"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - leurs enfants après eux

ID 125010
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Vor ein paar Monaten hatte ich von Moritz Baßlers Buch über magischen Realismus gesprochen, und darin war auch von Lisa Krusches Roman «Unsere anarchistischen Herzen» die Rede, den Baßler empfahl, unter anderem wegen des Umgangs mit SMS-Nachrichten im Text, was ich dann doch wieder an den Haaren herbei gezogen fand, weil gerade diese SMS-Nachrichten keine eigen­stän­dige Funktion oder Erzählebene konstituierten, aber egal....
Audio
11:29 min, 16 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.11.2023 / 13:46

Dateizugriffe: 60

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 07.11.2023
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jedenfalls hat mir der Roman durchaus gefallen, auch wenn er mich an den 100 Jahre älteren Pubertätsroman «Trotzkopf» erinnerte, einfach ohne das ganz und gar anpässlerische Ende, das aber im Falle der anarchistischen Herzen durchaus noch zu erwarten ist; Charles und Gwen werden mit Sicherheit irgendwo in Berlin einen veganen Kleiderladen und eine Smoothie-Bar eröffnen. Daneben ist mir die Beschreibung einer nur noch lose mit den Zwängen des Gelderwerbs bestickten Welt, die vielleicht genau aus diesem Grund die jungen Menschen relativ ratlos herum tapsen lässt, eigentlich in positiver, wenn auch eigenartiger Erinnerung; was ist denn jetzt falsch an diesen kleinbürgerlichen Familien, was treibt den Text vorwärts, was ist mit diesen Töchtern von je auf ihre Art gescheiterten Baby­boo­mern, die nicht nur nicht die gleichen Ziele haben wie ihre Eltern, sondern grad überhaupt keine? Das war bei aller Eigenart doch eine relativ plausible Frage im Endstadium der kapitalistischen Überproduktion. Was macht man so, wenn man jung ist und nicht gerade eine Karriere in Film, Funk und Fernsehen beziehungsweise an der Universität oder in der kapitalistischen Volkswirtschaft vor Augen hat? – Schwierig, ich gebe es zu. Mit Anarchismus allerdings hat diese Orientierungslosigkeit rein gar nichts zu tun; man kann sie eher mit dem Flottieren auf einer Luftmatratze vor dem Strand von Mallorca vergleichen.

