AWR : Arbeitslosigkeit und soziale Bewegung in Italien

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Der Beitrag beschreibt einige Aspekte der Entwicklung der sozialen Bewegung in Italien, vom ersten europäischen Sozialforum an bis heute.
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Upload vom 22.08.2006 / 00:00

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Entstehung

AutorInnen: Günter Melle & Patrick Stahl
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 22.08.2006
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Arbeitslosenbewegung und sozialer Widerstand in Italien
Beitrag der Arbeitslosenkooperative Friedrich Hecker Offenburg, RDL, 23.8.2006

Die europäischen Vergleiche etablierter Politik hierzulande, vermelden kaum noch die frohe Botschaft, dass Deutschland wegen seiner sozialen Absicherung von seinen Nachbarn bewundert wird. Das war vielleicht damals als die Sozialdemokratie gerade begann, mit der Brechstange englische Verhältnisse zu schaffen. Seit der Jahrtausendwende hat sich das soziale Gefüge nun drastisch verändert und Deutschland steht im sozialen Vergleich mit den übrigen Großen Europas im Ranking nur noch auf recht mittelmäßigen Plätzen. Eine Studie zur Gerechtigkeitsbilanz zum EU-Gipfel im Oktober 2005 belegt, dass die skandinavischen Länder in Sachen sozialer Gerechtigkeit die vorderen Plätze belegen. Die Gesamtbilanz sozialer Indikatoren für die Jahre 2003/2004 verweist Großbritannien auf Platz 10, Frankreich auf Platz 11, Deutschland auf Platz 13 und Italien auf Platz 19. (www.berlinpolis.de/download.php?file=soziale_gerechtigkeit_paper.pdf) In der Arbeitslosenquote spielt im Jahr 2003 Deutschland mit Frankreich und Spanien das Schlusslicht unter den EU 15 Staaten. Auch mit Hartz IV hat sich nicht viel geändert, die von höchster Stelle angeordnete Bewegung auf dem Arbeitsmarkt kam nur insofern zustande, wie sich Deutschland in der Prekarisierung der Lohn- und Lebensverhältnisse weiter nach unten bewegte. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen stieg weiter nach oben, was ein Indikator dafür ist, dass sich die soziale Situation weiter verschlechterte.

Im Unterschied zu Deutschland ist in Italien schon lange die Erkenntnis angekommen, dass die neoliberale Globalisierung für breite Teile der Bevölkerung nicht funktioniert. Für diese Erkenntnis ist man dort bereit auf die Straße zu gehen und den politisch Verantwortlichen das Überdenken ihrer neoliberalen Überzeugungen ans Herz zu legen. So erlebte Italien im Jahr 2002 seine machtvollsten Demonstrationen im neuen Jahrtausend gegen Sozialabbau und Krieg. Zuerst gingen in Rom im März 3 Millionen Menschen gegen den Versuch Berlusconis auf die Straße, den Kündigungsschutz zu lockern, und am 11. November zum Abschluss des europäischen Sozialforums in Florenz demonstrierte eine Million Menschen unter der Losung „Un mondo migliore è possibile“ - Eine andere Welt ist möglich.

Dieses europäische Sozialforum war auch Promotor eines neuen Wegs im Zusammenschluss derjenigen, die in der kapitalistischen Verwertung von Menschenmaterial die schlechtesten Karten gezogen haben. Von Florenz aus ging ein Aufruf an die sozialen Bewegungen in dem es heißt:

