"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Estland kopieren

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Als Sanna Marin und Jacinda Ahern im letzten Jahr von ihren Ämtern zurücktraten, beendeten sie die Ära der sozialdemokratischen Regierungen im klassischen Sinn. An der sozialdemokratischen Aus- und Einrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft ändert sich nichts, aber das demokratische Theater hat nicht mehr die gleichen Grundlagen.
Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die Kraftlinien in der Politik anders verlaufen; Organisation und Kommunikation stehen auf neuen Grundlagen und zielen aus praktischen Gründen weniger auf Programme als auf Stimmungen ab. Jede psychische Zwiebelschicht im einzelnen Individuum braucht jetzt ein entsprechendes Korrelat im politischen Spektrum, von der kleinkindlichen Lust, in beschissenen Windeln herumzulaufen, über die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit bis zu den Fantasien halbwüchsiger unternehmens­lustiger Springinsfelde; und zu alldem gesellen sich nach wie vor ansehnliche Bestände an klassischer politischer Diskussion bis hin zur Staatstheorie und ebenso weiterhin nachweisbare Spuren von Vernunft. Eine Übersicht und Klassierung im modernen Sinn ist mir allerdings im Moment nicht möglich, von den Rechtsnationalisten einmal abgesehen. Die offizielle Umwandlung der christdemokratischen Werteunion in eine Partei macht für Deutschland nur den Katalog einigermassen komplett, der sich seit der Gründung von der Sahra Wagenknecht ihrer Partei recht bunt anschaut. Nun kann man sich aus neutraler Sicht zurücklehnen und genießen.

Man kann sich auch ärgern, wenn man will, oder man kann die eigenen Tränenreserven anzapfen oder was auch immer, aber es bringt nichts. Das bisher weitgehend den aristotelischen Regeln der Einheit von Raum, Handlung und Ort folgende Schauspiel der Demokratie befindet sich ab sofort im Stadium des frei improvisierenden Theaters. So weit wie in den Vereinigten Staaten von Ame­rika wird es nicht kommen, wo nicht mehr Theater, sondern Wrestling geboten wird; Europa ist dafür viel zu fragmentiert, eine Fragmentierung, die auf der Bühne geradezu zelebriert wird und beim Publikum auf breite Zustimmung stößt, während draußen, im richtigen Leben, nicht nur die ganze Wirtschaft, sondern auch der Alltag der Menschen ohne weiteres gemäß kontinentalen Stan­dards verläuft. Wie wäre es auch anders möglich oder denk- und wünschbar. Aber das Polittheater wogt hin und her gemäss den vermuteten Stimmungslagen bei jener eigenartigen, manchmal eher gallertartigen, manchmal auch sandförmigen und manchmal sogar kristallinen Substanz, die man früher als «das Volk» bezeichnet hat. Die Stimmungslagen dieser Substanz sind dabei durchaus nicht identisch mit seiner Identität, und mit Identität meine ich hier durchaus nicht jene Werte, von denen die Werteunion schwafelt oder gar die Identitären, sondern rein technisch von der tatsäch­lichen Verfassung der Volksmassen in ihrer tatsächlichen und empfundenen Widersprüchlichkeit. So ist es zum Beispiel nicht nur denkbar, sondern hundertprozentig wahrscheinlich, dass in den nächsten Monaten, vielleicht noch rechtzeitig zur Europawahl, aber vielleicht auch erst im An­schluss daran, wenn sich die Volksmassen die Augen darüber reiben, was sie da gerade gewählt haben, aber dann spätestens ist es Zeit, dass die Klimafrage eine wuchtige Rückkehr auf die politische Bühne feiern wird. Dann werden Markus Söder und Hubert Aiwanger, Friedrich Merz und auch Heiko Maassen sich nicht die Augen reiben, sondern so tun, als wären sie schon immer die glühendsten Befürworter von Wärmepumpen und ähnlichen technischen Mitteln zur Ein­däm­mung der Klimaerwärmung gewesen. «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern», hat schon Konrad Adenauer gesagt und offenbar angefügt: «Nichts hindert mich, weiser zu werden» – was eigentlich voraussetzt, dass man schon weise ist, und so würde man das Getöse von Söder und Aiwanger in den Bierzelten nicht bezeichnen, aber sie werden es mit komplizenhaftem Lächeln so darzustellen versuchen.

