Füxe, Burschen, alte Herren - alljährlicher Marktfrühschoppen in Marburg

ID 13083
 
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Jedes Jahr die gleiche Scheiße! Auch 2006 wird am ersten Julywochenende der Marburg Marktfrühschoppen unter der Berufung auf Tradition und Brauchtum stattfinden.
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06:10 min, 11 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 29.06.2006 / 00:00

Dateizugriffe: 1137

Klassifizierung

Beitragsart: Reportage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Jugend, Kultur, Politik/Info
Serie: zip-fm - Einzelbeitrag
Entstehung

AutorInnen: karin
Radio: RUM-90,1, Marburg im www
Produktionsdatum: 29.06.2006
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Füxe, Burschen, Alte Herren?

Nein, es handelt sich nicht um den Auszug eines Märchens, auch wenn es manchmal wie ein schlechtes anmutet,

Um den Erhalt „alter Traditionen“ und dem „deutschem Brauchtum“ geht es, beim alljährlichen Marburger Marktfrühschoppen, dem kürzesten Volksfest Deutschlands, wie es von den Veranstalter Innen angekündigt wird.

Traditionell wird der Marktfrühschoppen, pünktlich am ersten Julywochenende, seit nunmehr 51 Jahren gefeiert, unter Beteiligung Korporierter, also Verbindungsstudenten fast aller Couleur. Gemeinsam mit den Marburger Bürger Innen stehen und sitzen diese auf dem Markt und kippen sich zu Blasmusik, völkischen und sexistischen Gesängen und nationalistischen Reden Bier in den Magen. Ja, da darf auch die Nationalhymne natürlich nicht fehlen.

Burschenschaften, Verbindungen, Freicorps sind ein weites Feld.
Verbindungen bezeichnet den Oberbegriff aller korporierter Studierender und haben ihre Wurzeln in den Freicorps und Burschenschaften, im Laufe einer gewissen Liberalisierung gesellten sich später auch Turnerschaften, und andere nicht schlagende Verbindungen dazu.

Burschenschaften das sind im 19. Jahrhundert entstandene elitäre Zusammenschlüsse, ausnahmslos männlicher Studierender unter Bezug auf Militarismus, das deutsche Brauchtum, völkischen Nationalismus und Ende des 19. Jahrhunderts auch stark antisemitischen Einstellungen.

Die deutsche Burschenschaft als größtem Dachverband sieht sich selbst in eben dieser Traditionslinie. Die Marburger Burschenschaften "Rheinfranken", "Germania" und "Normania Leipzig", jedes Jahr, wohlgemerkt, geschätzte Gäste des Marktfrühschoppen, sind Mitglieder in der Deutschen Burschenschaft und werden vom hessischen Verfassungsschutz überdies als extrem rechts eingeordnet.

Ohne Zweifel sind nicht alle Verbindungen gleich, nicht alle bei der Deutschen Burschenschaft organisiert und nicht alle teilen die extremen rechten, nationalistisch-völkischen, antisemitischen oder sonst erzkonservativen Einstellungen mancher Burschenschaften.
Im Gegenteil sich liberal gebenden Verbindungen sehen ihr schönes Fest durch diese „schwarzen Schafe“ in Verruf gebracht, werfen diese allerdings, ebenso wenig vom Platz bzw. Fest wie die VeranstalterInnen des Spektakels.
Letztere tun eine dazu eingeforderte Auseinadersetzung damit ab, O-Ton: „das man sich ja nicht alle Farben merken könnte“ wer also zu welcher Verbindung gehört.

Wie dem auch sei, gründe Verbindungen in ihrer Gänze zu kritisieren gibt es nichts desto weniger. und einer Einteilung in „gute“ oder „bösen“ Verbindungen zu treffen, würde bedeuten Scheiße nach Geruch zu unterscheiden.