Eines der Netzwerke, die auch dank Attac Italien auf dem europäischen Sozialforum entstanden, ist das Netz gegen globale Prekarität. Zu den Unterstützern des Appells gehören u.a.: Marco Bersani, Attac Italien, Danilo Corradi (Junge Kommunisten), Domenico Conte (Union der Gewerkschafter in Zeitarbeit), Franco Russo (Sozialforum Rom), Giorgio Gremaschi (Metallarbeiterverband FIOM), Paolo Sabatini (Basis Gewerkschaften S.in.COBAS), Pietro Aló (Arbeitskammer und Kammer der Nichtarbeiten in Rom). Es wird festgestellt, dass präkäre Arbeitsbedingungen fast die Gesamtheit der Jugendlichen und einen großen Teil der komplexen Arbeitskraft erfasst. Dies ist eine der sauersten und inakzetabelsten Früchte des Neoliberalismus. Möglicherweise ist die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen die zentrale Offensive der Padroni, der Unternehmer in Europa gegen Arbeiter, gegen Frauen und v.a. gegen Migranten, die hierher kommen und sich hier niederlassen. In Italien wird der Kampf gegen Präkarität von Millionen Frauen und Männern geführt. Sie wehren sich gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes, die von der Regierung Berlusconi geplant wird. Sie wehren sich gegen die Schließung der Fabriken von FIAT in Temini Imerese und der völligen Aufgabe der Autoproduktion von FIAT, was zehntausende Kündigungen bedeutet. Sie sind für die Erweiterung des Arbeiterstatutes auf Unternehmen unter 15 Beschäftigten und unterstützen deshalb das Referendum zur Erweiterung des Artikels 18 der Verfassung. Es ist notwendig, dass sich die Myriade der Zeitverträge in stabile zeitlich nicht begrenzte Arbeitsverhältnisse umwandelt und dass die Arbeitslosen eine europäische Sozialunterstützung erhalten, die es erlaubt, sich dem Würgegriff der Unternehmer zu entziehen, um nicht mehr Bedingungen der Arbeit akzeptieren zu müssen, die keinerlei Garantien bieten und die Menschenwürde verachten. Am Freitag, den 8. November 2002 wurde innerhalb des europäischen Sozialforums dieses Seminar zur Gründung eines globalen Netzwerks gegen globale prekäre Arbeit abgehalten an dem ca. 200 Aktivisten verschiedener europäischer Organisationen teilnahmen. Darunter waren Vertreter des Euromarsches, die Gruppe Chainworkers aus Mailand, der prekären Werkstätten Pisa, der französischen Arbeitslosengruppe AC (Assi) und Stop Précarité, der amerikanischen Organisation Job with Justice und der deutschen Gewerkschaft NGG.


Una delle reti di movimento che nascono nel social forum europeo, grazie anche al contributo di Attac Italia, è la rete contro la precarietà globale. I promotori dell'appello ``per una rete contro la precarietà globale'', oltre a Marco Bersani per Attac Italia, sono Danilo Corradi (Giovani Comunisti/e) Domenico Conte (RSU interinali TIM di Bologna), Franco Russo (Roma Social Forum), Giorgio Cremaschi (FIOM), Paolo Sabatini (S.in.COBAS), Pietro Alò (Camera del lavoro e del non lavoro di Roma). L'appello parte dalla constatazione che la condizione di precarietà lavorativa, in cui versa la quasi totalità dei giovani e una buona parte della forza lavorativa complessiva, è uno dei frutti più amari e inaccettabili del neoliberismo, e probabilmente la precarizzazione del rapporto di lavoro è una delle offensive centrali dell'Europa dei padroni contro i lavoratori, le donne e soprattutto contro i migranti che la attraversano e vi si stabiliscono. In Italia la lotta contro la precarietà parte dai milioni di donne e di uomini che si mobilitano contro la libertà di licenziamento voluta dal governo Berlusconi; contro la chiusura dello stabilimento FIAT di Termini Imerese e della sostanziale dismissione del settore auto della FIAT, che comporta decine di migliaia di licenziamenti; per l'estensione dei diritti sanciti dallo Statuto dei lavoratori anche a quei lavoratori che oggi non li hanno, a partire dai referendum per l'estensione dell'articolo 18 ai lavoratori e alle lavoratrici delle aziende con meno di 15 dipendenti. È necessario che la miriade di contratti a termine, interinali, di collaborazione e via dicendo sia trasformata in rapporti di lavoro stabili e a tempo indeterminato, e che ai disoccupati sia garantito un reddito sociale europeo che permetta di sottrarsi al ricatto delle imprese ad accettare lavori senza garanzie e irrispettosi della dignità umana. Venerdì 8 novembre, all'interno del forum sociale europeo, si è tenuto il seminario ``per una rete contro la precarietà globale'', a cui hanno partecipato circa duecento militanti e che ha visto l'adesione al progetto di costruzione della rete di diverse organizzazioni sociali europee, tra cui la Rete delle marce europee contro la disoccupazione, la precarietà e l'esclusione, il gruppo Chainworkers di Milano, Officine precarie di Pisa, le associazioni francesi AC! e Stop précarité, la statunitense Job with Justice e il sindacato tedesco NGG.