Somit stellt sich die Frage nach der Organisation und dem Betrieb des Staates und seiner Institutionen unter neuen Voraussetzungen. Eigentlich ist das schön. Man kann ein von Grund auf neues Modell entwickeln, wenn man denn will und kann; denn zwangsläufig werden Modelle von Gesellschaften und Institutionen nicht um die Betrachtung ihrer Vorgänger beziehungsweise der existierenden Verhältnisse herumkommen. Aber wenn man mal von irgendeiner Form des Rätesystems ausgeht wie zum Beispiel in der Schweiz, das vom Gemeinderat über den Kantonsrat zum National- und Ständerat bis hin zum Bundesrat geht, dann wird man nicht ganz falsch liegen; es gibt populistische Ansätze, die zwar nie explizit formuliert werden, aber doch immer wieder unterstellen, dass politische Entscheidungen nicht über ein Rätesystem, sondern über so etwas wie andauernde Meinungsumfragen gefällt werden sollen. Dem spricht die rätselhafte Beschaffenheit der erwähnten Stimmungslagen entgegen, will sagen, da würde man mit einiger Sicherheit am Abend andere Entscheide fällen als am Morgen – das ist für die Gesamtgesellschaft unpraktisch, während es für das Individuum durchaus Sinn ergeben kann, am Morgen Kaffee zu trinken und am Abend Bier. Und wenn das in Bayern umgekehrt ist, so ändert dies nichts an der Sache. Nein, das Rätesystem würde ich weiterempfehlen, immer mit der begleitenden Bemerkung, dass auch ein Rätesystem nur so gut sein kann, wie die Bevölkerung, die es betreibt. Will sagen, nach wie vor gilt der Grundsatz, dass das demokratische Individuum in politischen Belangen und überhaupt mög­lichst umfassend ausgebildet sein sollte, sonst wird das weiterhin schwierig mit der Demokratie. Welcher ich als Staatsform nach wie vor anhänge, eben einfach mit der Einschränkung, dass ich gerne mal eine richtige Demokratie sehen würde anstatt ihres Schauspiels. Aber das ist wieder etwas anderes.

Von der Form her braucht man also nicht weit zu suchen; dagegen die Einrichtung ist eine andere Sache. Am letzten Freitag berichteten in einem Heute-Show-Spezial die beiden Reporter von einigen Aspekten der Verwaltung in Estland, und wenn ich Euch in Deutschland – und selbstverständlich auch uns in der Schweiz – etwas empfehlen könnte, so wäre es ganz einfach, diese Administration mit Copy-Paste in die jeweiligen Länder zu übertragen, nach dem Motto: Es geht auch einfach, es geht auch ohne Papier, es geht auch auf der Basis eines Verhältnisses unter modernen Menschen, nicht jenes des preussischen Untertanen gegenüber der hohen Verwaltung. Das allein braucht nun keine weitere Begründung und Ausführung, aber die Frage, weshalb so etwas nicht sofort geschieht, dann doch. Wer ist da zuständig beziehungsweise wer ist verantwortlich dafür, dass diesem überaus simplen Copy-Paste so viele Steine in den Weg gelegt werden? Die Argumente dagegen sind bekannt, sie sind seit zweihundert Jahren dieselben, man braucht sie auch nicht zu widerlegen, aber wer sträubt sich denn in der Praxis dagegen? Kann es sein, dass die geballte Macht der Administrationen in den Bundesländern und der Administration auf Bundesebene ihre politischen Vorgesetzten in Bund und Ländern, also die Ministerinnen auf beiden Stufen, entweder ausmanövrieren oder sich in einer derartigen Komplizenschaft mit den Magistrat:innen befinden, dass sie schon gar nicht auf die Idee kommen, so etwas anzuschieben?

