"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Treibkraft Frustration

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Bauern auf der Straße, Eisenbahner:innen neben den Schienen, Transporteurinnen auf den Barrikaden, scharenweise zuckeln die Kleinbusse von Handwerksleuten hinterher: Die Empörung der Empörten irritiert mich insofern, als ich nicht sehe, in wessen Interesse sie sich letztlich äussern.
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11:18 min, 8792 kB, mp3
mp3, 106 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.01.2024 / 00:03

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.01.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Bauern auf der Straße, Eisenbahner:innen neben den Schienen, Transporteurinnen auf den Barrikaden, scharenweise zuckeln die Kleinbusse von Handwerksleuten hinterher: Die Empörung der Empörten irritiert mich insofern, als ich nicht sehe, in wessen Interesse sie sich letztlich äussern.
Das Geschäft mit den Frustrationen ist ein seltsames Ding, in erster Linie in ihrer Entstehung beziehungsweise wie sich ein soweit normales Existenzgefühl, das zwangsläufig verschiedene Einschränkungen beinhaltet wie die Tatsache, dass wir alle weder einen Nobelpreis in Literatur erhalten werden noch je in unserem Leben eine Milliarde Euro unser eigen nennen werden, verwandelt in Frustration. Zum Teil liegt die Ursache für diese Verwandlung offensichtlich in der miserablen Qualität des Schauspiels, welche in Deutschland die Regierung seit den Neuwahlen bietet; so kann man das demokratische Publikum natürlich nicht bei der Stange halten, wenn die Darsteller:innen auf der Bühne ihren Text vergessen oder willkürlich anpassen oder sich anraunzen, wie sie es im Proberaum nicht wagen würden. Aber der wichtigste Teil der Unzufriedenheit liegt in der Ahnung davon, dass sowohl das demokratische Schauspiel als auch das aufgeführte Stück und überhaupt das ganze Theatergebäude anders, besser denkbar wären, und hierin begreife ich die protestierenden Subjekte voll und ganz und gehe mit ihnen einig und würde mich gerne vor Wut und Frustration selber auf einem Traktor ankleben. Ich würde am liebsten auf eine Tafel schreiben: Haut doch ab, ihr Haufen von inkompetenten und inkontinenten Parlamentarierinnen, Staatssekretärinnen, Senatorinnen, Amtsdirektorinnen, denen es seit Jahrzehnten nicht gelingt, die Bundesrepublik Deutschland nur schon administrativ so einzurichten, wie es modernen Prinzipien entspricht und wie es die moderne Software schon längstens erlauben täte. Ja, das würde ich schreiben und die Tafel anschließend vermutlich im Landwehrkanal versenken, weil das ja auch wieder niemanden interessiert; denn genau das, eine politische Form, also eine Form, die auf tatsächliche Veränderungen zielt und eine Vorstellung davon hat, wie man es besser machen könnte abgesehen vom lamentablen Theater der Regierung, diese Form sehe ich bei den akuten Demonstrationen ja nicht.

Leider sehe ich sie auch nicht bei jenen Teilen des politischen Spektrums, das man früher zur Opposition zählte, und das ist auch der Grund dafür, dass die Existenzgrundlagen für die politische Linke dahingeschmolzen sind wie die Gletscher in einem warmen Sommer.

Es nützt ja nichts, wenn ich jammere, dass das früher anders war, als es ein Machtkartell aus Wirtschaft und den Christdemokratinnen gab, wo manchmal die Sozen ran durften und auch ein bisschen regieren wie die Christdemokratinnen, welche ihrerseits jahre- und jahrzehntelang das Machtkartell mit lupenreiner sozialdemokratischer Politik betrieben. Während einigen Momenten kamen auch die Grünen zum Zug und in jenen Zeiten, da die Ideologie der freien Marktwirtschaft noch so etwas wie eine Standardwährung im politischen Diskurs war, gab es auch eine FDP-Note dazu. Die Empörung war aber immer zuverlässig auf der Seite der machtlosen Gegner des Machtkartells zu finden. Hin und wieder empörten sich auch die Sozialdemokratinnen, wenn sie gerade nicht an der Macht oder an der Macht beteiligt waren. Aber heute, wo ist denn dieses Machtkartell geblieben, wo sind die Spitzen der Unternehmerinnenverbände, welche früher jeweils den Tarif durchgegeben haben, und zwar nicht nur im Tarifstreit? Im Moment ist alles etwas undurchsichtig. Ohne jede konkrete Vorschläge für eine überfällige Reorganisation ist man vorsichtshalber gegen alles, und allen voran ist der bayrische Minister­präsi­dent gegen alles. Aber das nur nebenbei.

