Lorettas Leselampe - März 07

ID 15934
 
Beginn der Sendung mit einer Rezension von Jacques Derrida: Glas, das nach 32 Jahren endlich erschienen ist.
Audio
30:36 min, 21 MB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 13.03.2007 / 11:05

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Entstehung

AutorInnen: Lorettas Leselampe
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 13.03.2007
keine Linzenz
Skript
Jacques Derrida: Glas. München: Fink 2005. 49,95 Euro.

Ein obszönes Buch. Für die Geschichte der Philosophie vielleicht nicht obszöner als Jean Genets Romane für die Geschichte der Romane – aber die Dreistigkeit mit der Jacques Derrida sein sechstes Buch angelegt hat, die Souveränität, mit der er immer in der Durchführung und nie in der Behauptung, nicht konstativ, sondern performativ durch Hegels Philosophie und Jean Genets Romane in zwei parallelen Kolummnen geht, sie auflöst und wieder zusammenbindet, sie niederreisst, aufrichtet und – nicht nur von ihrem Trohn – herunterholt, beeindruckt 32 Jahre nach seinem ersten Erscheinen als sei die Zeit stehenge¬blieben. Hier schreibt noch nicht einer, der seitenlang nicht weiß, wo er anfangen soll, sondern einer, der immer schon angefangen hat mit der geduldigen Arbeit der Dekonstruktion, die auch in der spekulativen Dialektik Hegels, Träger des Ehrenkreuzes Roter Adler, immer schon am Werk war. Jeder noch so banal daherkommende Kalauer – die Homophonie von Hegel und Adler (l’aigle) im Französischen –, die auf den ersten Blick den lächerlich zornigen Derridada-Kritikern recht zu geben scheint, vernetzt sich in einer weiteren Bedeutung, beispielsweise wenn Derrida Hegel zitiert: „Nur vollendeten die Isrealiten dieses schöne Bild nicht, diese Jungen sind keine Adler geworden; sie geben eher im Verhältnis mit ihrem Gotte das Bild eines Adlers, der Steine – getäuscht – erwärmte, ihnen seinen Flug vormachte und sie auf seinen Flügeln mit in die Wolken nahm, deren Schwere aber nie zum Flug, deren geliehene Wärme aber nie zur Flamme des Lebens aufschlug“ (64). Derridas Lektüre vollzieht solche Texte nach, im Bild des Adlers geht es um die Aufhebung selbst, der Figur Hegelscher Dialektik, der Dialektik des Adlers, der Eier wärmt und zur Flamme des Lebens entzündet. Doch der Stein bleibt, er fällt, vielleicht wird er sogar zum Grab der spekulativen Dialektik, von dem sie jederzeit wieder auferstehen kann. So liest sich die linke Kolummne von Glas wie eine Einführung in Hegels Philosophie. Seine Ethik, seine Religionsphilosophie, die Philosophie des Rechts und die Phänomenlogie des Geistes, Hegels Anspruch die Philosophie zu beenden, werden diskutiert, ausführlich zitiert und – aufgrund der Bedeutung der Familie in seinem Werk, des Verhältnisses von Schwester und Bruder, des antiken Vorbilds, der Antigone, und der christlichen Familienverhältnisse von Vater und Sohn und Mann und Frau – um Briefstellen Hegels an seine Frau und seine Schwester ergänzt. Gelegentlich liest sich gehässig, was Derrida da zusammenträgt, aber die ausführlichen Zitate, ganze Briefe sind zu lesen, geben das Urteil vollständig an den Leser weiter. Die Auswahl zählt, die Rekombination der Zitate, das Ignorieren tradierter Lektüren, um von der Familie her erneut die gesamte spekulative Dialektik und ihre Inkohärenzen, ihre Reste zu erkunden, aufzulesen, was sie nicht aufheben kann. Dabei treibt der Autor sicherlich alle diejenigen in den Wahnsinn, die ein Buch mit Kapiteln, Einleitungen und Zusammenfassungen, ausgestellten Thesen und klaren Fronten brauchen. Das Buch beginnt im Satz (in der linken Kolummne), mit einem Zitat aus Genets Rembrandt-Essay (in der rechten Kolummne) und bricht auch unvermittelt ab. Es bildet kein unendliches Buch, indem sich Anfang und Ende, letzter und erster Satz zusammenfinden (wie bei Finnegans Wake von James Joyce). Es gibt viele Einsätze und noch mehr lose Enden. Glas, die Totenglocke, ist ohne Anfang und Ende. Sie läutet gleichzeitig in jedem Text; mit jeder Klassifikation, in jedem gl gleitet zwischen den Signifikanten das Geläut und spielt seine Spiele: „gl entreißt den „Körper“, das „Geschlecht“, die „Stimme“, die „Schrift“ der Logik des Bewußtseins und der Repräsentation, die die Debatten leitete“ (260), in diesem Fall des Kratylos von Platon, ein Text mit glotta, glischron und glyky (Zunge, schleimig- und pechartig Klebrigem). Wenn die drei im selben Jahr 1967 erschienen Bücher