focus europa 136, vom 7.8.06

ID 13530
 
-Beitrag zur europäischen Flüchtlingspolitik am Beispiel der italienischen Insel Lampedusa
-Nachrichten: Bundesamt für Strahlenschutz kritisiert AKW-Betreiber für vorschnelle Sicherheitsbekundungen; Hirohima gedenkt Atombombenabwurf; Human Rights watch kritisiert Kriegsparteien im Libanon
Audio
15:05 min, 14 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.08.2006 / 12:36

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Klassifizierung

Beitragsart: Magazin
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Focus Europa
Entstehung

AutorInnen: Julia, Marianne, Niels
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 07.08.2006
keine Linzenz
Skript
Zwei Jahre nach der aufsehenerregenden Rettungsaktion im Mittelmeer muss sich der ehemalige Chef der Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel, vor einem sizilianischen Gericht verantworten. Die italienischen Behörden werfen ihm und zwei Mitangeklagten vor, Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet zu haben. Bierdel sowie der Kapitän und der erste Offizier des Schiffes “Cap Anamur” hatten 37 afrikanische Flüchtlinge, deren Boot vor der sizilianischen Küste in Seenot geraten war, an Bord genommen. Nach einer dreiwöchigen Odyssee im Mittelmeer und einem Tauziehen mit den italienischen Behörden konnten die Flüchtlinge schließlich unter Berufung auf den Notfall im sizilianischen Hafen Empedocle an Land gehen. Um wenig später in Abschiebeknäste verbracht und unter skandalösen Bedingungen abgeschoben zu werden.

Was hat sich geändert in diesen zwei Jahren nach Cap Anamur? Die Zahl der Flüchtlinge aus Afrika, die versuchen, Europa zu erreichen, steigt weiter. Viele kostet die fortschreitende Abschottungspolitik das Leben. Allein in diesem Jahr schätzt der AK „Grenzen auf“ die Zahl der Opfer in Mittelmeer und Atlantik auf 10.000. Sie sind vor den Küsten Europas ertrunken oder vor Durst, Überhitzung und Erschöpfung gestorben.

Doch auch für die, die in Europa ankommen, ist die Chance, tatsächlich Schutz und Aufnahme zu finden, gering. So auch auf dem italienischen Lampedusa, einer idyllischen Insel im Mittelmeer zwischen Afrika und Italien. Fast täglich landen dort Dutzende entkräfteter MigrantInnen. Nach Aussage von Italiens Innenminister Giuliano Amato waren es weit mehr als 2000 in den letzten drei Wochen. Die meisten Boote kommen aus Libyen, wo weitere Zehntausende aus ganz Afrika auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa warten. Nach Medienberichten befinden sich aktuell im CPT auf Lampedusa rund 400 Flüchtlinge, obwohl es nur für 190 eingerichtet ist. CPT steht für Zentrum für vorübergehenden Aufenthalt. Für die allermeisten Flüchtlinge ist dieses Kürzel gleichbedeutend mit Abschiebehaft.

Ungeachtet der Fluchtgründe und Herkunftsländer werden sie zunächst grundsätzlich illegalisiert und als clandestini behandelt, sagt Fulvio Vassallo, Jurist und Flüchtlingsaktivist aus Palermo. "Alles spielt sich in den ersten 48 Stunden ab. Die Flüchtlinge kommen in Lampedusa an und die Polizei entscheidet nach einer gemeinsamen Anhörung der Angekommenen mit dem Polizeidolmetscher, ob diese Person eventuell zu einem Asylverfahren zugelassen werden kann oder nicht. Wenn niemand bereit ist, dein Anliegen zu protokollieren, findest du dich in einem Flugzeug wieder, dass dich nach Libyen zurückfliegt, auch wenn du einen Asylantrag stellen willst.“ Die Flüchtlinge werden keinem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt. Polizisten entscheiden hier innerhalb weniger Minuten über ihr Schicksal. Libyens weitere Abschiebepraxis ist bekannt.