Nun plage ich mich seit ein paar Wochen mit einem Buch herum, das ich bei uns im Korridor aufgegriffen habe, nämlich «Leurs enfants après eux» von Nicolas Mathieu. Es erschien drei Jahre vor den anarchistischen Herzen von Lisa Krusche im Jahr 2018, hat aber eine Jugend in einer nordfranzösischen Kleinstadt in den 1990-er Jahren zum Inhalt, zu einem Zeitpunkt, als die ganze früher blühende Wirtschaft mit Kohle und Stahl vollkommen zerstört am Boden liegt. Das Buch erschien übrigens in einer deutschen Übersetzung bei Hanser, «Wie später ihre Kinder» heißt der Titel, den ich eher als «Ihre Kinder und Kindeskinder» setzen würde, da mich die Verzweiflung oder Verdammnis oder Trostlosigkeit in dieser Sahara der Arbeitslosigkeit wirklich an biblische Dimensionen erinnert. Während sich bei Lisa Krusche Charles und Gwen mit der Kritik an der Generation ihrer Eltern und allgemein mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigen, kommen in Heillange keine derartigen Luxus-Stimmungslagen auf. Hier geht es um den radikalen Mangel an Perspektiven einerseits, die Zwänge des französischen Karrierewegs anderseits, welcher erstens alternativlos erscheint und zweitens extrem selektiv ist und damit aus der überwiegenden Mehrheit der Französinnen und Franzosen eine Rasse von Verlierer:innen macht, von nun an bis in alle Ewigkeit, will es scheinen. «Leurs enfants après eux» taucht ein in die Welt von drei oder vier Familien anhand von ebenso vielen Protagonist:innen und führt die Leserin durch die verschiedenen Akte dieses Dramas, wobei zwischendurch immer mal wieder die Sonne scheint, es ist also, wie im richtigen Leben, nie alles so gottverlassen, wie es tatsächlich ist; abgesehen scheint tatsächlich das ganze Buch durch die Sonne heiß vom Himmel herab, als hätte die Klimakatastrophe schon damals begonnen. Aber von dieser Regieeinstellung abgesehen lastet über der ganzen Geschichte eine Mischung aus unterdrückter, hin und wieder ausbrechender Gewalt und eben eines gründlichen Mangels an Perspektiven, in welcher sich die Menschen ihren eigenen Curriculum zusammen zimmern, der junge marokkanischstämmige Hacine zum Beispiel als vorübergehend recht erfolg­reicher Drogenkurier, also wir sprechen hier von Haschisch, nicht von synthetischen Drogen, das von Marokko nach Frankreich transportiert wird in hoch motorisierten Automobilen, wie sie die deutschen Autobahnen bevölkern. So etwas wäre ja nicht a priori perspektivlos, aber Hacine scheitert an anderen Marotten des Systems, diesmal in Marokko selber, wo er seinen Gewinn aus dem Drogenhandel in Immobilien anlegen will, dabei aber von einem Betrüger übers Ohr gehauen wird und anstelle eines Haufens Kohle von einem Tag auf den nächsten nur noch einen Haufen Schulden hat, die er und sein Geschäftspartner nicht zurückzahlen können, was diesen Partner unter anderem ein Auge kostet, das ihm mit einem Schraubenzieher ausgestochen wird, um den Ernst der Drohungen der Gläubiger zu untermalen, worauf sich Hacine aus dem Staub macht und nach Heillange zurückkehrt. Das System ist in jedem Fall stärker, und so erinnert mich «Leurs enfants après eux» stark an frühere kulturelle Erzeugnisse Frankreichs wie zum Beispiel an den Film «La Haine», der Hass, welches ein mögliches Produkt aus solchen Verhältnissen und Einsichten ist. Die latente Gewalt, der unterschwellige Hass, all das erschwert mir das Vorankommen in diesem Buch, da ich diese Form von gesellschaftlicher Depression für vollständig überflüssig halte und eigentlich nur noch sage: Ich lehne das ab. Viel weiter greift meine Analyse seltsamerweise nicht; ich bin nicht in der Lage, diese ganze Misere der neuen Misérables dem Staat, der Gesellschaft und dem System in die Schuhe zu schieben, da muss dringend so etwas wie ein Opioid hinein gespritzt werden in die Gesellschaft, ein Stimmungsaufheller, vielleicht tatsächlich so etwas wie eine neue Erzählung, welche weder die ganze Schuld auf das System, den Imperialismus, meinetwegen auch auf die Einwanderung oder auf den US-amerikanischen Imperialismus zuteilt und im gleichen Zug alle Subjekte ausschließlich zu Objekten irgendwelcher Mächte deklassiert. Man kann auch etwas unternehmen, man kann auch etwas anfangen mit seinem eigenen Leben, möchte man da dauernd in die Seiten hinein brüllen. Dochdoch, das gibt es; und hierfür ist offenbar das Berlin von Charles und Gwen das deutlich bessere Pflaster als die erzählte Welt in Frankreich.

Dabei schreibt Mathieu sehr einfühlsam und intelligent, das will ich bei allen Problemen nicht vergessen, er denunziert seine Charaktere nur im literarisch notwendigen Ausmaß; sogar wenn er von einem verstorbenen Onkel und Gewerkschaftsaktivisten schreibt, dass der am Schluss Plakate geklebt habe für den Front National mit dem Argument, dass es in Frankreich gleich viele Ausländer:innen gebe wie Arbeitslose, muss man das einfach zur Kenntnis nehmen wie ein Stück Tapete in diesem desolaten Geisteszustand. Es leuchtet ein, dass die Argumente über die Wohltaten der Globalisierung keinen Wert haben in solchen Gegenden, wo niemand auch nur den leisesten Schimmer hat, wie der global erzeugte Reichtum in konkrete individuelle Freiheit umzusetzen wäre.