Der Appell zur Gründung eines Netzwerkes gegen globale Präkarisierung kam 2002 nicht aus dem Leeren. Bereits in den neunziger Jahren begannen sich in Frankreich und Italien die Sans Voix und Senza Voce zu organisieren. Zu ihnen gesellten sich die Arbeitslosen des Euromarsches, die Chomeurs und Precaires. Sie alle hatten eine Erfahrung gemeinsam, dass die traditionellen Gewerkschaften den kollektiven Abwehrkampf der von der Arbeit Ausgeschlossenen nicht organisiert. Viele von ihnen selbst Gewerkschaftsaktivisten wurden zu Dissidenten, kritisierten die Mitverwaltungsmentalität ihrer Organisationen und ihre mangelnde Bereitschaft, die Interessen der Arbeitslosen zu artikulieren. Die Kritik wurde von einigen Gewerkschaften aufgegriffen und führte, wie in der größten italienischen Gewerkschaft CGIL, zu einer gezielten Arbeit unter den Schwächsten der Lohnabhängigen, unter den Disoccupati (den Arbeitslosen) und Precari (den Prekären). Die CGIL hatte übrigens zu keiner Zeit der neoliberalen Offensive wie die deutschen Gewerkschaften mit erheblichem Mitgliederschwund zu kämpfen, dank der rechtzeitigen Einsicht, dass Arbeitslose und Arbeitende gemeinsam das große Heer der Lohnabhängigen bilden und deshalb auch den gemeinsamen Abwehrkampf gegen Arbeitslosigkeit und Prekarität zu führen haben. Wo deutsche Gewerkschaften versuchen, die Probleme des Mitgliederschwunds in größeren strukturellen Einheiten aufzufangen, haben italienische Gewerkschaften wie die CGIL Mitgliederzuwächse zu verzeichnen, weil sie die täglichen Aktivitäten der neuen syndikalistischen Organisierungsversuche unterstützen und fördern aber auch ihrer Dynamik der Lernprozesse, der Praxis und Theorie offen gegenüber stehen. Bei den kürzlichen Arbeitskämpfen gegen die beabsichtigte Schließung der Stahlwerke Krupp in Terni, waren alle involvierten italienischen Gewerkschaften, noch nie so einig hinter den Forderungen der Betroffenen gestanden. Ganz im Gegensatz zu Rheinstahl Recklinghausen in den 90igern, konnte hier im kollektiven Abwehrkampf die Schließung verhindert werden. Der entschieden geführte Arbeitskampf ist also eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Von Florenz bis heute hat sich in Italien mittlerweile ein breites soziales Netz des Widerstandes gegen die neoliberale Offensive des globalen Kapitalismus gebildet. Ob in Mailand, Genua oder Palermo, auch hier gehören die Disoccupati und Precari zum mittlerweile gewohnten politischen Straßenbild. Am ersten Mai 2004 waren sie es, die in der norditalienischen Metropole eine eindrucksvolle May Parade von über 50000 Teilnehmern organisierten. Dieses Jahr 2006 war es schon 120 000 Menschen deren Feiern am Tag der Arbeiterbewegung zum Ausdruck der lokalen Arbeit in den Sozialzentren, den lokalen organisatorischen Formen des kollektiven sozialen Kampfes und der Organisierung der Schwächsten in der Gesellschaft wurde.

Überall auf der Halbinsel sind Sozialzentren entstanden mit sehr vielfältigen und experimentierfreudigen Versuchen, den Verschlechterungen der Lebenssituationen reale Alternativen entgegenzusetzen. Man nennt sie „die andere Ökonomie“ oder auch die Revolution der einfachen Leute, die mittlerweile auf vielfältige Weise gesellschaftliche Realitäten durchdringt. Sakia Sassen, Soziologieprofessorin an der Universität in Atlanta, hat sie v.a. in Rom studiert und sie meint: „Wenn es wahr ist, dass die Stadt der bevorzugte Raum der zerstörerischsten Effekte des Neoliberalismus ist, so ist es auch wahr, dass in den urbanen Räumen die Erfahrungen mit der anderen Ökonomie gewachsen sind. Die Antwort von unten auf die technologische, informatische, sowie der Entwicklung der Transportmittel in den letzten zwanzig Jahren ist nunmehr konkret und kann nicht mehr als Nischenerscheinung definiert werden. Es ist die Antwort auf neuen Reichtum [der die Differenzen und Süd der Welt erhöhte, aber auch die Formen der sozialen und ökonomischen Ausgrenzung in den Städten des Nordens] und der Bejahung einer konsumistischen Kultur, nach der alles zur Ware wird.“

