer Teil dieses Reichtums auf Ausbeutung der Mitmenschen, der Zerstörung der Natur und der Vernichtung natürlicher Ressourcen. Hierin unterschieden sich die neuen Herrscher der Welt, die KapitalbesitzerInnen, nicht von Ihren adligen Vorgängern – ihnen standen nur wesentlich bessere Möglichkeiten zur Verfügung, weshalb sowohl Vermögenszuwachs als auch Zerstörung wesentlich dramatischer ausfielen.

Die Möglichkeiten, Geld ohne Arbeit oder Produktion zu vermehren, sind seither weiter gewachsen und im zwanzigsten Jahrhundert geradezu explodiert. Wie im Podcast über Inflation ausgeführt, ist die Welt ab den späten siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Phase des sogenannten Finanzmarktkapitalismus eingetreten. Da eine weitere rasante Entwicklung der Realwirtschaft nicht mehr zu erwarten war, mussten neue Wege gefunden werden, um aus Geld, mehr Geld zu machen.
Ähnlich wie bei der Papiergeldrevolution wurden völlig neue Werte definiert. Immer neue Finanzprodukte, deren Konstruktion nicht einmal die Banker selbst verstanden, erlaubten aus praktisch nichts, Geld zu machen.
Das beste aktuelle Beispiel sind die Spekulationen auf Cryptowährungen, welche viele Hunderte Milliarden Dollar umfassen. Ein Bitcoin, um die bekannteste Cryptowährung herauszugreifen, ist eine völlig sinnfreie Zeichenkette, mit der niemand irgendetwas anfangen kann. Dennoch war solch eine Zeichenkette zeitweise mehr als 50.000 Dollar wert, also mehr als viele von uns im Jahr mit unserer Arbeit verdienen. Die magische Geldvermehrung beruht auf der Spekulation auf steigenden oder auch fallende Kurse. Das Objekt der Spekulation ist dabei gleichgültig und es braucht auch keinen inneren Wert aufweisen. Statt auf Bitcoin könnte die Spekulation auch auf rosa Klopapierrollen aus der Nachkriegszeit oder Lockenwickler aus Nordkorea erfolgen. Das wäre gleichzeitig viel umweltfreundlicher und ressourcenschonder als der Bitcoin-Schwachsinn, der pro Jahr soviel Energie wie die Schweiz verbraucht und die Erderwärmung anheizt. Alles taugt zum Spekulationsobjekt, solange es selten genug ist und die Finanzjongleure dieses Spielobjekt für sich entdecken.
Auch der normale Aktienmarkt ist mittlerweile von kurzfristigen Spekulationen und obskuren Finanzprodukten auf Aktien geprägt. Die ursprüngliche Idee, sich Anteile an einem soliden und aussichtsreichen Unternehmen und damit an seinen Gewinnen zu sichern, ist nur noch ein unbedeutender Nebenaspekt.

Der Finanzmarktkapitalismus der letzten 4 Jahrzehnte hat weitgehend den realen Sach- und Wertbezug verlassen. Der bereits erwähnte Karl Marx hat sich seinerzeit viele Gedanken darüber gemacht, wie der Wert eines Gegenstands zu bemessen sei. Da er Materialist war, glaubte er, den „eigentlichen Wert“ einer Sache über die darin steckende Arbeit, die aufgewendeten Ressourcen und den möglichen Nutzen festlegen zu können. Er übersah bei seinen aufwendigen Überlegungen, dass in einer kapitalistischen Geldwirtschaft der Wert stets erst durch das Marktgeschehen selbst festgelegt wird. Ein Beispiel: eine 85 Cent Briefmarke ist zunächst gut definiert 85 Cent wert, in vielen Ländern kann so eine Briefmarke sogar als Geldersatz genutzt werden oder gegen den Nennwert eingetauscht werden. Soweit so, so einleuchtend. Der Gebrauchswert besteht darin, dass ich damit einen Brief in jede Ecke unseres Landes transportieren lassen kann.
Was ist aber mit einer alten blauen Briefmarke, die auf 2 Penny einer alten Währung lautet und mit der kein Brief mehr befördert werden kann, weil es die zuständige Post nicht mehr existiert? Nach materialistischer Ansicht wäre der Wert maximal zwei Cent, eher weniger. Dennoch werden für die blauen Marken aus der ehemaligen Kolonie Mauritius seit Jahrzehnten Beträge gezahlt, die in die Hunderttausende bis Millionen Euro gehen. Sie sind seit über 100 Jahren ein gutes Investment, weil ihr Wert beständig steigt und jede Marke seit langem jederzeit gegen eine Villa in guter Lage eingetauscht werden kann. Den von Marx postulierten „inneren Wert“ gibt es nicht, er wird immer erst durch eine konkrete Marktaktion festgelegt. Unter anderem deswegen mussten kommunistische Regime den freien Markt verbieten und die Preise festsetzen. Dort war die gültige Briefmarke eben 85 Cent wert, die ungültige gar nichts und damit Schluss. Was in der Briefmarkenfrage noch hinnehmbar ist, hat für die gesamtwirtschaftlichen Prozesse große Nachteile, weshalb real existierende kommunistische Gesellschaften stets Mangelwirtschaften waren. Wir betrachten das in einem späteren Podcast genauer.
Der immense Wert einer nutzlosen alten Briefmarke verdeutlicht allerdings, dass den Spekulationsobjekten in einer Marktwirtschaft wenig Grenzen gesetzt sind. Die Geld- bzw. Reichstumsvermehrung ohne eigene Arbeit ist auf vielfältigen Wegen möglich – mit eigener Arbeit, wie von Herrn Marx empfohlen, klappt es leider im bestehenden System meist nicht.
Wenn es nicht um individuellen Reichtum, sondern den Wohlstand einer ganzen Gesellschaft geht, wird es schwierig, diesen überhaupt zu messen. Den aktuellen Kontostand der Bundesrepublik Deutschland gibt es nicht – was wir kennen, sind die Staatsschulden, sie steigen rasant und liegen aktuell bei 2320 Milliarden Euro. Wir müssten also rund 60 Lidl-Chefs enteignen, um all unsere öffentlichen Schulden zu bezahlen. Aber der Schuldenstands des Staates sagt wie die Anzahl der Multimilliardäre gar nicht so viel über den Wohlstand in einer Gesellschaft aus. Wie man sich dem kollektiven Wohlstand dennoch nähern kann und was die gerne bemühte Wirtschaftskennzahl Bruttosozialprodukt wirklich aussagt, erfahrt ihr im nächsten Podcast.
Bis dahin verabschiedet sich euer Moneycracy-Team.

Kommentare
01.08.2023 / 17:57 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 1.8.. Vielen Dank !