Gesetzt der Fall, es wäre so: Wie hätte es eine gut meinende politische Bewegung denn einzurichten, diese Instanzen dazu zu zwingen, ihre Untätigkeit abzulegen und den Prozess ihrer eigenen Verschlankung um 50 Prozent einzuleiten? Müsste nicht dies der Gegenstand von landesweiten Protestaktionen sein? Doch, es müsste. Genau müsste es das. Es müsste auch der Gegenstand nicht von Grundsatzerklärungen und Programmen, sondern von konkreten Handlungsanleitungen in der Politik sein, aufgrund deren man Parteien wählt oder eben nicht.

Dies ist mindestens für Deutschland ein Richtwert, der genau zu beobachten ist. Die Parteien mögen sich auch noch weiter fragmentieren und nach den Details ihrer Hemdenknöpfe und Seidenblusen und -hemden ausdifferenzieren, das kann uns allen egal sein, aber eine effiziente Verwaltung ist nun mal ein Kernstück einer modernen Demokratie.

Vielleicht kommt man im Anschluss daran oder sogar gleichzeitig dazu, das Bildungswesen zu modernisieren. Die Zuständigkeit der Länder und der Kommunen leuchtet insofern ein, als der Rohstoff, nämlich die Schülerinnen und Schüler, lokal vorhanden ist; dementsprechend ist es sicher richtig, die lokalen Eigenheiten zu berücksichtigen. Das kann umgekehrt aber nicht so weit gehen, dass man unterschiedliche Inhalte vermittelt, einmal abgesehen von ein paar lokalen Eigenheiten. Naturwissenschaften, Lesen und Schreiben, Mathematik und so weiter, all das muss mindestens landesweit einheitlich verabreicht werden. Auch die Kontrolle müsste in den Händen des Bundes liegen, und zwar in der Form von sehr strengen Inspektorinnen und Inspektoren.
Abgesehen von allem könnte man sich vorstellen, dass so etwas sogar europaweit organisiert würde, denn meines Wissens gelten die Grundsätze der Physik in Tschechien genau so wie in Andorra.

Die Justiz leidet mindestens in Deutschland unter chronischer Überlastung. Auch für diesen Bereich ist die Politik zuständig, beziehungsweise sie ist im Moment dafür zuständig, nichts zu machen unter irgendwelchen politisch-praktischen Begründungen. Das ist doch einfach Bruch. Weshalb gründet nicht mal jemand eine Partei der Pragmatiker, welche sich genau solcher Dinge annimmt? Die Streitereien um die Höhe des Bürgergeldes und um die vertrackten Details in allen möglichen Ecken der Unter-Gesetzgebung gehen mir je länger, desto mehr auf den Keks; sie überdecken im Grunde genommen in erster Linie die Untätigkeit, nicht etwa bei der Revolutionierung, sondern bloß bei der Aktualisierung in verschiedenen Bereichen des Staates.

Übrigens scheint in verschiedenen Ländern der Europäischen Union auch die Welt der Illegalität neue Organisationsformen gefunden zu haben. Ich möchte hier nicht von der Clan-Kriminalität in Berlin und in anderen städtischen Ghettos sprechen, das sind eher konventionelle Erscheinungen, welche die Gesellschaft allerdings mit der gebotenen Aufmerksamkeit, um nicht zu sagen Hochachtung behandeln sollte, will sagen, mit dem angemessenen polizeilich-militärischen Eingreifen, wie es ja in allen Lehrbüchern beschrieben wird. Nein, ich meine die Berichte, die uns aus Schweden erreichen, die zwar an Berlin erinnern mögen, aber trotzdem eine Dimension angenommen haben, die die entsprechende Reaktion erfordert; und vor allem ist es die rund um den Drogenhandel organisierte Kriminalität in Belgien und in den Niederlanden, welche gerade wegen des Drogenhandels eine globale Komponente haben. Da stecken Milliarden schwere Interessen dahinter, und das hat ein anderes Gewicht als die Bandenkriminalität in Berlin oder Stockholm; das ist schon fast zu vergleichen den anderen Drogenproduzenten, der Pharmaindustrie nämlich, oder auch der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union.
Audio
10:50 min, 7783 kB, mp3
mp3, 98 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.01.2024 / 22:28