Grammatologie, Die Schrift und die Differenz und Die Stimme und das Phänomen begründeten, dass es kein Außerhalb des Textes gäbe, das die Stimme in ihrer fremden Materialität als Schrift nicht wieder angeeignet werden kann, dass der Aufschub des Sinns endlos bleibt – dann erinnert Glas daran, dass es sich hier um eine durch und durch politische Fragen handelt. Es geht um das Geschlecht und ohne Zögern läßt sich sagen, dass Glas beste feministische Philophie ist. Auch die queer theory kann sich der Schwarte verdanken. Denn die Frage nach dem Geschlecht ist immer eine rhetorische, es geht um die Sprache und die Differenzen und Klassifikationen, die sie herstellt. Um dies zu zeigen, stellt Derrida dem Hegelschen Phallo(go)zentrismus die Blumen Jean Genets gegenüber, die in seiner Lektüre wirklich wundersame Blüten treiben. Falsch. Sie werden nicht gegenübergestellt, es ist gerade kein Widerspruch, der sich aufheben läßt. „Wenn der Gegensatz die Differenz aufhebt, ist er, die Begrifflichkeit selbst, homosexuell“ (247). Die Säulen, die Seite für Seite, knapp 300 Mal nebeneinander aufgerichtet sind, werden von Jacques Derrida wieder und wieder genüßlich mit allen möglichen und unmöglichen phallischen Metaphern umschrieben und verbalisiert – um die phallische Logik selbst ebenso genüßlich zu zersetzen. Die Differenz zwischen Hegel und Genet bleibt unaufhebbar – und zugleich kann sich die Lektüre der so sauber getrennten und sich niemals überschneidenden Kolummnen des Eindrucks nicht erwehren, Hegels Philosophie der Religion sei der Versuch, das Christentum vor seiner Zersetzung durch Genets Romane zu bewahren. Darin zeigt sich der große Humor Derridas’ Philosophie. Ihr ist wirklich nichts heilig. Wo Hegel in der Reihenfolge der Religionen – damit auch in der Entstehung seines Begriffs der Geschichte selbst – der Blumenreligion ihren Platz zwischen dem Holokaust der Lichtreligion und dem Krieg der Tierreligion zuweist, wuchern die Blumenbilder Genets tropisch. Der Autor wird nur ein wenig anders akzentuiert, schon wir lesen uns im Ginster (genêt). Derrida liest die blumige Sprache Genets mit botanischen Büchern gegen und zerstreut die philosophische Zentriertheit um den Phallus durch seine vielfältigen Anthesen (die Zeiten vom Aufbrechen einer Blüte bis zum Verblühen), die sorgfältig vermeiden zu Antithesen zu werden.
Es wäre deshalb falsch, Glas auf einen Strauß von Thesen oder Themen zu reduzieren. Aus der historischen Distanz läßt sich allerdings erkennen wie Derrida nach dem Scheitern des wilden französischen Generalstreiks 1968 versucht, systematisch eine andere revolutionäre Perspektive zu entwickeln, als dies der Marxismus und die kommunistischen Parteien taten. Dabei geht es weniger um eine Auswertung der Niederlage in historischer Hinsicht, als um das Bereitstellen eines Denkens und Schreibens, das den Anspruch herrschender Deutungsmuster gesellschaftlicher Situationen in Frage stellt. Glas – Totenglocke im Französischen – wird in einem langen Zitat aus dem französischen Wörterbuch Littre kaum zufällig nicht nur auf den classicus, den Bürger erster Klasse im antiken Rom, dem non proletarius, sondern auch die classe zurückgeführt, in die Tiere und Pflanzen mit lateinischen Namen klassifiziert werden. Der etymologische Exkurs unterbricht die Kolummne über Genets Notre-Dame-des-Fleurs an folgender Stelle: „Ist nicht alle Arbeit eine Trauerarbeit? Und gleichzeitig eine Arbeit der Aneignung des mehr oder weniger großen Verlusts, eine klassische Operation? Eine gewaltsame Klassenoperation und eine Klassifikationsoperation? Eine Enthauptung dessen, was das Singuläre bei sich selbst hält? Diese Trauerarbeit heißt glas. Sie ist immer noch mit dem Eigennamen verbunden. Glas ist zunächst einmal ein Trompetensignal, das dazu bestimmt ist, eine Klasse des römischen Volkes aufzurufen, herbeizurufen, als solche zu versammeln. Es gibt also glas in der klassischen Literatur, aber auch im Klassenkampf: Klasse“ – hier nun folgt der dreizehnseitige Einschub, der im übrigen auch Ferdinand de Saussures Diskussion lautmalerischer Worte wie glas dekonstruiert, um wieder einzusetzen: „gegen Klasse, Totengeläut der Klassen, eben hier, hier und jetzt.