"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kritik & Antisemitismus

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Da sind wir wieder: Man darf Israel nicht kritisieren, weil das antisemitisch ist, und man darf die Palästinenser:innen nicht kritisieren, weil das von der Gesellschaft für bedrohte Völker nicht gerne gesehen wird.
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10:57 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.10.2023 / 23:13

Dateizugriffe: 69

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.10.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Da sind wir wieder: Man darf Israel nicht kritisieren, weil das antisemitisch ist, und man darf die Palästinenser:innen nicht kritisieren, weil das von der Gesellschaft für bedrohte Völker nicht gerne gesehen wird.
Dass der Terroranschlag der Hamas auf israelische Zivilist:innen ein solcher war, darf man meines Wissens weiterhin sagen; nicht ganz sicher ist sich die gespaltene öffentliche Meinung darin, ob man die Hamas deswegen eine Terrororganisation nennen darf, mindestens die Araber:innen meinen, eher nicht, weil die Hamas hier nur Gleiches mit Gleichem vergelte, was allerdings offensichtlich nicht der Fall ist, also nützen wir das Fenster der Gelegenheiten und bezeichnen die Hamas als barbarische Terroristenorganisation. Häufig wird die Meinung vertreten, dass man in diesem Konflikt nur mit Härte zum Erfolg kommt, weshalb Israel den Druck im auch im Normalzustand schon sauber abgeriegelten Dampfkochtopf Gazastreifen so lange hoch hält, bis auch die letzte und der letzte Bewohner:in realisieren, dass sie dieses Schlamassel eben der Hamas zu verdanken haben, auch auf die Gefahr hin, dass dann die letzte und der letzte Bewohnerin tot auf der Straße liegen. Auf der anderen Seite, im Westjordanland, läuft unterdessen die Annexion weiter. Hier ist es nicht die israelische Armee, welche das Land besetzt, sondern es sind die Siedler, allerdings unter dem Schutz der israelischen Polizei. Wer möchte, kann diese Landnahme vergleichen mit jener von Russland in der Ukraine, aber das ist ein rein ästhetischer Vorschlag, denn die beiden Dinge haben miteinander nicht viel gemeinsam. Die schleichende Annexion des Westjordanlandes ist vielmehr eine logische Folge des Bevölkerungswachstums. Im Jahr 1968, nach dem 6-Tage-Krieg, lebten in Israel 2.8 Millionen Menschen. Heute sind es über 9 Millionen, also 3 Mal soviel. Das braucht Platz beziehungsweise Raum.

Die politisch denkende Europäer:in oder überhaupt der politisch denkende Mensch hat allen Grund, genau darauf zu achten, in welchem Zusammenhang sie oder er Kommentare zu Israel und zu den Palästinenser:innen abgibt. Die objektive Einschätzung der Lage kann im falschen Kontext zu einer antisemitischen Fackel werden. Offensichtlich sind Teile der politischen Linken nicht in der Lage, dies zu verstehen, oder aber sie wollen es sich nicht mit den antisemitischen Teilen ihrer Wähler­schaft vergällen, wie dies zweifellos bei Jean-Luc Mélenchon der Fall ist. Ähnliche Vorwürfe hatten wir früher gegen die englische Labour-Partei gehört, und auch in Deutschland wehen viele Palästina-Fahnen in den Händen linker Aktivist:innen. Diese Verwirrung dürfte anhalten, unter anderem, weil sie genau auf der Linie der offiziellen Propaganda liegt, wonach Israelkritik eben identisch ist mit Antisemitismus. Mit offizieller Propaganda meine ich übrigens nicht nur die Version der israelischen Regierung, sondern auch die Haltung der westlichen Regierungen, welche sie unredigiert übernehmen.

