Scientology und das Glück

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Was ist Glück? Eine eher unübliche Frage im LORA Magazin, das sonst mit politischen und gesellschaftlichen Themen glänzt. Aber doch eine sehr relevante Frage, finden Sie nicht? Jedoch längst keine rein persönliche Sache mehr, falls sie das jemals war. Nicht nur der Markt hat Glückseligkeit als Werbestrategie entdeckt, auch Sekten, Esoteriker und allerhand andere falsche Propheten aus Gesellschaft und Politik wissen um die Strahlkraft dieses Konzeptes. Kürzlich ist ein kleines Heftchen mit der großen Aufschrift Glück in die Hände unseres Redakteurs David Westphal gelangt. Was es alles verspricht – und wer diese falschen Versprechungen tätigt – erfahren Sie nun im Flugblatt-Kommentar bei LORA München.
Audio
09:10 min, 8607 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 12.10.2023 / 23:17

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur, Religion
Serie: LORA Magazin
Entstehung

AutorInnen: David Westphal
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 12.10.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript




Erlauben Sie mir, mit einem philosophischen Exkurs zu beginnen. Wenn wir von Ethik sprechen, dann meinen wir damit im Allgemeinen die Frage nach dem moralisch richtigen Handeln. Wie üblich bei philosophischen Fragestellungen explodiert das Denken, nachdem die Frage ausgesprochen ist. Was ist moralisch? Was ist richtig? Was ist eine Handlung? Und so könnte man immer weiter fragen und das gesamte philosophische Feld der Ethik kartographieren. Worum sich die akademische Philosophie weitaus weniger kümmert, als man denkt, wenn man das große Wort „Philosophie“ hört, ist das gute, richtige und sinnhafte Leben. Man nennt sie auch „die großen Fragen“. Im Anfang der westlichen Philosophie standen diese Fragen noch hoch im Kurs. So zum Beispiel bei Aristoteles. Im Fokus seiner sogenannten nikomachischen Ethik steht die Eudaimonia, die Glückseligkeit. Wenn man möchte, könnte man Aristoteles Ethik als Wegweiser für ein gelingendes Menschenleben lesen – wenngleich seine Sichtweise von Glückseligkeit möglicherweise nicht den Herausforderungen unserer Zeit stand hält. Die akademische Philosophie hat sich – wie schon erwähnt – weitestgehend vom Markt des Lebensglücks zurückgezogen. Nur wenige sind noch davon überzeugt, dass sich über Glückseligkeit wissenschaftlich fundiert und akademisch objektiv sprechen lässt. Und damit kommen wir zum eigentlichen Thema.
Vor einiger Zeit hat eine Freundin in ihrem Briefkasten ein kleines Heftchen gefunden: Glück – versprühen & verspüren. Mit Glückstalern, Marienkäfern, Kleeblättern und einem sich freuenden Mädchen bedruckt, verspricht es den (Zitat) „Weg zum Glücklichsein. Ein religionsneutraler Leitfaden für mehr Respekt, Vetrauen und Ehrlichkeit.“ (Zitat ende). „Höchst interessant“ dachte ich mir. Die üblichen Glücksversprechen, die in einen Briefkasten passen, sind sonst von religiösen Eiferern. Hier jedoch wird mir ein religionsneutraler Leitfaden und harmloser Aufmachung versprochen. Habe ich vielleicht nach über zweitausend Jahren den neuen Aristoteles in Händen? Ein Gütesiegel auf dem Cover stellt mir „21 Tipps für ein besseres Leben“ in Aussicht. Was soll schon schief gehen, großartig eigentlich! Ein glückliches Leben auf 72 kleinen Seiten, freihaus geliefert. Der Autor wiederum ist nicht gleich ersichtlich. Dafür bekomme ich aber auf der ersten Seite gleich einen Auftrag. Ich solle dieses Buch an einen Menschen abgeben, der Einfluss auf mein Überleben haben könnte und ihm am besten gleich noch weitere Exemplare geben, die er wiederum an andere verschenken kann. So könnte sich eine Gemeinschaft von Überlebenden bilden, die ganz religionsfrei alle am gleichen Glück festhalten. Ein Schneeballprinzip für Glück, ist doch schön. Sonst machen das ja nur so Finanzbetrüger, die mit der großen Kohle locken. Hier geht es ganz selbstlos um mein Überleben, wobei ich mir nicht sicher bin, ob der Autor Überleben und Glück gleichsetzt. Aber das sei ihm verziehen, nachdem der Griespudding einer großen Marke Löffelglück heißt; ist eben kein besonders scharfer und erst recht kein geschützter Begriff.