Dateizugriffe: 45

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.01.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als Sanna Marin und Jacinda Ahern im letzten Jahr von ihren Ämtern zurücktraten, beendeten sie die Ära der sozialdemokratischen Regierungen im klassischen Sinn. An der sozialdemokratischen Aus- und Einrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft ändert sich nichts, aber das demokratische Theater hat nicht mehr die gleichen Grundlagen.
Vermutlich hängt das damit zusammen, dass die Kraftlinien in der Politik anders verlaufen; Organisation und Kommunikation stehen auf neuen Grundlagen und zielen aus praktischen Gründen weniger auf Programme als auf Stimmungen ab. Jede psychische Zwiebelschicht im einzelnen Individuum braucht jetzt ein entsprechendes Korrelat im politischen Spektrum, von der kleinkindlichen Lust, in beschissenen Windeln herumzulaufen, über die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit bis zu den Fantasien halbwüchsiger unternehmens­lustiger Springinsfelde; und zu alldem gesellen sich nach wie vor ansehnliche Bestände an klassischer politischer Diskussion bis hin zur Staatstheorie und ebenso weiterhin nachweisbare Spuren von Vernunft. Eine Übersicht und Klassierung im modernen Sinn ist mir allerdings im Moment nicht möglich, von den Rechtsnationalisten einmal abgesehen. Die offizielle Umwandlung der christdemokratischen Werteunion in eine Partei macht für Deutschland nur den Katalog einigermassen komplett, der sich seit der Gründung von der Sahra Wagenknecht ihrer Partei recht bunt anschaut. Nun kann man sich aus neutraler Sicht zurücklehnen und genießen.

Man kann sich auch ärgern, wenn man will, oder man kann die eigenen Tränenreserven anzapfen oder was auch immer, aber es bringt nichts. Das bisher weitgehend den aristotelischen Regeln der Einheit von Raum, Handlung und Ort folgende Schauspiel der Demokratie befindet sich ab sofort im Stadium des frei improvisierenden Theaters. So weit wie in den Vereinigten Staaten von Ame­rika wird es nicht kommen, wo nicht mehr Theater, sondern Wrestling geboten wird; Europa ist dafür viel zu fragmentiert, eine Fragmentierung, die auf der Bühne geradezu zelebriert wird und beim Publikum auf breite Zustimmung stößt, während draußen, im richtigen Leben, nicht nur die ganze Wirtschaft, sondern auch der Alltag der Menschen ohne weiteres gemäß kontinentalen Stan­dards verläuft. Wie wäre es auch anders möglich oder denk- und wünschbar. Aber das Polittheater wogt hin und her gemäss den vermuteten Stimmungslagen bei jener eigenartigen, manchmal eher gallertartigen, manchmal auch sandförmigen und manchmal sogar kristallinen Substanz, die man früher als «das Volk» bezeichnet hat. Die Stimmungslagen dieser Substanz sind dabei durchaus nicht identisch mit seiner Identität, und mit Identität meine ich hier durchaus nicht jene Werte, von denen die Werteunion schwafelt oder gar die Identitären, sondern rein technisch von der tatsäch­lichen Verfassung der Volksmassen in ihrer tatsächlichen und empfundenen Widersprüchlichkeit. So ist es zum Beispiel nicht nur denkbar, sondern hundertprozentig wahrscheinlich, dass in den nächsten Monaten, vielleicht noch rechtzeitig zur Europawahl, aber vielleicht auch erst im An­schluss daran, wenn sich die Volksmassen die Augen darüber reiben, was sie da gerade gewählt haben, aber dann spätestens ist es Zeit, dass die Klimafrage eine wuchtige Rückkehr auf die politische Bühne feiern wird. Dann werden Markus Söder und Hubert Aiwanger, Friedrich Merz und auch Heiko Maassen sich nicht die Augen reiben, sondern so tun, als wären sie schon immer die glühendsten Befürworter von Wärmepumpen und ähnlichen technischen Mitteln zur Ein­däm­mung der Klimaerwärmung gewesen. «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern», hat schon Konrad Adenauer gesagt und offenbar angefügt: «Nichts hindert mich, weiser zu werden» – was eigentlich voraussetzt, dass man schon weise ist, und so würde man das Getöse von Söder und Aiwanger in den Bierzelten nicht bezeichnen, aber sie werden es mit komplizenhaftem Lächeln so darzustellen versuchen.

