Kain und Abel - Brief an einen südamerikanischen Freund

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Die deutsche Fassung eines Briefes des Philosophen und Publizisten Wolfgang Schmidt über die historischen Hintergründe des Israel-Palästina-Konflikts.
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14:30 min, 27 MB, mp3
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Upload vom 24.04.2024 / 22:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Kultur, Politik/Info
Serie: Disskussionsbeitrag
Entstehung

AutorInnen: CoLaboRadIO
Radio: Freies Radio Berlin, Berlin
Produktionsdatum: 24.04.2024
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Kain und Abel - ein Brief von Wolfgang Schmidt

anmod:
Der Philosoph und Publizist Wolfgang Schmidt hat über viele Jahre in Ecuador in linkspolitischen Zusammenhaengen gelebt und gearbeitet. die aktuellen, oft sehr vereinfachenden Positionen vieler dortiger Linker zum Gaza-Krieg hatten ihn Anfang des Jahres dazu gebracht, einen Brief an einen befreundeten, im weiteren nicht näher benannten, in Lateinamerika renommierten Dokumentarfilmer zu schreiben. Dieser hatte einen clip, ein Video, zu eben diesem Krieg gemacht - auf den Wolfgang Schmidt mit besagtem Brief reagiert hat. Die deutsche Fassung des Briefes hatte Schmidt verschiedenen deutschsprachigen Teitschriften angeboten, die ihn, bei aller Freundlichkeit und viel Verständnis, aber dann doch nicht abdrucken wollten.
Soweit der Vorgang fuer die folgende Lesung, die als ein Beitrag zur Diskussion verstanden sein will.
Leider ist Wolfgang Schmidt wegen einer schweren Erkrankung aktuell nicht in der Lage, den Brief selbst zu vorzulesen; sein Freund Detlev Schneider hat dies nun übernommen.