Dabei besteht das Problem eben nicht darin, dass die fünf reichsten Männer auf der Welt ihr Vermögen seit dem Jahr 2020 mehr als verdoppelt haben auf 870 Milliarden Dollar, während die ärmeren 60% der Weltbevölkerung sogar Geld verloren haben, nämlich 0.2 Prozent. Die fünf reichsten Männer sind übrigens Elon Musk, Bernard Arnault, Jeff Bezos, Larry Ellison und Mark Zuckerberg. Das ist zwar ebenso wahr wie skandalös, aber eben, das Problem für den Alltag der Menschen liegt nicht hier, und auch eine Verteilung ihres Vermögens an die Weltbevölkerung würde für jede Person nur gerade 100 Dollar abwerfen – ganz abgesehen davon, dass bei der Liquidierung dieser Vermögen ihr Wert um 90% schrumpfen würde, was also einen realen Ertrag pro Person von 10 Dollar ergäbe. Wer sich noch weiter in dieses Verteilungs-Gedankenspiel vorwagen will, der stößt auf die Fragestellung, was es denn international für Voraussetzungen benötigen würde, um diese fünf Superreichen oder auch alle zusammen auf der ganzen Welt zu enteignen – und wenn man sich das vorzustellen versucht, dann hört man angesichts der schieren Unmöglichkeit sofort wieder auf.

Nein, das Problem besteht seit längerer Zeit nicht mehr im Reichtum einiger reicher und zudem manchmal strohdummer Säcke. Das Problem besteht darin, dass unsere Gesellschaften, auf jeden Fall die Gesellschaften in den entwickelten Regionen der Welt, seit längerer Zeit in der Lage sind, für alle Menschen einen bescheidenen Wohlstand zu erzeugen, wenn ich ihn hier einmal für Deutschland beziffern sollte, würde ich eine Zahl im Bereich von sagen wir mal 20'000 bis 30'000 Euro pro Person vorschlagen. Alles, was wir zu tun brauchen, ist es, die Gesellschaft so einzurichten, dass dieser Wohlstand auch tatsächlich allen zugänglich wird, und zwar wenn möglich nicht über eine Sozialgeldhierarchie mit Bürokratie und Schikanen, sondern ganz einfach, namentlich mit einem Grundeinkommen, aber mir persönlich ist es egal, wenn das Geld auch anders verteilt wird, einfach effizient müsste es sein. Das exakt gleiche gilt übrigens für alle anderen Bereiche der öffentlichen Verwaltung: Schluss mit Bürokratie und Schikanen, einfache und transparente Abläufe sind gefragt. Und dass es die Schauspielerinnen in der Politik bisher nicht nur nicht geschafft haben, dies herzustellen, sondern dass sie nicht einmal im Ansatz einen Anlauf dazu unternommen haben, das ist wirklich ein Skandal, der tausend Mal größer ist als die schiere Menge an Kapital, das sich bei fünf Dösköppen angehäuft hat.

Bundesfinanzminister Christian Lindner hat den protestierenden Bauern in Aussicht gestellt, teure Bürokratie abzubauen, allerdings nur im Rahmen des Abbaus von Subventionen. Der Mechanismus wäre dabei der, dass mit den Vorschriften und Regulierungen rund um diese Subventionen halt eben auch die Subventionen selber verschwinden. Ich bin nicht sicher, ob es dies ist, was die Bauern wollen, so wie man sich bei diesen Freien Demokraten sowieso nie sicher sein kann über nichts; wo die nämlich den Abbau von Bürokratie und Regulierung fordern, meinen sie eigentlich immer nur den Schutz von Privilegien ihrer Klientel, während Bürokratie und Regulierung für die Bürgerinnen im Alltag der FDP mit einigem Abstand am Arsch vorbei geht. – Aber dies nur nebenbei. Mit dieser Einschätzung bin ich übrigens nicht allein; auch der bayrische Finanzminister Albert Füracker von der CSU äußert sich im gleichen Sinne. Das tut mir dann wiederum selber ein bisschen leid; ich versuche, meine Übereinstimmungswerte mit der CSU etwa gleich gering zu halten wie mit der Kabarettistin Monika Gruber.

