"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Indie und so

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Hab ich mich doch eben noch über das koschere Löffelchen von Frau Wiehießsiedochnochstan, der Schwester des englischen Premierministers lustig gemacht, deren Löffelchen in seiner ganzen Klein­heit als Symbol der indischen Kastengesellschaft interpretiert wurde, also mindestens von kriti­schen Zeitgeistern wie eben zum Beispiel ich, einmal abgesehen von meinen Tiraden der Anti­pathie gegen den nationalhinduistischen Premierminister Modi.
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11:23 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.09.2023 / 22:24

Dateizugriffe: 64

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.09.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Hab ich mich doch eben noch über das koschere Löffelchen von Frau Wiehießsiedochnochstan, der Schwester des englischen Premierministers lustig gemacht, deren Löffelchen in seiner ganzen Klein­heit als Symbol der indischen Kastengesellschaft interpretiert wurde, also mindestens von kriti­schen Zeitgeistern wie eben zum Beispiel ich, einmal abgesehen von meinen Tiraden der Anti­pathie gegen den nationalhinduistischen Premierminister Modi.
Und dann häckselt mir die Weltbank Goldman Sachs eine Studie herein, welche prognostiziert, dass Indien im Jahr 2075 die zweitgrößte Wirtschaftsmacht auf der Welt sein wird mit einem Bruttoinlandprodukt von 52.5 Billionen Dollar. An erster Stelle liegt nach dieser Studie in 50 Jahren China mit einem BIP von 57 Billionen; für die USA hat Goldman Sachs noch 51.5 Billionen errechnet, und die Eurozone erwirtschaftet knapp 30 Billionen. Selbstverständlich bildet nicht die reine Bevölkerungsmenge die Grundlage für solche Erfolge, sondern es kömmt auch darauf an, diese Bevölkerung so auszubilden, dass sie auch in Zukunft für eine echte Wertschöpfung, für den anständigen Dienst am Bruttoin­land­produkt fähig ist, und dies scheint in Indien tatsächlich der Fall zu sein. Allen Unken- oder Kassandrarufen zum Trotz und bei weiterhin kastenhaltigen oder kastenlastigen Sozialstrukturen – irgendwie scheint auch eine ansehnliche Menge von Nichtbrahmanen zu ordentlichen Fachleuten heranzuwachsen. Sonst hätte das indische BIP nicht schon im letzten Jahr um 7.2% zulegen können; für dieses Jahr rechnet man mit 6%. So ganz richtig toll ist aber noch nicht alles; das Durchschnittseinkommen pro Kopf beträgt 2600 Dollar pro Jahr, was auch ein Maßstab für die potenzielle Wertschöpfung ist; da muss der Inder nochmals hinter die Bücher und vielleicht auch mal die Inderin ran lassen, welche bis jetzt nur gerade zu einem Fünftel der gesamten weiblichen Bevölkerung überhaupt den Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden hat. In China beträgt das Durchschnittseinkommen übrigens unter­des­sen 13'600 Dollar, und für die USA werden im Artikel des italienischen Espresso, dem ich diese Zahlen entnehme, sogar 80'000 Dollar angegeben – da hält allerdings die CIA mit ihrem Factbook dagegen und weist für die Vereinigten Staaten nicht einen Durchschnittslohn, sondern ein Brutto­inland­produkt von 16'000 Dollar weniger, nämlich 63'700 Dollar pro Kopf aus, und zwar im Jahr 2021. Das Magazin Forbes errechnet für das Jahr 2023 einen Durchschnittslohn von knapp 60'000 Dollar für eine Vollzeitstelle. Auch nicht schlecht! Wenn Bruttoinlandprodukt und Durchschnitts­lohn praktisch identisch sind, heißt das nichts anderes, als dass maximal die Hälfte der US-ameri­kanischen Bevölkerung berufstätig ist und von dieser Hälfte nochmals die Hälfte für die Hälfte arbeitet, also für 30'000 Dollar im Jahr, sonst hätten ja Unternehmensgewinne und Managersaläre gar keinen Platz in diesem BIP.

Für Deutschland weist das CIA Fact Book für das Jahr 2021 ein Bruttoinlandprodukt pro Kopf von 53'200 Dollar aus. Den Durchschnittslohn für Vollzeit-Arbeitnehmende entnehme ich zur Abwechslung der Webseite absolventa.de, welche für das Jahr 2022 4105 Euro pro Monat beziehungsweise gut 50'000 Euro im Jahr angibt. Auch hier haben wir fast die Parität zwischen BIP pro Kopf und Durchschnittsgehalt erreicht, wobei das CIA Fact Book die Beschäftigtenzahl für Deutschland im Jahr 2021 mit 44 Millionen angibt, also wie zuvor angenommen gut die Hälfte der Bevölkerung, denn auch in Deutschland muss es ja für die Reichen und Superreichen auch etwas zu futtern geben. Aber dies nebenbei.