Wagen wir doch einmal einen kleinen Blick in die 21 Tipps fürs persönliche Glück. Zähne putzen zum Beispiel. Damit schützt man sich und andere vor Mundkrankheiten und Mundgeruch. Man solle auch andere anregen, sich ihre Zähne zu putzen. Klingt nicht unvernünftig und über alle Weltanschauungen hinweg gleich gültig. Kosmopolitismus durch Körperpflege. Beim aktuellen Weltgeschehen halte ich mich an jedem Strohhalm fest. Außerdem: Kein übermäßiger Alkoholkonsum und keine schädlichen Drogen nehmen. Auch nicht verkehrt. Drogen im Übermaß machen einen weder glücklich, noch tragen sie zu einem langen Leben bei. Wie ist es mit Sex? Zitat: „Sexualität ist das Mittel, das der Mensch benutzt, um durch Kinder und Familie sein Fortbestehen zu sichern. Durch das Geschlechtsleben können viel Freude und großes Glück entstehen: Die Natur hat das so beabsichtigt, um die Menschheit zu erhalten. Missbrauch oder Fehlverhalten bringen jedoch schwerwiegende Folgen und Strafen mit sich: auch dies hat die Natur anscheinend so beabsichtigt.“
Moment mal… Spätestens jetzt – und wir sind erst bei Tipp 3 – ist klar, dass hier etwas nicht stimmt. Die Natur soll Strafen für sexuelles Fehlverhalten eingerichtet haben? Sex, der nicht zum Erhalt der Menschheit dient, ist widernatürlich? Aber Herr Autor: Sie klingen ja wie die Kirche in den 80ern, als es um Homosexualität und AIDS ging. Hier scheint nichts ideologiefrei zu sein. Und so mischen sich zwischen alltagspraktischen Allgemeinplätzen und uneindeutigen Floskeln merkwürdig konservative Weltvorstellungen. Aristoteles? Sicher nicht. Er hätte sich nicht dazu hinreißen lassen, so lax mit der Wahrheit umzugehen, wie es der Autor des Glücksheftchens in Ratschlag 7 tut. Man solle zwar bestrebt sein, sich im Leben an die Wahrheit zu halten; hingegen: „Wahr ist das, was für Sie wahr ist.“ Also ich soll mich an die Wahrheit halten, und wahr ist, was für mich wahr ist. Das ist ja einfach. Aber nicht sehr philosophisch und nicht einmal besonders praktisch.
Im Kleingedruckten ist der Name des Autors zu finden. Kein geringerer, als der Urheber von Conquest of Space, der Schöpfer von Xenu und der Verfasser von „The Modern Science of Mental Health“: L. Ron Hubbard. Übrigens: L. Ron Hubbard ist nicht nur Science Fiction Autor und selbst ernannter Wissenschaftler für mentale Gesundheit. Er ist auch der Gründer der Scientology-Kirche. Kirche? Ja, Kirche. Die Anhänger dieser Kirche glauben, dass Xenu, ein galaktischer Herrscher, 75 millionen Jahre vor unserer Zeit unsere Seelen gequält habe und nur die dianetische Lehre des Gründervaters Hubbard uns von unserem Leid befreien könne. Klingt verrückt? Ist es auch! Was nicht bedeutet, dass man die Scientologen nicht ernst nehmen sollte. Denn sie haben große Wirkmacht in unserer Gesellschaft. Beispielsweise hatten sie begonnen, das Haus der Kunst in München zu unterwandern und es gibt Hinweise darauf, dass sie den größten, privaten Geheimdienst der Welt unterhalten. Sie kennen sie bestimmt aus den Fußgängerzonen ihrer Wahl. Dort treten sie selten als Scientology auf, sondern als Menschen mit alternativem Wissen über die menschliche Psyche und ihrer Lehre, der Dianetik – und offensichtlich mit einer großangelegten Verteilung von Glückshandbüchern, die ganz viele Menschen dazu bringen soll, ihrem Schnellball anheim zu fallen. Falls Sie also auch in Ihrem Briefkasten diesen (Zitat) „vielleicht ersten überkonfessionellen Moralkodex, der ganz auf gesundem Menschenverstand beruht“ gefunden haben, werfen Sie ihn getrost weg. Denn er ist alles andere als neutral. Letztlich sind Scientology eine gefährliche Sekte, die Ihre Mitgliedschaft und Ihr Geld will. Wussten Sie, dass bayerische Beamte sogar versichern müssen, dass sie mit Scientology nichts zu tun haben? Das weiß selbstverständlich auch Scientology, weshalb auf der Rückseite des Buches ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass dieses spezielle Büchlein sehr wohl auch von Beamten verbreitet werden dürfe, denn es sei konfessionslos und der Name der Sekte steht auch nirgends abgedruckt. Ob sie sich da mal nicht täuschen.
So sehr ich es auch beklage, dass die professionelle Philosophie sich nicht mehr um die großen Sinnfragen kümmert und kein zeitgenössischer Aristoteles am Horizont ersichtlich ist, so sehr muss kritisch geprüft werden, welche Sinnangebote einem nachgeworfen werden. Dort wo die Philosophie sich zurückgezogen hat, entsteht immer mehr Platz für Coaches, Esoterik und Sekten wie Scientology. Wenn Sie sich also wieder einmal in einer Sinnkrise befinden, greifen Sie lieber zu Aristoteles, statt zu L. Ron Hubbard, oder suchen Sie ihren nächsten philosophischen Praktiker auf – die gibt es wirklich und tatsächlich.