Trotzdem: Verbesserung ist nicht nur möglich, sie ist sogar unausweichlich, auch wenn wir im Moment zugeschüttet werden von Nachrichten, welche das Gegenteil glauben lassen. Es gibt in diesem Bereich ja nicht nur die Meldungen über die Kriege in Gaza oder in der Ukraine, auch die Berichterstattung über die Weltwirtschaft findet schon seit einiger Zeit nurmehr im Ton der Kriegsberichterstattung statt. Auch hier wird man nicht umhin können, die machtpolitischen Ansprüche in erster Linie der Chines:innen, aber auf der dritten Ebene auch der Türk:innen mindestens wahrzunehmen, auch wenn ich persönlich zum Beispiel nicht davon überzeugt bin, dass es der Türkei gelingen wird, mit ihrer, meines Wissens vor allem auf VW-Technologie basierenden Flotte von Elektrofahrzeugen der Marke Togg den Weltmarkt aufzumischen. So oder so: Unabhängig von diesen Bestrebungen um Marktanteile und auch um politischen Einfluss wird es im Alltag der meisten Menschen immer komfortabler. Das heißt nicht, dass keine Probleme mehr zu lösen wären, sei es bei den Krankenkassen, bei der Bürokratie oder beim Grundeinkommen; aber auch die Migrationsfragen benötigen Lösungen aus einer Perspektive der globalen Ungleichheit heraus. Mit der Behandlung von Asylanträgen in Drittstaaten Afrikas ist nicht viel geholfen, weder in England noch in Deutschland noch in Österreich oder wo auch immer. Kurz: Es gibt viel zu tun, auf praktischer ebenso wie auf ideologischer Ebene. Aber das Gesamtbild wird nicht schlechter, es wird immer besser, wie gesagt, vor allem dank der mehr oder weniger abschließenden Verbreitung eines allgemeinen Wohlstandes. Dieser Verbreitung stehen keine technologischen Fragen mehr im Weg, sondern nur noch politische und solche des Entwicklungsstandes der Bevölkerung und der Institutionen in, leider nach wie vor ziemlich zahlreichen Ländern. Aber wenn der Weg auch lang ist, so ist er doch gangbar, und wir haben schon einige Strecken zurückgelegt darauf.

Sodann habe ich mir die youtube-Rede von Robert Habeck zum Antisemitismus in Deutschland angehört, und viel mehr kann ich dazu gar nicht sagen; der Mann hat einfach recht. Auch so etwas kommt hin und wieder vor. Unterdessen gehen die militärischen Operationen Israels im Gaza­streifen weiter; einmal unabhängig vom menschlichen Leid, also auf einer rein militärischen Ebene nimmt es mich wunder, ob es überhaupt möglich ist, die militärischen Infrastrukturen der Hamas zu zerschlagen, ich nehme an, dass es dabei in erster Linie um das Tunnelsystem geht, in welchem mit Sicherheit die 200 Geiseln vom Überfall anfangs Oktober die mächtigste Abwehrwaffe der Hamas darstellen; die sind vermutlich alle an irgendwelche Sprengfallen festgebunden, was in diesem Krieg keine weitere Eskalation mehr darstellt. Es ist wirklich zum Davonlaufen.

Da erscheinen die Diskussionen über die Erweiterung der EU schon fast als nebensächlich, wobei man sich mit der Ukraine natürlich ein Land im Krieg einhandeln täte, und zwar ein Land in einem Krieg, der eben wegen dieses EU- und des Nato-Beitrittes überhaupt angefangen hat. Die entsprechenden Initiativen würde ich persönlich etwas zurückstellen; im Moment sind die Verlautbarungen sowieso noch eher Propaganda als etwas anderes. Es geht aber nicht nur um den Krieg, sondern auch darum, dass die Ukraine unter dem alles bestimmenden Krieg gegen Russland nach wie vor ein zutiefst korruptes Land ist, und das sind keine guten Aussichten für eine Erweiterung. Die ruckartigen Vor- und Zurückbewegungen in Bulgarien, Rumänien, aber auch in der Slowakei in Sachen Rechtsstaatlichkeit und so weiter werfen sehr drängend die Frage auf, ob die EU sich noch weitere Probleme von dieser Sorte aufhalsen soll, wenn sie nicht in absehbarer Zeit unter genau diesen Problemen kollabieren will. Der Fall Serbien daneben ist offensichtlich auf absehbare Zeit abgeschlossen, mindestens solange der dicklippige Vucic noch eine Rolle spielt. Und von der Türkei brauchen wir gar nicht zu sprechen; nur hin und wieder muss ich mich selber daran erinnern, dass dieses Land nicht nur unter der Hand sehr aktiv ist mit seiner wirtschaftlichen Expansion in Zentralasien und auf dem afrikanischen Kontinent, sondern dass es auch wirklich eine delikate Stellung einnimmt angesichts von Nachbarn wie dem Iran, dem Irak und Syrien. Da kann sich die Lage von einem Monat auf den nächsten ändern.