Somit stellt sich die Frage nach der Organisation und dem Betrieb des Staates und seiner Institutionen unter neuen Voraussetzungen. Eigentlich ist das schön. Man kann ein von Grund auf neues Modell entwickeln, wenn man denn will und kann; denn zwangsläufig werden Modelle von Gesellschaften und Institutionen nicht um die Betrachtung ihrer Vorgänger beziehungsweise der existierenden Verhältnisse herumkommen. Aber wenn man mal von irgendeiner Form des Rätesystems ausgeht wie zum Beispiel in der Schweiz, das vom Gemeinderat über den Kantonsrat zum National- und Ständerat bis hin zum Bundesrat geht, dann wird man nicht ganz falsch liegen; es gibt populistische Ansätze, die zwar nie explizit formuliert werden, aber doch immer wieder unterstellen, dass politische Entscheidungen nicht über ein Rätesystem, sondern über so etwas wie andauernde Meinungsumfragen gefällt werden sollen. Dem spricht die rätselhafte Beschaffenheit der erwähnten Stimmungslagen entgegen, will sagen, da würde man mit einiger Sicherheit am Abend andere Entscheide fällen als am Morgen – das ist für die Gesamtgesellschaft unpraktisch, während es für das Individuum durchaus Sinn ergeben kann, am Morgen Kaffee zu trinken und am Abend Bier. Und wenn das in Bayern umgekehrt ist, so ändert dies nichts an der Sache. Nein, das Rätesystem würde ich weiterempfehlen, immer mit der begleitenden Bemerkung, dass auch ein Rätesystem nur so gut sein kann, wie die Bevölkerung, die es betreibt. Will sagen, nach wie vor gilt der Grundsatz, dass das demokratische Individuum in politischen Belangen und überhaupt mög­lichst umfassend ausgebildet sein sollte, sonst wird das weiterhin schwierig mit der Demokratie. Welcher ich als Staatsform nach wie vor anhänge, eben einfach mit der Einschränkung, dass ich gerne mal eine richtige Demokratie sehen würde anstatt ihres Schauspiels. Aber das ist wieder etwas anderes.

Von der Form her braucht man also nicht weit zu suchen; dagegen die Einrichtung ist eine andere Sache. Am letzten Freitag berichteten in einem Heute-Show-Spezial die beiden Reporter von einigen Aspekten der Verwaltung in Estland, und wenn ich Euch in Deutschland – und selbstverständlich auch uns in der Schweiz – etwas empfehlen könnte, so wäre es ganz einfach, diese Administration mit Copy-Paste in die jeweiligen Länder zu übertragen, nach dem Motto: Es geht auch einfach, es geht auch ohne Papier, es geht auch auf der Basis eines Verhältnisses unter modernen Menschen, nicht jenes des preussischen Untertanen gegenüber der hohen Verwaltung. Das allein braucht nun keine weitere Begründung und Ausführung, aber die Frage, weshalb so etwas nicht sofort geschieht, dann doch. Wer ist da zuständig beziehungsweise wer ist verantwortlich dafür, dass diesem überaus simplen Copy-Paste so viele Steine in den Weg gelegt werden? Die Argumente dagegen sind bekannt, sie sind seit zweihundert Jahren dieselben, man braucht sie auch nicht zu widerlegen, aber wer sträubt sich denn in der Praxis dagegen? Kann es sein, dass die geballte Macht der Administrationen in den Bundesländern und der Administration auf Bundesebene ihre politischen Vorgesetzten in Bund und Ländern, also die Ministerinnen auf beiden Stufen, entweder ausmanövrieren oder sich in einer derartigen Komplizenschaft mit den Magistrat:innen befinden, dass sie schon gar nicht auf die Idee kommen, so etwas anzuschieben?