Indien dagegen muss sich in Sachen Durchschnittslohn sputen, wenn es die erwähnten nicht Klima-, sondern Wirtschaftsziele erreichen will. Ohne Binnenkonsum geht das nicht, wie das Beispiel China zeigt, und Binnenkonsum nimmt man nicht mit einem reinen Löffelchen zu sich, sondern Binnen­konsum heißt Kaufkraft für die gesamte Bevölkerung. Man kann dem Kapitalismus vorwerfen, was man will, aber dieser Kaufkrafttrick ist doch eine der schönen Seiten an diesem System. So gese­hen, was es recht symbolkräftig, dass der indische Supernationalisten-Präsident seine Gäste vom G20-Gipfel zum Abschluss noch an das Grabmal von Mahatma Gandhi führte. Gandhi gilt ja als der große Gleichmacher, und das wird für Indien das wichtigste Thema bleiben neben der wirt­schaft­lichen Entwicklung, welche es dann doch zuerst auf der Erde realisieren muss und nicht auf dem Mond, wie man dies nach dem Erfolg der indischen Mondmission annehmen könnte. Unabhängig davon zeigt sich Modis Supernationalismus in einem etwas anderen Licht, wenn man die rein aus den Größenordnungen entstehenden Ambitionen des Landes in Betracht zieht. Möglicherweise ist der Nationalismus in dieser Phase ein angemesseneres Mittel, diesen Supertanker zu steuern, als manche andere politische Vorgaben, wobei wir in Europa immer zuerst an die Demokratie auf der Grundlage einer angemessenen Beteiligung der Bevölkerung und ihrer Interessengruppen denken und aus den bekannten Gründen nationalistische Exzesse kategorisch ausschließen beziehungsweise in der Tendenz den Nationalismus selber als Exzess sehen. Indien befindet sich in einer völlig anderen historischen Phase. So, wie sich auch China vor fünfzig Jahren in einer völlig anderen historischen Phase befunden hat, die sich vor vierzig Jahren geändert hat und auch vor zwanzig Jahren, als das Land begann, mit voll ausgebautem Selbstbewusstsein und voll ausgebautem wirtschaftlichen Potenzial am internationalen wirtschaftlichen Wettrüsten teilzunehmen. Überlegungen zu Demokratie und Freiheit spielten dabei keine Rolle, und es ist müssig darüber zu streiten, ob der chinesische Weg zum Erfolg auch unter Einhaltung jener Spielregeln möglich gewesen wäre, die wir uns in den klassischen entwickelten Ländern zu befolgen bemühen.

Wie auch immer. Die Enttäuschung des Wochenendes war die Meldung, dass die ehemalige finnische Präsidentin Sanna Marin sich aus der Politik zurückzieht – das ist nicht die Enttäuschung, dafür habe ich volles Verständnis –, und dass sie eine neue Aufgabe annimmt ausgerechnet beim Tony Blair Institute for Global Change, das ist doch ein dicker Hund. Davon kann auch meine Freundin Michaella Rugwizangoga ein Lied singen, welche ihren kurzen Aufenthalt beim US-Pudel nur noch leise auf ihrem Linked-In-Profil ausweist. Tony Blair sammelt dekorative junge Frauen wie eben ein Pudel seine alten Knochen, welche er dann seinen Pudel-Freunden bei den regelmäßigen Pudel-Zusammenkünften bei Whisky und Zigarren vorführt. Natürlich ist das Theater rund um den Global Change völlig harmlos, von Change kann keine Rede sein, vielmehr aber von vielen Reisen unter dem Kapitel Netzwerke knüpfen und von vielen Tage, Abende und vielleicht auch Nächte füllenden Gesprächen ohne andere Ergebnisse, als dass es gute Gespräche gewesen seien; aber dass sich die betreffenden Figuren derart simpel um den Finger wickeln lassen? Von Michaella Rugwizangoga konnte man das noch erwarten, die hatte man schon früher montiert und aus­ge­wählt, um sie als erste weibliche CEO von VW in Afrika zu präsentieren, um anschließend mit ihr zunächst nicht Tony Blair, sondern Klaus Schwab und sein WEF zu dekorieren, einmal abgesehen davon, dass der ruandische Präsident Paul Kagame noch viel gründlicher dekorations­süch­tig ist und sogar das ruandische Parlament mit einem Frauenanteil von über 60 Prozent ausstattet. Nun gut, das hat vielleicht nicht ausschließlich mit Paul Kagame zu tun, und noch wenn es ausschließlich mit ihm zu tun hätte, wäre es nicht etwas, wofür wir ihn übel schelten und tadeln würden mit Ausnahme des Verdachts, dass da am Schluss eben doch eine Frauenförderung aus reinem männlichem Goodwill heraus stattfindet. Aber eben, immerhin, sie findet statt, und Frau Michaella Rugwizangoga ist mit Sicherheit eine der Figuren, die bei dieser Frauenförderung an prominenter Stelle standen, wobei sie jetzt seit Juni 2022 als Chief Tourism Officer des Rwanda Development Board doch etwas auf dem Abstellgleis zu ruhen scheint – mal sehen. Aber Sanna Marin! Die ist natürlich schon mehr Trophäe als Knochen, und falls sich jetzt auch noch Jacinda Ahern in diesem Institut für globale Veränderungen einfindet, dann bin ich ganz und gar platt.

