Neustädte II: Neu-Belgrad II

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[Dauer 12.17] Interview mit Aleksa Golijanin, der in Neu-Belgrad lebt und Bücher herausgibt, die sich mit der Idee der Anarchie, der Analyse der Gesellschaft und ihrer Veränderung befassen.
Audio
12:17 min, 11 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 12.10.2006 / 14:06

Dateizugriffe:

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Europaradio (Einzelbeiträge)
Entstehung

AutorInnen: Rena Rädle
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 12.10.2006
keine Linzenz
Skript
Neustädte mit riesigen Plattenbausiedlungen, den Neubaublocks. Das waren die Errungenschaften sozialitischer Architektur. Die Zeiten haben sich geändert, die Neustädte auch. Schrumpfen oder Wachsen, die Privatisierung kommunalen Wohneigentums, Entstehen neuer sozialer Brennpunkte, Abriss oder Vollsanierung bestimmen Leben und Stimmungen in diesen noch relativ jungen Zentren moderner Architektur. Wie geht man heute mit diesem Erbe um und wie leben Einwohner in den Neubaublocks heute? Wir schauten in einer Livesendung aus Halle-Neustadt in verschiedene Orte Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Nach Belgrad, Ljubljana und Warschau. In diesem Beitrag: nach Neu-Belgrad.

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Script:

Hallo, du bist Aleksa Golijanin, auch unter dem Namen anarhija/blok45 bekannt, Herausgeber der berühmten Bücher in deiner Aktion “Operation für umme”, die sich mit der Idee der Anarchie, der Analyse der Gesellschaft und ihrer Veränderung befassen. Als aufmerksamem Beobachter deiner Umgebung würde ich Dir gern ein paar Fragen zu den Blocks stellen. Vor wie vielen Jahren bist du gekommen und wie war damals dein erster Eindruck?

Ich bin Anfang 1974 hier hergezogen. Ich war fasziniert. Davor hatten wir im Stadtteil Zemun eine Wohnung gemietet, einen Teil eines großen ebenerdigen Hauses, ohne Bad und Toilette. Ich habe mein eigenes Zimmer bekommen. Ich war restlos begeistert. Überall war noch Baustelle, das war auch interessant. Heute sehe ich das alles mit anderen Augen, aber damals war ich einfach überwältigt.

Wenn Du an diese Zeit zurückdenkst, wo habe sich die Leute getroffen, was habt ihr gemacht, was war die größte Attraktion?

Wir haben uns hauptsächlich hier im Viertel aufgehalten, sind Fahrrad gefahren, haben Basketball gespielt, sind in der Sava geschwommen und haben uns nach den Mädchen aus der Schule gesehnt. Das war eine große Gruppe, die sehr fest verbunden war. Kein bisschen entfremdet! Das war eine andere Zeit und ich war noch Kind. Wir hatten zwar meistens kein Geld, aber alles war so gut, dass mir das heute unwirklich erscheint. Eine vollkommen sorgenlose Zeit. Erst jetzt verstehe ich, was dieses Wort bedeutet. Ja, wir hatten alle möglichen persönlichen Probleme, aber alles war so sorgenlos...

Wie ist das heute, was hat sich geändert?

Die Jugendlichen halten auch weiter zusammen. Wenn man raus geht, egal um welche Tageszeit und besonders nachts, sieht man ganze Horden von Mädchen und Jungen, die zusammen in der Gegend herumlaufen oder herumstehen. Als hätten sie nicht die geringste Lust, ins Zentrum zu gehen oder irgendwo hin, wo es mehr „Unterhaltung“ gibt. Das liegt nicht nur daran, dass sie nicht genug Geld für die Bars und Clubs im Zentrum haben, es gefällt ihnen hier einfach besser. Aber die Älteren gehen auch weiter weg. So wie früher auch. Ich denke dass sich bei den Jugendlichen die Interessen und der Geschmack verändert haben. Das ist ein wichtiger Unterschied zu der Zeit, als ich in die Blocks gezogen bin. Wie viel auch immer sie draußen miteinander herumhängen, schauen sie doch viel mehr fern und konsumieren andere Inhalte, die sie schneller und vollkommener mit den geltenden gesellschaftlichen Erwartungen konform machen. Genauer ausgedrückt, kann die Gesellschaft proklamieren was sie will, die Jugendlichen passen sich viel schneller an die Forderungen des Marktes und an die allgemeine politische Umgebung an und das ist für jedes System von Vorteil.

