Albert Jörimann - Schwarzmeerflotte

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Letzte Woche habe ich irgendwo gelesen, dass die Ukrainer:innen die russische Schwarzmeerflotte praktisch vollkommen außer Gefecht gesetzt hätten. Wie bitte, habe ich mir gedacht, ein paar Schiffe haben sie versenkt, zugegeben, unter anderem das Flaggschiff, aber beim Rest handelte es sich wohl eher um Landungsschiffe?
Audio
11:20 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.02.2024 / 23:45

Dateizugriffe: 27

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.02.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Letzte Woche habe ich irgendwo gelesen, dass die Ukrainer:innen die russische Schwarzmeerflotte praktisch vollkommen außer Gefecht gesetzt hätten. Wie bitte, habe ich mir gedacht, ein paar Schiffe haben sie versenkt, zugegeben, unter anderem das Flaggschiff, aber beim Rest handelte es sich wohl eher um Landungsschiffe?
Wie stark diese Flotte nun tatsächlich beschädigt ist, weiß ich also nicht, dagegen weiß ich, dass sie eingekesselt ist im schwarzen Meer, weil die Türkei den Bosporus gesperrt hat, und damit weiß ich auch, dass einer der ausschlaggebenden Gründe für die Besetzung der Ostukraine und der Krim seinerseits Schlagseite erlitten hat, nämlich eben der Schutz der russischen Schwarzmeerflotte vor dem Zugriff durch die Nato.

Nun ist zu den ukrainischen Schlägen gegen die russische Flotte anzufügen, dass diese Angriffe mit von der Nato gelieferten Waffen ausgeführt wurden, von Startplätzen in der Ukraine aus, aber mit Unterstützung von Nato-Satelliten und mit Nato-Geschützleittechnik, soviel ist schon mal klar. Das bringt allerdings keine Klarheiten ins Kriegsgeschehen; vielmehr muss man annehmen, dass die russische Heeresführung alles daran setzen wird, diese Angriffe auf ihre Flotte zu unterbinden, sei es durch den Einsatz von elektronischen Abwehrsystemen gegen die Raketen oder Drohnen oder aber eben durch eine Intensivierung des Kriegsgeschehens auf dem Lande oder beides. Jedenfalls hat sich offenbar einer der wichtigsten Kriegsgründe auf für mich unerwartete Weise zugespitzt. Wie ein Waffenstillstand oder gar ein stabiler Friedensvertrag unter diesen Voraussetzungen aussehen soll, davon habe ich nun erst recht keine Ahnung mehr.

Etwas steht ebenfalls fest: Wenn die Ukraine bis vor zehn oder vielleicht sogar bis vor fünf Jahren ein hoffnungslos korrupter Staat war, von dessen Beitritt zur EU jeder vernünftige Mensch dringend abgeraten hätte, also ich meine der EU, nicht der Ukraine, so hat der Krieg die Nation zusammen­geschweißt und vielleicht überhaupt erst zur Nation geformt. Damit entfällt ein zentraler Umwelt­faktor für die Korruption, nämlich die Einstellung, dass es eh scheißegal ist, was man so tut, wes­halb man in erster Linie für sich selber zu schauen hat. Die Bildung des Nationalstaates wirkt diesen Tendenzen mächtig entgegen, indem sie eine Gemeinschaft herstellt; das hatte ich zuvor in der Ukraine nicht wahrgenommen, auch wenn ich jetzt nicht wirklich intim war mit diesem Land. Aber so etwas kommt vor, und unter diesen Umständen ist es kaum mehr realistisch, dass ein autoritäres Regime im Stil oder unter der Fuchtel von Putin-Russland das Land unter Kontrolle halten wird, mindestens nicht, wenn nicht der ganze Rest des Landes wieder ins Mittelalter zurückgebombt wird. Dafür gibt es umgekehrt militärisch keinen Grund. Ansonsten gilt hier wie überall: The Future is not ours to see – che serà, serà.