So ist die Lage, mehr oder weniger unverändert seit Jahrzehnten. Die Bemühungen um eine friedliche Lösung und ihre Sabotage sowohl von Seiten der radikalen Palästinenser:innen als auch innerhalb der israelischen Politik füllen ganze Geschichtsbücher. Letzthin ist mir wieder der Spruch der Witwe von Yitzak Rabin in den Sinn gekommen, des Mitarchitekten des Friedensprozesses in den 90-er Jahren, der von einem israelischen Extremisten erschossen worden war. Die Witwe bezeichnete damals Benjamin Nethanyahu als den eigentlichen Mörder von Rabin, zusammen mit Ariel Sharon. Der Unterschied zwischen damals und heute ist der, dass es keinen Friedensprozess mehr gibt. Aber da dieser sowieso immer wieder unterlaufen wurde, kommt das auch nicht mehr so drauf an.

Was haben wir zu erwarten? Fest steht die Annexion des Westjordanlandes, darüber braucht man nicht zu diskutieren. Unklar dagegen ist die Zukunft des Gazastreifens. Aus militärischer Sicht müsste Israel versuchen, dieses Gebiet zu räumen. Man kann die aktuellen Angriffen auf den Norden des Gazastreifens als erste Etappe einer solchen Strategie lesen. Allerdings hat Ägypten gleich zu Beginn klargemacht, dass es nicht bereit ist, die zwei Millionen Bewohner:innen aufzunehmen. Wer weiß, vielleicht findet sich sonst ein Staat in Afrika oder in Zentralasien, der mit diesen Menschen etwas anfangen kann? Eine Integration in den Staat Israel ist wegen der hohen Verschmelzungsquote zwischen Bevölkerung und Hamas kaum denkbar. Sonst irgendwelche Vorschläge? Je nach politischer Entwicklung in den nächsten Jahren könnte man sich natürlich auch vorstellen, dass Qatar oder die Vereinigten Arabischen Emirate oder sogar Saudiarabien vielleicht nicht gerade am persischen Golf, aber doch am indischen Ozean an geeigneter Lage Neu-Palästina aufbauen mit schönen Sandstränden und Wohn- und Hotelanlagen sowie den notwendigen Universitäten und so weiter? Das wäre mal eine Variante, bei der ich sogar vergessen würde, wie spät in Saudiarabien Frauen zum Autofahren zugelassen wurden.

Jedenfalls ist die ganze Israel-Palästina-Frage eine Geschichte voller Irrtümer und Fehler. Anderseits ist die Geschichte als solche selten bereit, solche Irrtümer und Fehler zu korrigieren; vielmehr verwandelt sie sie in harte Fakten und neue Realitäten. Dazu zählt übrigens auch, wenn ich schon von der Bevölkerungsentwicklung in Israel gesprochen habe, die Tatsache, dass die Bevölkerung im benachbarten Ägypten zwischen 1960 und 2022 von 27 Millionen Menschen auf 111 Millionen Menschen angestiegen ist, sich also vervierfacht hat. Dabei hat Ägypten selbstverständlich viel mehr Land und Raum in Reserve als Israel, aber ein Großteil davon ist dann doch Wüste. Fast die ganze Bevölkerung lebt im Niltal und knapp die Hälfte in den großen Städten, und das Bruttoinlandprodukt pro Kopf liegt bei knapp 12'000 Dollar; in Israel sind es etwa 43'000 Dollar.

Sprechen wir von etwas anderem, nämlich von den Erfolgen der Labour-Partei in England unter Keir Starmer. Von der politischen Position her ist Starmer die Neuauflage eines ordentlich weit rechts stehenden Sozialdemokraten, was offenbar recht exakt jene Position darstellt, aus welcher heraus man Wahlen gewinnt, zumal wenn die Bevölkerung müde ist von den billigen Showeinlagen der politischen Gegner. Das wundert mich nur mäßig; was ich mich aber frage, ist: Wo steht die Murdoch-Presse in diesem Prozess? In letzter Zeit war es auffällig ruhig auf dieser Seite, und so erinnern wir uns daran, dass Rupert Murdoch seinerzeit eine echte Liebesbeziehung unterhielt mit Tony Blair, anders gesagt: Rupert Murdoch ist auf eine ganz andere Art und Weise politisch, als es unsereins sich vorstellt. Möglicherweise liegt die Ruhe auch daran, dass im Hause Murdoch ein Generationenwechsel vonstatten geht. Man weiß es nicht; aber was man schließen kann, ist, dass es Keir Starmer bisher geschafft hat, es sich mit dem Hause Murdoch nicht zu verderben. Umgekehrt scheint dieses nicht nur Boris Johnson, sondern die Konservativen in England insgesamt fallen gelassen zu haben, mindestens für den Moment.