Von der Banca etica, die Kleinkredite für sinnvolle gesellschaftlich ökonomische Projekte vergibt, über den Fair Trade, den fairen Handel, den sozialen Kooperativen und Arbeitslosenselbsthilfen, es ist vieles an Strukturen gewachsen, was inzwischen so kräftig wirkt, dass selbst Kommunen wie Rom nicht umhin kommen, zu kooperieren. Die andere Ökonomie ist der praktische Versuch einer Gesellschaft der Ausgegrenzten, Machtlosen, der „Senza Potere“ das Schicksal in die eigene Hände zu nehmen und den Menschen wieder in den Vordergrund der gesellschaftlichen Reflektion zu stellen. Sie ist deshalb so wirkungsvoll, weil bei all der Verschiedenheit der Projekte und unterschiedlichen Organisationen des alternativ sozialen Netzwerkes zu keiner Zeit vergessen wurde, dass auch Italien einen Teil von Global Village darstellt.

So heißt es im Schlussdokument des zweiten italienischen Sozialforums 2004 in Parma:

Das Forum „Unternehmen einer anderen Ökonomie“, das vom 4. - 5. September 2004 in Parma stattfand, hat seine radikale Opposition gegenüber der neoliberalen Politik und gegenüber ihrem Modell der aktuellen Entwicklung unterstrichen. Diese Politik basiert auf dem Primat des Marktes und des Profits, auf der wachsenden Präkarisierung der Arbeit, der Privatisierung sowie der Reduktion von Welfare und staatlicher Regulierung. Es basiert weiterhin auf fiskalischen Einschnitten und der Vernachlässigung ökologischer Verpflichtungen sowie einer quantitativen, konsumistischen Logik von Produktion und Ökonomie. Die Konsequenzen sind dramatisch: Ungleichheit und Armut sind auf dem Planten wie auch zwischen Nord und Süd gewachsen; die Vernachlässigung der Umwelt hat sich derart verschärft, dass sie das Gleichgewicht des Ökosystems gefährdet; der permanente Krieg hat sich als eine Form der Herrschaft und Gewalt durchgesetzt.

Und weiter heißt es:

„Wir erwidern in diesem Kontext, indem wir auf Dringlichkeit hinweisen, das Modell unserer Entwicklung radikal zu überdenken, indem wir den Mythos des unbegrenzten Wachstums kritisieren... Es ist notwendig, neben den Prinzipien der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit, der Rechte, der Gleichheit auch die des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, der Mäßigung und des begrenzten Wachstums ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Dazu gehören hier im reichen Teil der Welt neue Verhaltensweisen und Lebensstile, verantwortlicher Konsum ein neues Band zwischen Ethik und Ökonomie und die Wiederherstellung der Partizipation des Staatsbürgers bei der Lenkung der gemeinsamen Güter...

Die Krise des Neoliberalismus, der großen Unternehmen und ihren Finanzsystemen, die im Crash des Parmelat Konzerns und im industriellen Niedergang des Landes zum Ausdruck kommt... eröffnet uns nunmehr bis heute nie da gewesene Möglichkeiten, unser Vorschläge zu realisieren...

Italien ist eines der fortgeschrittenen europäischen Länder in der Entwicklung des sozialen Widerstandes und die Breite der Bündnisse gegen Neoliberalismus und Krieg machen es immer wieder möglich die Menschen in diesem Land zu mobilisieren und für Alternativen zu gewinnen. Diese soziale Bewegung wird in Zukunft sicherlich noch weiter von sich reden machen und möglicherweise auch Anregungen und Kritik in den eigenen geographischen Breiten fördern können.