Gesetzt der Fall, es wäre so: Wie hätte es eine gut meinende politische Bewegung denn einzurichten, diese Instanzen dazu zu zwingen, ihre Untätigkeit abzulegen und den Prozess ihrer eigenen Verschlankung um 50 Prozent einzuleiten? Müsste nicht dies der Gegenstand von landesweiten Protestaktionen sein? Doch, es müsste. Genau müsste es das. Es müsste auch der Gegenstand nicht von Grundsatzerklärungen und Programmen, sondern von konkreten Handlungsanleitungen in der Politik sein, aufgrund deren man Parteien wählt oder eben nicht.

Dies ist mindestens für Deutschland ein Richtwert, der genau zu beobachten ist. Die Parteien mögen sich auch noch weiter fragmentieren und nach den Details ihrer Hemdenknöpfe und Seidenblusen und -hemden ausdifferenzieren, das kann uns allen egal sein, aber eine effiziente Verwaltung ist nun mal ein Kernstück einer modernen Demokratie.

Vielleicht kommt man im Anschluss daran oder sogar gleichzeitig dazu, das Bildungswesen zu modernisieren. Die Zuständigkeit der Länder und der Kommunen leuchtet insofern ein, als der Rohstoff, nämlich die Schülerinnen und Schüler, lokal vorhanden ist; dementsprechend ist es sicher richtig, die lokalen Eigenheiten zu berücksichtigen. Das kann umgekehrt aber nicht so weit gehen, dass man unterschiedliche Inhalte vermittelt, einmal abgesehen von ein paar lokalen Eigenheiten. Naturwissenschaften, Lesen und Schreiben, Mathematik und so weiter, all das muss mindestens landesweit einheitlich verabreicht werden. Auch die Kontrolle müsste in den Händen des Bundes liegen, und zwar in der Form von sehr strengen Inspektorinnen und Inspektoren.
Abgesehen von allem könnte man sich vorstellen, dass so etwas sogar europaweit organisiert würde, denn meines Wissens gelten die Grundsätze der Physik in Tschechien genau so wie in Andorra.

Die Justiz leidet mindestens in Deutschland unter chronischer Überlastung. Auch für diesen Bereich ist die Politik zuständig, beziehungsweise sie ist im Moment dafür zuständig, nichts zu machen unter irgendwelchen politisch-praktischen Begründungen. Das ist doch einfach Bruch. Weshalb gründet nicht mal jemand eine Partei der Pragmatiker, welche sich genau solcher Dinge annimmt? Die Streitereien um die Höhe des Bürgergeldes und um die vertrackten Details in allen möglichen Ecken der Unter-Gesetzgebung gehen mir je länger, desto mehr auf den Keks; sie überdecken im Grunde genommen in erster Linie die Untätigkeit, nicht etwa bei der Revolutionierung, sondern bloß bei der Aktualisierung in verschiedenen Bereichen des Staates.

Übrigens scheint in verschiedenen Ländern der Europäischen Union auch die Welt der Illegalität neue Organisationsformen gefunden zu haben. Ich möchte hier nicht von der Clan-Kriminalität in Berlin und in anderen städtischen Ghettos sprechen, das sind eher konventionelle Erscheinungen, welche die Gesellschaft allerdings mit der gebotenen Aufmerksamkeit, um nicht zu sagen Hochachtung behandeln sollte, will sagen, mit dem angemessenen polizeilich-militärischen Eingreifen, wie es ja in allen Lehrbüchern beschrieben wird. Nein, ich meine die Berichte, die uns aus Schweden erreichen, die zwar an Berlin erinnern mögen, aber trotzdem eine Dimension angenommen haben, die die entsprechende Reaktion erfordert; und vor allem ist es die rund um den Drogenhandel organisierte Kriminalität in Belgien und in den Niederlanden, welche gerade wegen des Drogenhandels eine globale Komponente haben. Da stecken Milliarden schwere Interessen dahinter, und das hat ein anderes Gewicht als die Bandenkriminalität in Berlin oder Stockholm; das ist schon fast zu vergleichen den anderen Drogenproduzenten, der Pharmaindustrie nämlich, oder auch der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union.