Meinst Du, dass die Leute von hier eine andere Beziehung zum öffentlichen Raum haben, als in der alten Stadt?

Ja, sie ist anders, aber ich kann das nicht vergleichen, weil ich nie auf der anderen Seite des Flusses gelebt habe. Hier sind viel mehr Leute an einem Ort konzentriert. Deswegen sind sie sehr aufeinander angewiesen. Andererseits wird hier der öffentliche Raum nicht von großen Institutionen geschaffen wie zum Beispiel Kulturzentren. Es gibt nur die alten Gemeindezentren, die in jeder Siedlung gebaut wurden und in denen früher Bibliotheken, Pensionärsclubs, Kunst- und Kulturvereine waren. Etwas davon hat auch überlebt, doch der größte Teil wurde privatisiert und kommerzialisiert. Mehr und mehr spielt sich einfach draußen ab. Es gibt keine öffentlichen kulturellen Veranstaltungen – außer in zwei großen Hallen im anderen Teil Neu-Belgrads, die aber für die ganze Stadt von Bedeutung sind und nicht typisch für Neu Belgrad. Diese Art von Manifestationen sind doch eher für die Medien reserviert, weniger für diesen oder jenen Teil der Stadt. Hier ist der öffentliche Raum einfach der ganze Platz um uns herum: öffentliche Grünflächen und breite Boulevards. Ich denke, man hätte doch mehr um das bisschen Raum in den Gemeindezentren kämpfen sollen. Der wurde jedoch ohne jeden Widerstand aufgegeben.

Wie schätzt Du die Beziehungen der Bewohner der Blocks untereinander ein?

Wir sehr aufeinander angewiesen, ob wir das wollen oder nicht. Wir sind zu viele auf relativ kleinem Raum. Auf der einen Seite sieht das aus wie eine richtige Nachbarschaft. Kinder können alleine vor dem Gebäude spielen, immer ist jemand aus der Nachbarschaft da, der Bescheid sagen würde, wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Hier ist es sehr sicher - soviel das eben möglich ist in einer so großen Stadt. Auf der anderen Seite, weil wir eben einer dem anderen auf dem Kopf herumtrampeln, gibt es auch viele Spannungen. All das ist nicht wirklich für Menschen gemacht: zu viele Leute, zu viele Lärmquellen. Aber im allgemeinen ist es nicht so “entfremdet“, wie es jemand von außen denken könnte, der nur diesen ganzen Beton sieht. Es ist nicht alles nackter Beton, es gibt viel freie Fläche und Grün, da ist auch der breite Fluss mit zwei Inseln. Es viel Gelegenheit, sich die erholen und zu entspannen.

Man könnte sagen, dass die Sozialisten Neu Belgrad als ideale Stadt gebaut haben. Was ist deiner Meinung nach davon realisiert, wenn Du von deiner persönlichen Idealvorstellung der Stadt und des Lebens ausgehst?

Gut, mein Ideal ist weder urban noch ländlich, ich sehe das alles ein bisschen anders. Aber es ist interessant sich das anzusehen, wie sich die Kommunisten das damals vorgestellt haben und diesen Plan zu verfolgen. In ihm ist die ganze Ideologie des titoistischen Systems eingeschrieben, zumindest die, die deklariert wurde. Alles sollte nach dem „menschlichen Maß“ sein, „human“. In hohem Maße ist das auch so, in dem Sinne, dass Neu-Belgrad im Ganzen gesehen nicht als eine Art Arbeiter-Getto geplant war. Darauf muss man achten. Da sollte Platz für alle sein: vom Fabrikarbeiter bis zum Parteifunktionär und zum Direktor einer kommunistischen Firma. Auch Slobodan Miloševi