Dennoch: Wenn man also heute eine fortschrittliche Partei gründen wollte, dann wäre dies nicht so etwas wie das Bündnis Sarah Wagenknecht, sondern es wäre eine reine Modernisierungs-Partei, welche sich zum Ziel setzt, die Bürokratie zu zerschlagen, beginnend mit der Finanz- beziehungs­weise Kompetenzordnung zwischen Bund, Ländern und Kommunen; mit einer Vereinheitlichung der Administration, aber auch inhaltlicher Natur, namentlich im Bildungssektor. Dafür braucht es im Hintergrund eine konsequente Bereinigung des Rechtskörpers vor allem im unteren Bereich, und dafür würde diese neue Partei auch Spezialist:innen ausbilden. Davon abgesehen würde eine solche neue Partei ganz selbstverständlich auf den Grundannahmen von Demokratie, sozialer Gerech­tig­keit und des Klimaschutzes aufbauen, aber das ist mindestens im Vokabular unterdessen schon längstens selbstverständlich.

Aber sprechen wir von etwas anderem. Die kanadisch-amerikanische Aktivistin Naomi Klein hat letzte Woche in einem Artikel ihre Unterstützung der BDS-Bewegung gegen Israel bekräftigt, also der Strategie des Boykotts israelischer Produkte, des Abzugs von Investitionen und der Sanktionen gegen dieses Land. Ich habe dieser Bewegung nie so richtig über den Weg getraut; es tummeln sich allzu viele Antisemiten in ihren Reihen. Zudem ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Artikels eigenartig nach der Schlächterorgie der Hamas Anfang Oktober letzten Jahres, auf welche Israel reagierte mit dem Versuch, die militärische Operationsbasis dieser Organisation zu zerstören. Ich gehe übrigens davon aus, dass dieses Vorgehen zwar mühselig, aber letztlich doch erfolgreich verläuft; es geht vor allem um die Zerstörung oder allenfalls Umfunktionierung des Tunnelsystems unterhalb des Gazastreifens, das man aus militärischer Sicht mit einer gewissen Bewunderung betrachten muss, einmal abgesehen von der Frage, woher denn die Milliarden Dollar stammen, die für seine Konstruktion notwendig waren. Hier kann man sich allerdings die Antwort leicht machen und sagen, dass das vermutlich mit Erdöleinnahmen aus dem Iran finanziert wurde. Aber egal. Jedenfalls entspricht die Zerstörung dieser Infrastruktur einer klaren militärischen Logik, jenseits aller politischer und humanitärer Fragen, die damit verbunden sind. Mit Völkermord hat so etwas übrigens überhaupt nichts zu tun; so behämmert das tönen mag, ich würde behaupten, dass Israel zur Erreichung dieses militärischen Ziels relativ zurückhaltend vorgeht, mindestens wenn man das Vorgehen der Hamas beim Angriff von Anfang Oktober als Vergleich herbei zieht.

Das ändert nichts an den Vorwürfen, welche Naomi Klein und die BDS-Bewegung, aber auch andere Organisationen und Personen gegen das Vorgehen des Staates Israel in Bezug auf die palästinensische Bevölkerung in Israel selber und natürlich vor allem in der Westbank erheben. Diese Vorwürfe lassen sich leicht belegen. Israel führt schrittweise die Annexion der Westbank durch. Gleichzeitig gelten für arabische Bewohner:innen in der Praxis andere Regeln als für jüdische. Ich fühle mich hier an das Verhältnis zwischen schwarzen und weißen Bürger:innen in den Vereinigten Staaten erinnert, wobei der Zeitstrahl rückläufig ist, das heißt, das Leben für Araber:innen in Israel wird immer schlimmer. Dazu trägt wiederum die kriegerische Spannung zwischen Israel und der Hamas und der Hisb'Allah bei, und diese Spannung wird in absehbarer Zeit nicht nachlassen, auch wenn Israel die Infrastrukturen der Hamas im Gazastreifen tatsächlich zerstört; auf politischer Ebene bleiben die Hamas oder eine Konkurrenzorganisation die massgebenden Kräfte für die palästinensische Bevölkerung.

All das macht keinen Spaß. Ich würde mich am liebsten auf einem Traktor ankleben und auf eine Tafel schreiben: Hört endlich auf damit, richtet in diesem Staat, der meinetwegen vom Jordan bis ans Mittelmeer reichen kann, eine freie, laizistische Gesellschaft ein, in welcher alle die gleichen Rechte haben und alle ihren Anteil am Wohlstand erhalten, der auch in der israelischen Gesellschaft schon längstens für alle Bewohnende bereit stehen täte, für die Jüdinnen ebenso wie für die Mosleminnen und die Christinnen.

Kommentare
18.01.2024 / 18:17 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 18.01.. Vielen Dank !