Gemeinsam sind denn fast allen Verbindungen Hierarchien und das Lebensbundprinzip, biologistische Vorstellungen von Geschlechterrollen, männerbündische Strukturen, eine konservative Grundeinstellung und unhinterfragte Traditionen. Verbindungen sind von jeher autoritär strukturiert und orientieren sich am soldatischen Männerbild. Gewaltätige Rituale, bei denen Mann den eigenen Schmerz und die Angst überwinden muss um sich zu beweisen und zu stählen, sind nur die extremen Auswüchse einer ansonsten auf Disziplinierung und Unterordnung ausgelegten Philosophie.

Diese Elemente sind zum Teil - in verschiedener Form und Ausprägung - auch in anderen Gruppen zu findenden, allerdings sind sie bei Studentenverbindungen besonders ausgeprägt. Darüber hinaus treten Verbindungen mit dem Anspruch auf, zukünftige Eliten herauszubilden und zu erziehen und entfalten damit eine gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit in der sie nicht mit einem beliebigen "TaubenzüchterInnenverein" vergleichbar sind.

Dem Marburger Bündnis gegen den Marktfrühschoppen geht es dementsprechend auch nicht um ein liberales, pseudotolerantes Marktfrühschoppen, „gereinigt“ von den „schwarzen Schafen“, sondern um dessen ersatzlose Abschaffung, sowie die Auflösung aller studentischer Verbindungen.

Vor dieser Analyse protestierten AntifaschistInnen seit 1996 gegen den Marktfrühschoppen und brachten ihn in die Kritik.

Unter dem öffentlichen Druck entstandene vereinzelte Versuche der Umwandlung in ein „multikulti“ Fest um den Marktfrühschoppen wieder salonfähig zu machen scheiterten an den TeilnehmerInnen selbst.
Der Auftritt einer Sambaband wurde mit Affenlauten und „auszieh´n auszieh´n“ Rufen beschieden.

Auch wenn eine Aufgabe des Marktfrühschoppen noch lange nicht in Sicht scheint, als Teilerfolg können die Gegner des Volksfests drastisch zurück gegangene Teilnehmerzahlen von anfangs 10.000 auf mittlerweile durchschnittlich 1.000 Feiernde für sich verbuchen.
Auch hat das Fest, durch die seit 1996 anwesende Polizei den Charakter des ungestörten, fröhlichen Sauffestes verloren und ist vielmehr zum Lokalpolitikum geworden - zum Leidwesen der Korporieren und BürgerInnen.

Der ehemalige Bundesinnenminister Manfred Kanther, selbst Mitglied eines Marburger Corps, sagte, er sähe den Sinn einer Verbindung darin, "auch weiterhin national gesinnte Menschen in alle führenden Berufe unserer Gesellschaft zu entsenden"

In der derzeitigen Situation der Patriotismusdebatten, Leitkultur, Du bist Deutschland, Schlussstrich Erinnerungskultur und der Fußball Weltmeisterschaft zeigt sich tragisch, wie wenig es letztlich der Burschenschaften bedarf damit derlei Positionen gesellschaftlich hofffähig sind.


Marktfrühschoppen under deconstruction, lautet der Aufruf zum Protest dieses Jahr!
Kommenden Sonntag den 2. July 10: Uhr wird er wie üblich auf dem Marktplatz in Marburg unter hoffentlich viel Protest stattfinden.

Kommentare
29.06.2006 / 15:57 maike, Radio Z, Nürnberg
gesendet
in zip-fm am 29.6.2006
 
05.07.2006 / 10:08 Rum, Radio Unerhört Marburg (RUM)
Fehler
Im Beitrag heißt es Freicorps seien die historischen Vorreiter von Studentenverbindungen. Naürlich handelt es sich um Corps und nicht um Freicorps, diese gibt es erst mit dem 1.WK
 
01.02.2009 / 15:52 Julia Hartung, Orange 94.0
Gesendet...
... im Rahmen der Sondersendung zum Aktionstag "NO - WKR" (gegen den Rechtsextremen Ball des Wiener Koperations-Ring). Toller Beitrag, danke!
 
02.07.2010 / 18:29 Gleis 16, Andreas, Radio Unerhört Marburg (RUM)
gesendet
heute in der Nachmittagsschiene gespielt.