Die Menschen, die nicht direkt abgeschoben werden, leben im CPT auf Lampedusa unter menschenunwürdigen Zuständen: Oft werden die Menschen länger als einen Monat festgehalten, ohne die Möglichkeit einen Anwalt zu kontaktieren und es mangelt an DolmetscherInnen. Eine besondere Gefahr für Asylsuchende stellt die Identifizierung durch Konsularbeamte der Herkunftsstaaten dar, die zu diesem Zweck ins Lager geholt werden.
Die Unterkünfte sind zu klein, heiß und stickig, der Hof ist schattenlos. Die Versorgung mit Trinkwasser ist ungenügend und zur Körperpflege stehen nur Salzwasserduschen zur Verfügung. Viele MigrantInnen leiden unter starken Hautausschlägen und Überhitzung.


Die Bootsankünfte häufen sich, Abschiebe- Unterbringungs- und Identifizierungslager sind überfüllt, die Behörden sogar mit umstandslosen Abschiebungen überfordert. Bereitwillig sagt die deutsche Bundesregierung ihre Hilfe zu und schickt zwei deutsche Polizeiexperten auf die süditalienische Insel Lampedusa. Ihnen sollen Dutzende weitere Beamte folgen. "Dies ist ein Zeichen europäischer Solidarität", zitiert eine italienische Zeitung Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. „Deutschland spüre das Problem“, versichert auch CDU-Staatssekretär Peter Altmaier: Denn: "Wenn die Zahlen der Flüchtlinge in Spanien, in Italien steigen, dann haben wir auch höhere Zahlen von Flüchtlingen aus Afrika, die in Deutschland aufgegriffen werden." Die Bundesregierung ist daher für ein Gesamtkonzept der 25 EU-Staaten zur Einwanderungspolitik, sagte Altmaier.

Was er meint, ist eine europäisch koordinierte Politik der Abschottung, deren Rechtsgrundlage im Mai 1999 im Vertrag von Amsterdam gelegt wurde.

Am 10. und 11. Juli dieses Jahres fand in Marokko eine euro-afrikanische Ministerkonferenz zum Thema Migration und Entwicklung statt, wo tatsächlich knapp 30 afrikanische Staaten ihre Bereitschaft bekundeten, Rücknahmeabkommen für unerwünschte MigrantInnen auszuhandeln.

Eine Woche später dann, am 19. Juli dieses Jahres, hat die Europäische Kommission ein ganzes Bündel von Maßnahmen angenommen, das Nägel mit Köpfen in der Bekämpfung der illegalisierten Flüchtlinge machen soll. Geplante Aktionen sind ein einheitlicher Visakodex für die Union, gemeinsame Patrouillen und intensivere Überwachung und Vernetzung durch Instrumente wie das ICONet, ein web-gestütztes Netz zum Austausch strategischer Informationen über illegale Migrationsbewegungen. Hauptakteur ist die Ende 2004 gegründete Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX), die auch die Ausbildung der von der EU-Kommission vorgeschlagenen schnellen Eingreiftruppe übernehmen soll. Geplant ist eine Truppe von 250 bis 300 Polizisten aus allen EU-Mitgliedsländern, die zeitnah auf Anforderung eines Mitgliedsstaats zur Verfügung stehen soll.

Der zuständige EU-Kommissar Franco Frattini ist zufrieden mit den neuen Maßnahmen: „Das Paket ist der noch fehlende Mosaikstein in einem ausgewogenen Gesamtkonzept zur wirksamen Bekämpfung der illegalen Einwanderung. „

2 Jahre sind vergangen seitdem die Rettungsaktion der Cap Anamur UnterstützerInnen in ganz Europa auf den Plan gerufen hat. Das neue Abschottungsbündel der EU beschwört einen andere Solidarität: Eine noch stärkere Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten zugunsten einer konzertierten Abschottung gegen die Peripherie.