KAIN UND ABEL – Brief an einen südamerikanischen Freund

In deinem Video mit dem Titel „Endlösung“ hast du dich zum Krieg in
Palästina geäußert. Mit suggestiven Bildern der Bombardierung Gazas
und der allzu vielen palästinensischen Opfer behauptest du, Israel suche
die Lösung des Palästina Konflikts durch den Genozid der Palästinenser
zu erzwingen, und diese Meinung wird von großen Teilen der
lateinamerikanischen Linken und generell des globalen Südens geteilt.
Nun, es zeugt von historischer Blindheit, den Holocaust mit der Besetzung
der Westbank, der repressiven israelischen Politik und der Bombardierung
Gazas gleich zu setzen. Der Holocaust war der Endpunkt von
jahrhundertelangem Antisemitismus, der Verfolgung und Progrome in
Europa., die im Projekt der industriellen Vernichtung der Juden ihre blutige
Messe erlebte.
Die Gründung des Staates Israel war das Ergebnis der Shoah, nicht das
eines Projektes kolonialer Eroberung im Sinne der territorialen
Inbesitznahme mit dem Ziel ökonomischer Ausbeutung und des Transfers
des Profits an das koloniale Zentrum. Die Juden, die überlebt haben,
suchten nach der Katastrophe einen sicheren Ort, an dem sie weder verfolgt
noch ermordet werden konnten. Ihre Wünsche verzahnten sich mit dem
Interesse der britischen Kolonialmacht, sich des Palästina Problems zu
entledigen und ihrer Unfähigkeit, einen politischen Raum im Nahen Osten
zu öffnen, in dem sich postkoloniale Formen der Selbstbestimmung und
staatlicher Organisation hätten entwickeln können. Es hätte des politischen
Eingeständnisses bedurft, dass das Britische Imperium nach dem zweiten
Weltkrieg am Ende war, aber daraus eine Verantwortung entspränge, mit
den Trümmern des Weltreichs politisch so umzugehen, dass nicht aus ihnen
neue, kriegerische Auseinandersetzung entstünden. Das ist nicht geschehen,
und so nahm die Tragödie des palästinensischen Volkes, das weder mit der
Geschichte des europäischen Antisemitismus noch mit dem Holocaust
etwas zu tun hatte, seinen Lauf. Palästina wurde zum Opfer, das weder die
Briten noch die Deutschen entrichtet haben. Trotz aller öffentlichen Rituale
des Bekenntnisses der kollektiven, deutschen Schuld. Und da es sich um
abstrakte Bekenntnisse und nicht um politische und kulturelle
Selbsterforschung handelt, bleibt den Deutschen das schlechte Gewissen,
das ihnen jede politische Rolle der Vermittlung in dem Konflikt verwehrt.
Die Gründung Israels als jüdischem, also nicht multiethnischem,
politischem Gebilde, in dem Juden, Moslems, Christen und Atheisten ohne
Diskriminierung hätten zusammen leben können, war der größte politische
Fehler der Nachkriegszeit und des sich anbahnenden Zusammenbruchs der
Kolonialreiche. Der Fehler war freilich kein technischer, keine einfache,
politische Kurzsichtigkeit, der Fehler lag in der Unfähigkeit und dem
Unwillen, die Ursachen des Antisemitismus, des Holocaust und der
kolonialen Verbrechen nach dem gerade zu Ende gegangenen Weltkrieg
zu benennen und die politische Verantwortung dafür zu übernehmen.
Nur so hätte man gemeinsam mit der neuen, noch nicht vom Kolonialismus
gezeichneten Weltmacht USA und allen beteiligten, regionalen Akteuren,
politische Strukturen im Nahen Osten entwickeln können, die sowohl den
Kolonialismus als auch die Geschichte des europäischen Antisemitismus
hätten überwinden können. Keine der europäischen Mächte einschließlich
der USA waren dazu angesichts des sich abzeichnenden Ost-West Konflikts
in der Lage oder Willens, stattdessen opferten sie die Palästinenser, indem
sie einen rein jüdischen Staat entgegen der Zweistaatenlösung der UNO
zuließen. Das Ergebnis waren 75 Jahren voller Gewalt und Krieg, die nicht
nur den Nahen Osten vergifteten, sondern das Verhältnis des Westens zum
globalen Süden nachhaltig beschädigten.
Nach dem Zerfall des osmanischen Reiches gegen Ende des ersten
Weltkrieges haben England und Frankreich den Mittleren Osten mit dem
Lineal unter sich aufgeteilt, ohne dabei die ethnische, religiöse und tribale
Diversität der Region zu berücksichtigen, und damit schufen sie ein
nachhaltiges, politisches Pulverfass. Und da sowohl Juden als auch
Palästinenser das ganze Land für sich beanspruchten, explodierte das Fass
