"Wir sind alle Amerikaner" - Der Terror und die Deutschen

ID 157
 
Überlegungen, warum die Deutschen trauern und zur Bedeutung des Proamerikanismus im Kontext deutsch-nationaler Identitätspolitik
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mp3, 56 kbit/s, Stereo (22050 kHz)
Upload vom 24.09.2001 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache:
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aufgehoben
Entstehung

AutorInnen: Aufgehoben/Info; Holger
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 19.09.2001
keine Linzenz
Skript
"Wir sind alle Amerikaner"- Der Terror und die Deutschen

Wie lange sie wohl noch hängen wird, die auf Halbmast gesetzte schwarz-rot-goldene Fahne?
Wann endlich wieder ein Fußballspiel ohne nervige Kommentatoren, wo ein Tor auch wie ein Tor bejubelt werden darf? Was schließlich, frägt Mensch sich seit dem entsetzlichen Massaker in den USA, treibt die Deutschen in ihrer `Trauer` wirklich um? Eine Antwort gibt die Linke aus dem Efef:
Deutschland fordere den entschlossenen, militärischen Gegenschlag und schweige von den gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen des Terrors, schweige von der langen Geschichte der Gewalt, die gerade die abendländisch-zivilisierte Welt seit mindestens 500 Jahren gebärt. Nun, das ist vollkommen richtig und man wünschte sich, diesen Gedanken den Deutschen 500 mal ums Ohr zu hauen.
Doch nein, es muss etwas anderes an Motivation geben, etwas, was die deutsche Reaktion unterscheidet von der beschriebenen Heuchelei und Kriegstreiberei, die ja die gesamte westliche Welt betreibt. Schauen wir doch mal, was die Bahamas schreibt, jene Zeitschrift, die normalerweise mit viel Gespür die tieferen Motive der Deutschen aufzudecken imstande ist:

"Wenn die deutschen Medien zusammen mit den Kämpen des ehemaligen deutschen Antiimperialismus - sei es als Regierungsträger, sei es als demonstrierende Regierungskritiker - um Frieden winseln, dann deshalb, weil sie das mörderische Treiben in ihrem Innersten als zutiefst gerecht empfinden. Von den Grünen bis zum Info-Radio, von der FAZ bis zu den Autonomen reicht die Gemeinschaft derer, die sich klammheimlich darüber freuen, daß dem "großen Teufel Amerika" nun dasselbe Schreckliche widerfährt wie dem "kleinen Teufel Israel"."
(Der vollständige Text findet sich unter www.nadir.org, dann über Periodika zu bahamas durchklicken)


Der alte Antiamerikanismus, immer noch mit dem Antisemitismus verbandelt, und eine tiefe Verbundenheit mit der barbarischen islamischen Welt sei also das wirkliche Motiv, das die Deutschen in diesen Wochen im Innersten bewege. In dieser Logik ist es denn auch konsequent, eine bedingungslose Kriegsführung der Nato zu fordern:

"US-amerikanische Militärschläge gegen islamische Zentren hätte jeder bis auf weiteres zu begrüßen, der die Emanzipation von der Warenform, von Markt und Staatlichkeit nach wie vor als Bedingung menschlicher Selbsttätigkeit, mithin des Eintritts aus der "Vorgeschichte" in die "Geschichte" (Marx) begreift. Sollte wirklich Afghanistan das erste Ziel eines US-Gegenschlages sein, wäre zu fordern, das dieser so konsequent wie möglich erfolgt, d. h. einen Sturz nicht nur des Taliban-Regimes, sondern auch die Verhinderung weiterer islamistischer Herrschaft bewirkt und nicht auf Afghanistan beschränkt bleibt."

Nun, die Übernahme einer solchen militärischen Logik und gar die Vorstellung, eine bombenmäßige Beseitigung des wahrlich antiemanzipativen islamistischen Fundamentalismus durch ausgerechnet die christlich-fundamentalistische Kapitalmacht USA, könne den Weg für den Anarchokommunismus frei machen, verdient wohl kaum eines Kommentars.
Die Bahamas-Lektüre liefert also keine brauchbare Antwort. Aber was steckt nun wirklich hinter der Trauer, die in Deutschland zurzeit meist so ekelhaft aufstößt?