In Spanien aber haben wir festgestellt, dass der amtierende Ministerpräsident Sanchez unterdessen ganz und gar abhängig erscheint vom Gutdünken der katalanischen Separatist:innen. Dass diese die Gunst der Stunde zu nutzen versuchen, versteht sich von selber; weniger selbstverständlich erscheint mir, dass Pedro Sanchez unter diesen Umständen weiterhin an der Macht bleiben will. Vom nächsten Monat an trifft er im Senat auf eine bürgerliche Mehrheit; daneben verlangt, wie es sich von vermeintlich radikalen Linken unterdessen offenbar gehört, die Sumar-Fraktion ein antiisraelisches Bekenntnis von der Regierung. Ich persönlich würde unter solchen Umständen den Bettel hinschmeißen und mich für eine Zeit in der Opposition vorbereiten; das ist langfristig oft gesünder. Aber vielleicht will Pedro Sanchez noch die EU-Ratspräsidentschaft Spaniens geordnet abwickeln, bevor er sich mindestens vorübergehend verabschiedet.

In Argentinien hat der Rechtspopulist Javier Milei die Wahl zum Präsidenten im ersten Wahlgang verpasst. Er liegt mit 30% der Stimmen hinter dem Kandidaten der Peronisten, Finanzminister Sergio Massa mit 36.6%. Milei hat versprochen, die Zentralbank aufzulösen und nicht Bitcoin als Staatswährung einzuführen, sondern den US-Dollar. Dazu kommen weitere Versprechen wie zum Beispiel das Verbot der Farbe hellgrün oder die Lockerung der Waffengesetze, ich kenne mich da nicht so aus, in Argentinien wird immer mal wieder versprochen, was halt gerade so zu versprechen ist. Das Land befindet sich seit fünfzig Jahren in einer Dauerkrise und funktioniert trotz allem immer weiter. Die Stichwahl findet im November statt. Auch in Venezuela gab es Wahlen, nämlich Vorwahlen für die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr, wobei Maria Corina Machado laut ersten Ergebnissen deutlich in Front liegt und die Opposition anführen dürfte. Allerdings hat die Regierung eine Kandidatur Machado bereits jetzt verboten. Der amtierende Präsident Maduro möchte ein weiteres Mandat erobern und bis im Jahr 2030 an der Macht bleiben.

Am Montagmorgen habe ich kurz in die Pressekonferenz von Frau Wagenknecht hinein gehört, welche die Gründung einer neuen, sagen wir mal: Links-Rechts-Partei lancieren sollte; offenbar lautet der Plan, zum neuen Jahr aus der Fraktion der Linken auszusteigen. Ein sehr schönes neues Programm habe ich dabei nicht entdeckt; dagegen formuliert Frau Wagenknecht verschiedene Ängste und Sorgen, welche die Bevölkerung umtreiben, unter anderem die Migration und Sicherheitsfragen. Ein bisschen Europa-Skepsis gehört dazu, alles gut, vielleicht auch noch das Verbot der Farbe hellgrün, das habe ich zwar nicht gehört, aber wenn es der Belustigung der Volksseele dient, kann man das durchaus verwenden. – Nein, natürlich nicht; aber eben, was da inhaltlich auf das Land zurollt mit dieser 1-Frau-Bewegung, das hat sich mir nicht so recht erschlossen, also konkret, was an diesem Schachzug mehr dran sein soll als das Absetzen von der Linkspartei, welche gegenwärtig vollrohr in den Untergang zu fahren scheint. Es gilt offensichtlich auch für Deutschland, was seit zweieinhalbtausend Jahren in Stein gemeißelt ist: Alles fließt und ist in steter Bewegung. Konkret sind im Moment die politischen Positionen an der Reihe.

Kommentare
26.10.2023 / 17:55 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 26.10.. Vielen Dank !