am Tag der Gründung Israels mit dem ersten Palästinakrieg. Es war nicht
ein koloniales Projekt der Juden, sondern das historische Versagen des sich
herausbildenden Westens, das den Nahen Osten in Brand setzte.
Der jüdische Terror vor der Staatsgründung und die darauf folgende Nakba
initiierten die repressive, israelische Politik und den darauf folgenden
palästinensischen Widerstand. Damit verfestigte sich ein feindliches, von
Hass geprägtes Muster, das zu einer segregierten israelischen Gesellschaft
führte und das politische Lösungen unmöglich zu machen schien.
Der einzige und bisher letzte, ernsthafte Versuch einer Verhandlungslösung,
der Oslo-Friedensprozess, endete mit dem Mord Rabins durch einen
orthodoxen Juden und die Gewalt der radikalen Palästinenser, die das Oslo-
Abkommen ablehnten. Die zunehmende Teilung auf beiden Seiten des
Konfliktes zwischen den Kräften, die eine Verhandlungslösung suchten und
denen, die eine unilaterale, fundamentalistische Strategie verfolgten, macht
eine andere Dimension der Tragödie sichtbar – den Religionskrieg
zwischen zwei monotheistischen Glaubensrichtungen, die von
unversöhnlichem Absolutheitsanspruch geprägt sind. Das Territorium wird
nicht mehr als politischer, sozialer und kultureller und damit veränderbarer
Raum wahrgenommen, sondern als heiliges Land, als Einheit von Blut und
Boden. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass die faschistische
Ideologie der ontologischen Verschmelzung des Volkskörpers mit dem
Siedlungsgebiet unmittelbar nach der Shoa im Heiligen Land wieder
auferstand, und mit der Sakralisierung des Landes ging die Politisierung
der Religion einher. Orthodoxem Judentum und politischem Islam geht es
nicht um Verhandlungen, sondern um die Auslöschung des anderen, des
Ungläubigen. Indem der Konflikt des mittleren Ostens den religiösen
Fundamentalismus mit territorialen Interessen in einer ideologischen
Einheit verknüpft, macht er die aktuellen, universellen Konflikte
konzentriert wie in einem Kristall sichtbar: Land, Identität, Religion,
Nation und autoritäre Führung als Zentrum des politischen Raums.
Die Transformation der sozialen Widersprüche in Widersprüche kultureller
und ethnischer Identität bedeutet das Ende säkularer, demokratischer Foren
des Aushandelns und die Renaissance des Kampfes von Kain und Abel um
die Gunst des alleinigen, wahren Gottes.
Die Hamas entstand durch die Politisierung der Religion durch die
Moslembrüder und ihr Ziel der Vernichtung des Staates Israel und der
Juden sowie aller anderen Ungläubigen als Gottesauftrag traf sich mit
Netanyahus Strategie, die Zweistaatenlösung zu unterminieren, die
Westbank zu kolonisieren und die Palästinenser zu spalten.
Netanyahus Duldung der Hamas und die politische Marginalisierung
des Palästinakonflikts führten zur Stärkung der orthodoxen Rechten, der
Vertiefung der internen Segregation in Israel und der Radikalisierung der
Palästinenser. Die Hamas etablierte ein autoritäres Regime, nicht um Gaza
zu entwickeln, sondern um den Staat Israel zu vernichten, und das Kalifat
und die Scharia einzuführen, und so treffen sich die verfeindeten,
fundamentalistischen Brüder in der gemeinsamen Ablehnung des säkularen
Staates, der Demokratie und der „westlichen Dekadenz“. Der ökonomische
und soziale Hintergrund des Konflikts wird dabei vom religiös-
faschistoiden Duktus beider Seiten verschleiert, ein Muster, das sich
weltweit ausbreitet. Das Oktober - Massaker war die Antwort der Hamas
auf die Annäherung zwischen den arabischen Staaten und Israel und der
damit verbundenen, zunehmenden Marginalisierung der Palästinafrage.
Die Vision der Golfstaaten, den Nahen Osten in ein neues Silikon Valley
und zu einem Zentrum ökonomischer Dynamik zwischen Asien und Europa
zu entwickeln, bedarf zu seiner Realisierung der Kooperation mit Israel,
und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war dazu ein erster Schritt.
Die Hamas mit ihrer Verbindung zu den Muslimbrüdern und die
Palästinenser in der Flüchtlingslagern störten diese Strategie. Mit der sich
abzeichnenden Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Saudi
Arabien und Israel lief die Hamas Gefahr, in der politischen
Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Die arabische Doppelzüngigkeit
und die beschleunigte Kolonisierung des Westjordanlandes durch
israelische Siedler trieben die Hamas dazu, mit einem Blutbad und der
zynisch kalkulierten Produktion von Märtyrern und palästinensischen
Zivilopfern durch die absehbare militärische Antwort Israels die
Palästinafrage wieder auf die politische, internationale Bühne zu holen,
und das ist ihr zweifellos gelungen. Es war klar, dass sich mit jedem Tag
israelischer Militärschläge gegen die palästinensische Zivilbevölkerung
grauenhafte Bilder der Zerstörung und des Todes verbreiten würden, die
zur internationalen Solidarisierung mit den Palästinensern führen mussten.
Diese Bilder haben im globalen Süden längst die Bilder des Oktober-
Massakers verdrängt, und dein Video ist ein markantes Beispiel dafür.
Die Macht der Bilder verdrängt die Analyse zugunsten moralischer
Empörung und ideologischer Überhitzung, es geht nicht darum, den
Konflikt in seiner Komplexität zu verstehen, um politische Lösungen
zu ermöglichen, sondern um Parteinahme und Gefolgschaft.
Jeder Versuch, die historische Genese des Konflikts analytisch
nachzuvollziehen, wird entweder der falschen Kontextualisierung und
des Antisemitismus oder der Kollaboration mit der imperialistischen
Kolonialmacht bezichtigt.
Tel Aviv war eine kosmopolitische, liberale Stadt, in der Juden, Moslems
Christen und Atheisten einen Raum bewohnten, und in dem gemeinsames
Leben möglich war. Damit war sie auch ein lebendiges, wenn auch fragiles
Symbol der Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts. Sowohl die
Hamas als auch die orthodoxen Juden sahen dagegen in ihr ein Symbol
westlicher, dekadenter Ungläubigkeit. Sowohl das Blutbad, das die Hamas
anrichtete als auch die Transformation des Rechts auf Selbstverteidigung in
einen Feldzug der Rache haben dieses einzigartige Symbol vermutlich
nachhaltig zerstört. Und damit gibt es kein reales Bild möglichen
Zusammenlebens mehr, an das die feindlichen Brüder anknüpfen könnten,
um ihre Tragödie in eine politische Form der Nachbarschaft zu verwandeln.
Es ist schwer erträglich zu sehen, wie Studenten, Indios, ökologische
Aktivisten, Feministinnen und andere Gruppen des linken Spektrums
Lateinamerikas die Hamas als Widerstandsbewegung eines antikolonialen
Befreiungskrieges und die Oktobermassaker als Sieg feiern. Falls die
Hamas siegte und das Kalifat ausriefe, wären diese Hamas-Unterstützer
unter den ersten, die im Gefängnis oder auf dem Schafott landeten. Die
Hamas hat nie linke Ideen sozialer, politischer und individueller
Emanzipation geteilt, im Gegenteil, sie sieht in ihnen das Projekt
Ungläubiger, die es zu eliminieren gilt. Und die opportunistische Haltung
der arabischen Autokratien resultiert auch aus der Furcht vor den brutal
unterdrückten Emanzipationsbewegungen des von der Linken schon
vergessenen arabischen Frühlings. Es zeugt von politischer Blindheit,
den Kampf gegen das koloniale Erbe Lateinamerikas und den Genozid
an den Indios mit dem Terror der Hamas und dem Feldzug Israels
gleichzusetzen. Statt sich von absurden Vergleichen zum Holocaust und
dem imperialen Kolonialismus leiten zu lassen, gilt es, eine säkulare
Bewegung in Gang zu setzen, die die Befreiung sowohl der Juden als auch
der Palästinenser von ihren reaktionären und faschistoiden Machthabern
fordert.
Terror und Rache verfestigen die vorherrschenden, autokratischen
Strukturen, und sie verhindern damit jeden Versuch der politischen Lösung
der Palästinafrage als Teil einer demokratischen Neuordnung des Nahen
Ostens.

abmod:
Das war die deutsche Fassung eines Briefes, den der Philosoph und Publizist Wolfgang Schmidt Anfang des Jahres an einen befreundeten ecuadorianischen Dokumentarfilmer geschrieben hat. Da Wolfgang Schmidt krankheitsbedingt nicht dazu in der Lage war, las Detlev Schneider.
=================
NOTE: Die vorstehenden An- und Abmoderationen sind bereits im Beitrag enthalten. Zusätzlich wäre der Hinweis möglich, dass die spanische Fassung des Briefes bei den lateinamerikanischen Adressaten eine unerwartet grosse Aufmerksamkeit fand.

Kommentare
25.04.2024 / 18:50 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 25.04.. Vielen Dank !