Die kollektive Trauerarbeit der Deutschen, die permanente Anrufung eines "deutschen Volkes, das geschlossen hinter Amerika stehe" (Schröder), zeigt, wie hier der Deutschnationalismus einmal mehr perfekt inszeniert und reproduziert werden kann, und zwar nicht vermittels der traditionellen Abgrenzung von den USA, sondern in der bedingungs- und besinnungslosen Akzeptanz des "Garanten von Frieden und Freiheit" (Merz). In der Beziehung "der Deutschen" zu den USA drückt sich -psychoanalytisch gesprochen - wohl vielmehr eine Ambivalenz gegenüber dem als "mächtiger" wahrgenommenen aus, eine Haßliebe, der die Amerikaner sowohl als "Besatzer", als auch als "Befreier", sowohl als Vorbild, dessen Angriff letztlich auch uns treffen kann, als auch als Neidobjekt, das für die eigenen Versagungen verantwortlich sein soll, gelten. Diese Ambivalenz hat sich in Deutschland zu verschiedenen Zeiten mal eher im Anti-, mal im Proamerikanismus Bann gebrochen.
Des weiteren ist auffällig, wie einhellig die den Deutschen so wichtige Verschärfung sowohl der Asyl- und Einwanderungspolitik als auch der Inneren Sicherheit im Windschatten des Massakers begrüßt wird.
Schließlich bedeutet das Massaker und der Konsens der Nato-Staaten, das Abendland müsse sich militärisch verteidigen, einen ungeahnten Glücksfall für deutsche Militärinteressen und bringt Deutschland dem Ziel, wieder militärische Weltmacht zu sein einen weiteren Riesenschritt näher.

Der vielleicht am wenigsten greifbare enorme Extraprofit, den Deutschland aus der Tragödie zieht, liegt auf der Ebene des Kampfes um die Hegemonie über die Geschichte, über Begriffe und schließlich über die Deutungshoheit darüber, was das Böse, was das Unzivilisierte sei.
Der Antiorientalismus diente nach 1945 ähnlich wie der Antikommunismus immer schon dem Bedürfnis, die nationalsozialistische Barbarei und den eliminatorischen Antisemitismus, der in Deutschland auch bzw. gerade unter den Bedingungen des zivilisierten Abendlandes entstehen und gedeihen konnte, zu historisieren und zu relativieren. Die Konstellation des kalten Krieges war in dieser Hinsicht für Deutschland ein Geschenk des Himmels: Unversehens stand man plötzlich auf Seiten der Zivilisierten gegen das dunkle Reich des Ostens. Ein Glück, dass sich nach dem Zerfall der Sowjetunion der revisionistische Antitotalitarismus plötzlich anhand der überall neu entdeckten Fundamentalismen und Schurkenstaaten neu artikulieren konnte.

Nun, all dies zusammengenommen, zeigt sich, wie kurzschlüssig es ist, von einer bruchlosen Kontinuität des vor 1945 so wirkungsmächtigen Antiamerikanismus auszugehen, wie es beispielsweise die "Bahamas" tun. Die unbestreitbare Virulenz des Antisemitismus hingegen verweist zugleich darauf, das dieser auch ohne Antiamerikanismus funktioniert. Mehr noch: Die beschriebenen Motive Deutschlands, die sich in der Parole "Wir sind alle Amerikaner" zusammenfassen lassen, beweisen, wie das Deutschnationale durchaus auch als Proamerikanismus, gedeihen kann, der ebenso wie der Antiamerikanismus Teil des ambivalenten Verhältnis der Deutschen zu den USA ist.

Holger, Kommentar im MittwochsInfo am 19.09.2001
Info-Spezial "Die Ökonomie des Terrors" am 18.10.