Es mag übertrieben bescheiden tönen, wenn man auf diese Art auf den Blick in die Zukunft oder gar auf Visionen verzichtet. Anderseits habe ich seit längerer Zeit den Eindruck, dass wir uns tatsächlich gescheiter der Gegenwart zuwenden, statt mit Grundsatzerklärungen in der Luft herum zu fuchteln. Die Landwirtschaft zum Beispiel wird in der Europäischen Union mit 40% des Gesamthaushaltes subventioniert, für das Jahr 2021 55 Milliarden Euro. Wie kann es dazu kommen, dass unter solchen Umständen die Bäuerinnen und Bauern Zeter und Mordio schreien? Auf Deutschland entfallen davon etwa 6 Milliarden; davon sind 5 Milliarden Direktzahlungen. Der BUND schreibt dazu: «In Deutschland kassieren 1.7% der Betriebe ein Viertel aller Direktzahlungen.» Das erinnert mich stark an die Zahlen zur Vermögensverteilung in den entwickelten Ländern. Eigenartigerweise richtet sich der Protest der Bäuerinnen und Bauern aber nicht gegen diese eigenartige Schlagseite, sondern gegen ein paar Projekte, welche eine stärkere ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft fordern. In Polen dagegen hupen die Bäuerinnen und Bauern gegen Importe aus der Ukraine, die ich übrigens ebenfalls nicht begreife; ich dachte, die Exporte der Ukraine gehen durch Polen hindurch wie ein warmes Messer durch Butter und werden in Danzig in Richtung Weltmarkt eingeschifft? Was sollen denn diese Agrargüter bei Euren hilflosen Nachbarn, die allenfalls seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union mit allen Mitteln die Umpolung der Ukraine vom russischen zum westeuropäischen Block betrieben haben, aber ansonsten nun wirklich keine Verantwortung tragen für das ganze Desaster?
In Frankreich sieht die Krise nochmals anders aus. Dort bezieht der Landwirtschaftssektor 8 bis 9 Milliarden Euro von der Europäischen Union für einen Produktionszweig, der ungefähr den gleichen Anteil der Erwerbstätigen beschäftigt wie in Deutschland, nämlich um die 2 Prozent. Allerdings haben dort schon seit langer Zeit Technokratinnen dafür gesorgt, dass die Struktur auf Produktivitätssteigerung um jeden Preis getrimmt wurde, was in etwa der Hälfte des Landes zum Verschwinden aller kleinen Betriebe geführt hat. Italien bezieht für seine 60 Millionen Einwohne­rinnen etwas weniger als Deutschland, weist aber einen doppelt so hohen Anteil an Beschäftigten in der Landwirtschaft aus. Auch das geht. Selbstverständlich haben die Bauernverbände auf den 10. Februar zum Marsch auf Rom aufgerufen in der schönen Tradition der Faschisten, deren Marsch auf Rom vor 102 Jahren stattfand. Bloß sind die Faschisten in Italien nominell ja schon an der Macht, die Ministerpräsidentin heißt zwar nicht Oliva, aber doch immerhin Meloni, und der Landwirtschaftsminister ist niemand anderes als ihr persönlicher Schwager. Da stimmen die Koordinaten nicht so ganz, aber wie auch immer und was wollte ich eigentlich sagen und beweisen: eigentlich nur, dass man mit Direktzahlungen im Prinzip eine landwirtschaftliche Produktion einrichten könnte, die nicht einmal übertrieben umweltschädlich wäre, die Nahrungsmittel-Bedürfnisse der Bevölkerung locker befriedigen könnte – also kann die Frage nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart doch wohl nur lauten: Warum tut man's denn nicht?

Ich habe einen Verdacht, nämlich geht es in Richtung von Macht und Geld und Bauernverbände, übrigens nicht nur in der nationalen und kontinentalen Dimension, sondern auf globaler Ebene, wie in Robert Menasses Roman Hauptstadt sehr plausibel dargelegt wird. Und ich habe einen zweiten Verdacht: Es gibt keine Bewegung und schon gar keine politische Bewegung oder gar eine politische Partei, welche in der Lage wäre, ein vernünftiges, höchst gegenwärtiges Gegenprojekt zum Status quo zu entwerfen.

Dieser Verdacht gilt übrigens für weitere Bereiche von Gesellschaft und Politik, nicht nur in den Mitgliedländern der Europäischen Union. Das wiederum hat möglicherweise damit zu tun, dass die EU trotz allem noch ein vergleichsweise junges Gebilde ist, in dem sich die Kräftevektoren immer noch einspielen müssen. Vielmehr ist es ja so, dass sich die Bevölkerung nach wie vor gar nicht beteiligt an diesem Spiel, wenn man mal die Europawahlen ausnimmt; daneben gibt es kaum gemeinsame Aktionen, es scheint auch keine gemeinsamen Interessen zu geben, was zum Beispiel bei den Gewerkschaften durchaus ein Thema sein könnte. Aber offenbar sind die Mitglieder zu lahm, und die Funktionär:innen haben keine Zeit, mal ein breites Programm aufzusetzen, im Rahmen dessen die europäische Dimension von Wirtschaft und Arbeitskräften thematisiert wird, und zwar selbstverständlich nicht mit Folklore-Anlässen, sondern mit Informationen, zum Beispiel über Stellantis im Verhältnis zu VW, wenn man mal die Automobilindustrie nehmen will. Aber auch die Landwirt:innen könnten mal einen Hüpfer über ihre Grenzen tun und sich gegenseitig besuchen und sich ausnahmsweise mal am Wein der anderen berauschen.