Ja, auch solche Vorzeigefiguren rutschen halt in ihrem Leben herum, wie es gerade kommt, und eine klare politische Linie einzuhalten ist heute nicht mehr so einfach wie früher. Nur gerade Schreihälse wie der bayrische Vizeministerpräsident Aiwanger oder der italienische stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini sind noch klare Fälle. Salvini hat kürzlich mal ohne jeden äußeren Anlass über chemische Kastration zu brüllen begonnen, und als in Neapel ein 17-jähriger einen Straßenmusiker bei einer Auseinandersetzung um einen Motorradparkplatz einfach so erschossen hat, schrie Salvini ebenfalls Zeter und Mordio und forderte die Herabsetzung des Strafmündig­keits­alters, man könnte sagen, bei ihm ist der Verdauungsprozess umgekehrt, bei ihm kommt die Scheiße einfach aus dem Mund heraus. Wobei das selbstverständlich nicht einfach Scheiße ist, sondern eine Methode, um ein bestimmtes Wähler:innensegment bei der Stange zu halten in der Hoffnung, dass man dieses Segment noch vergrößern kann, wenn man nur genug volkstümlich, sprich ohne Rücksicht auf jede zivilisatorische Errungenschaft in der Gegend herum poltert. Das gilt selbstverständlich auch für Aiwanger und Konsorten, und zu Teilen gilt es vermutlich für alle Politiker:innen, welche eine Wählerschaft zu bedienen haben; sie müssen denen nach dem Maul reden, soviel ist klar, aber es gibt immerhin auch noch ansehnliche Bevölkerungsteile, die man auch mit einem anständigen Vokabular und sogar mit den so genannten Argumenten abholen und bedienen kann, wie dies im Planentwurf für eine Demokratie ursprünglich mal vorgesehen war. Aber der Salvini wird uns noch lange als Zerrbild dienen, nicht zuletzt, weil er auch ebenso konsequent gegen den Klimaschutz ist wie der Aiwanger und der Söder; kürzlich hat er damit gedroht, dass er bei der EU-Kommission eine Klage gegen Österreich einreichen wolle wegen Wettbewerbsverzerrung, wieso, weil nämlich ein paar Dörfer entlang der wichtigsten Nord–Süd-Transportlinie über den Brennerpass Vorschriften erlassen haben, mit welchen sie die unerträglichen Immissionen des Schwerverkehrs etwas in den Griff bekommen wollten. Das beschädige die Interessen der italienischen Exporteure, schrie Salvini herum.

Ja, der Salvini. Eben, da ist man mit der Giorgia Meloni richtig gut bedient, welche die Politik ihrer Vorgänger Conte und Draghi mehr oder weniger unverändert fortsetzt. Dass sie daneben versucht, ein paar gesellschaftspolitische Rückschritte durchzustieren, mag man ihr fast nachsehen, das ist wiederum ihrer Wählerschaft geschuldet, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie so etwas aus Überzeugung tut; das ist ihr, wie jeder und jedem richtigen Politiker:in, im Grunde nämlich vollkommen wurscht. Ja, man könnte fast sagen, dass die Politik unterdessen zu einem richtigen Wurscht-Geschäft geworden ist, wenn man damit nicht der echten Wurst Unrecht täte. Tatsächlich: Würde Deutschland von ein paar Thüringer Rostbratwürsten regiert, dann würde das Land nicht nur fein schmecken, sondern die ganzen Fragen von Digitalisierung, Bürokratieabbau, Umstellung auf grüne Energie und so weiter wären schon längstens gegessen.


Kommentare
22.09.2023 / 18:13 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 22.9.. Vielen Dank !