“ (98/110) Klasse gegen Klasse stellt sich die Frage, wie andere Produktionen als die des Mehrwerts aussehen können; wie sich die Logik des Eigentums, immer auch mit dem Eigennamen verbunden, durchkreuzen läßt; wie das Singuläre nicht – und sei es in der Aufhebung – vernichtet werden kann, sondern als ein Rest bleibt, der sich aller Klassifikation entzieht. Derrida gibt darauf keine einfachen Antworten. Wie auch? Die Worte selbst bilden Klassen und verraten sie ständig wieder. Dies führt Derrida vor – und wer hier selbstverliebtes, selbstreferentielles Spiel wittert, vergißt, dass zwei Kolummnen sich gegenüberstehen, Kolummne gegen Kolummne, es geht sehr wohl darum, eine andere Ethik, eine andere Logik, eine andere Ökonomie zu entwickeln, die sich aber – und das ist entscheidend in der Ökonomie der Unentscheidbarkeit – nicht als andere klassifizieren läßt. Die politischen Konsequenzen dieser Arbeit sind längst nicht gezogen.
Glas ist sicherlich mit den im selben Zeitraum erarbeiteten Büchern Überwachen und Strafen von Michel Foucault und Kapitalismus und Schizophrenie I von Gilles Deleuze und Felix Guattari zu lesen. Focaults Analyse der Transformation des Wissens vom klassischen Zeitalter zu den genetischen Klassifikationen des Bürgertums informiert Derrida merklich. Und wer lange genug die zwei Säulen von Glas im Wechsel liest, wird zwischen den Logiken gespalten. Alle drei Arbeiten eint der Versuch, sich der Totalität dialektischen Denkens zu entwinden.
Während aber Foucaults und Deleuze/Guattaris Studien zeitnah bei Suhrkamp ins Deutsche übersetzt wurden, war die Bedrohung des Totengeläuts offensichtlich so groß, dass des Französischen unkundige LeserInnen sich bis heute gedulden mußten. Die Übersetzung von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek ist verdienstvoll, bemüht sie sich doch, möglichst viele der Vieldeutigkeiten zu retten. Oft genug aber versagt ihnen das Deutsche den Dienst – Tombe, reste ermöglicht vier Übertragungen, die im Kontext alle richtig sind: Grab, bleibt. Fällt, bleibt. Grab, Rest. Fällt, Rest. Neben solchen Verdoppelungen gibt es noch die Homophonien, die nur im lauten Lesen hörbar werden, in der Dekonstruktion des präsenten Sprechens aber gerade die Logik der Performativität begründen – wie bei l’aigle. Um bei zwei Beispielen zu bleiben.... Die Anmerkungen der Übersetzer helfen, manches Sprachspiel nachzuvollziehen – sie haben bewußt darauf verzichtet, den Text zu erläutern. Dies bleibt nun der – in Deutschland bisher kaum vorhandenen – Rezeption überlassen. Im englischsprachigen Raum gibt es nicht nur einige Monographien – unter anderem Geoffrey Hartmans Saving the Text – sondern auch das Glassary des Übersetzers John P. Leavey, in dem der größte Teil der Zitate nachgewiesen ist. Denn in Glas selbst gibt es keine Fußnoten, aber zahlreiche Hinweise, wo sich die zitierten Texte auffinden lassen – eine Aufforderung, die zitierten Texte unabhängig vom Zitat noch einmal zu lesen, und Derridas Schnitte und Säume genauer zu sehen.
Der Textkörper von Glas ist dafür nicht nur zwei Stränge geteilt, sondern auch immer wieder von weiteren Zitaten – wie aus dem Littre – zerrissen. In den Zwischenräumen bleiben die Verhältnisse zwischen den Texten herzustellen, die der Autor nicht erläutert. Wer wäre er auch? Nicht selten vervielfältigen sich die Kolummnen jeweils, werden durch weitere Spalten kommentiert. Glas erinnert aufgrund dieser Aufspaltungen, dieser mehrfachen Kommentare entfernt an den Talmud. Während dort aber der Text zentral, mittig steht und an den Rändern von Kommentaren begleitet wird, ist in Glas die Textsäule gespalten und zerteilt sich weiter. Nichtsdestotrotz fällt diese Referenz – in Hegels Diskussion der jüdischen Religion erinnert – eine Aussage. Glas schreibt jüdische Philosphie, die sich nicht als jüdisch klassifizieren läßt, aber den christlichen Philosophen dennoch oder gerade deshalb als solche erscheinen wird. Es ist eine Philosophie des Textes, die sich nicht durch den Bezug auf einen Vater oder einen Sohn rechtfertigt. Es wundert nicht, dass Derrida in Deutschland so vehement wie kein anderer französischer Philosoph bis heute abgelehnt wird. Gerade bei linken Theoretikern ist immer wieder blanker Haß spürbar, wenn das Gespräch auf seinen Namen kommt. Ihr Puritanismus ist mit der fröhlichen Frivolität der Totenglocke kaum vereinbar. Ein Grund mehr, Glas zu hören.

Kommentare
16.04.2007 / 14:14 Theo, coloRadio, Dresden
gesendet am 14.4.2007/ 17 bis 20 Uhr
Die gesamte Leselampe März/2007 übernommen. Vielen Dank. Wieder sehr zufrieden. Das Gespräch mit David Chotjewitz war vielleicht etwas zu lang?