Davon abgesehen stelle ich mir hin und wieder die Frage, ob es wohl zutrifft, was mir im öffentlichen Raum immer wieder vermittelt wird, nämlich dass sich nicht nur die Kommunikation, sondern generell die Aufnahmefähigkeit der Menschen zunehmend auf die Spanne von Instagram- und Tiktok-Clips reduziert. Das wäre dann schon etwas eigenartig, weil ich mir vorstelle, dass Tiktok so etwas wie einen Dauer-Schluckauf herstellt mit lustigem Kurzfutter. Aber das nährt doch seinen Mann und seine Frau nicht wirklich, sage ich mir dann, irgendwo da draußen im Dschungel des Alltags müssen auch bei den jüngeren Generationen noch ganze Rudel an vernünftigen Lebewesen versteckt liegen, welche nach wie vor genüsslich an ihren Langfutter-Knochen nagen. Zum Beispiel anlässlich des 110. Geburtstags von William S. Burroughs. Im Jahr 1959 erschien sein Naked Lunch, ein Leuchtturmroman der Beat Generation, die mit Drogen und Exzessen und Drogenexzessen arbeitete, das Buch oft assoziativ und unzusammenhängend, all das, was die heutige Literaturkritik wohl nicht mal mehr zu lesen fähig wäre. Ich erwähne ihn an dieser Stelle aber vor allem wegen eines Interviews mit seinem Persisch- oder Farsi-Übersetzer Farid Ghadami, der 2016 mit der Publikation von Burroughs-Übersetzungen begonnen hat. The Naked Lunch wurde im Iran im Jahr 2020 veröffentlicht. Und offenbar auch einigermaßen breit rezipiert, wenn ich auch nicht in der Lage bin, das Lesepublikum im Iran mengenmässig zu überblicken. Jedenfalls sagt Ghadami, dass The Naked Lunch für die Amerikaner:innen so etwas wie ein Roman sei, während es im Iran ein Buch aus dem Leben sei mit all der Kritik an Kapitalismus und vor allem Kontrolle. Trotzdem gab es offenbar kaum Schwierigkeiten mit dem Kulturministerium bei der Genehmigung der Übersetzung; er habe nur ein paar Linien und Worte entfernen müssen. Offenbar sei die im Buch vorgetragene Kritik an Amerika so stark, dass es die Sympathien der Behörden geweckt habe. Die zensierten Stellen habe er dann alle auf Social-Media-Plattformen publiziert, das mache er so mit all seinen Übersetzungen. Daneben verweist Ghadami noch auf die Verbindung zwischen Burroughs und Hassan Sabbah, den Begründer der Sekte der Assassinen, woher nicht nur das Wort Haschisch kommt, sondern auch das französische Assassin für Mörder. Sabbah spielt eine wichtige Rolle in Burroughs Roman Nova Express und das Haschisch selbstverständlich eine wichtige Rolle in Burroughs Leben nach seiner Heroinabhängigkeit.

Ghadami referiert übrigens anhand des Dr. Benway über Foucaults Schriften zu Spital und Kontrolle zum einen, über Walt Whitmans Beschreibungen aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg zum anderen, ein Bürgerkrieg übrigens, der vor 160 Jahren 600'000 Todesopfer forderte. Vor allem Foucaults Vortrag kommt mir heute, im Zeitalter der umfassenden und allgegenwärtigen pharmazeutischen und medizinischen Versorgung, immer unter dem Vorbehalt der Krankenkassendeckung, ziemlich exotisch vor; hier hat die Zeit ihre eigene analytische Arbeit geleistet und Foucault mindestens relativiert, wo nicht entwertet. Nichtsdestotrotz ist vielleicht weniger das Interview mit Ghadami, aber doch das ganze Schaffen der Beat Generation auch heute oder vielleicht erst recht heute, als wilder Gegenpol zur Droge Tiktok, der Generation Z zur Lektüre zu empfehlen.