"Boulevard Ecke Dschungel"

ID 1688
 
Der Sicherheitswahn nach dem 11. September vergangenen Jahres ist in vielen Bereichen auf prekäre Weise zu spüren, vor allem aber in der Stadt, im Öffentlichen Raum. Bürgerrechte stehen zur Disposition, die Bewegungsfreiheit wird an vielen Orten stark reglementiert und Ausgrenzung ist an der Tagesordnung. Elisabeth Blum und Peter Neitzke protokollieren mit einer Sammlung von Texten, die vor und nach dem 11. September 2001 geschrieben wurden, Entwicklungen, die offizielle Stadtpolitik zumeist übersieht. „Boulevard Ecke Dschungel“ heißt Ihr Buch. Markus Kilp hat es für Sie gelesen.
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mp3, 96 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.09.2002 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur
Serie: Radio Palmares - Magazin
Entstehung

AutorInnen: Markus
Radio: PalmaresPB, Paderborn im www
Produktionsdatum: 03.09.2002
keine Linzenz
Skript
Wer hat heute noch Zugriff auf den öffentlichen Raum? Wem gehört die Stadt?
Dies sind Fragen, welche die Herausgeber von „Boulevard Ecke Dschungel aufwerfen. Die offizielle Stadtplanung, so Elisabeth Blum und Peter Neitzke, habe öffentliche Räume hierzulande verstärkt für eine bestimmte Klientel reserviert - zahlungskräftige Konsumenten sollten es schon sein -. Bahnhöfe, Einkaufszentren und Plätze werden mittlerweile von Sicherheitspersonal bewacht. So ist Einkaufen für sozial schwache gar nicht mehr so selbstverständlich. Nicht jeder ist überall als Kunde vorgesehen. Das bewies unter anderem Christoph Schliengensief in einer Aktion im Berliner KaDeWe. Mit einer Gruppe von Obdachlosen und Arbeitslosen wollte er dort einkaufen gehen. Doch Sicherheitsdienst und Polizei hinderten sie daran. --
In anderen Ländern, allen voran in den USA und Südamerika, wird diese Art von Stadtpolitik, einer Politik der wirtschaftlichen Interessen, noch weitergetrieben ...
Es gehe dort um die Aufgabe der Verantwortung seitens der Politik und die Delegitimierung von alternativen Lebensformen, so äußert Robert Menasse im Gespräch mit den Herausgebern seine Befürchtungen. Aber auch in deutschen Städten greift der Sicherheitswahn um sich... Illegalisierung von Migranten und das Konzept der Festung-Europa haben ihre Spuren hinterlassen:

„Boulevard Ecke Dschungel“ – der Titel des Buches macht deutlich: für die Herausgeber ist beides miteinander verbunden, ineinader verschrenkt – Die Ausschöpfung der Marktinteressen auf den Boulevards und diejenigen die aus dem Raster hinausfallen, als Unerwünschte im Dschungel der Städte überleben müssen. Konsum und Unterdrückung haben eine gemeinsame Adresse.
Die Stadt ist ohne Widersprüche nicht zu haben. So glaubt man. Unterschiedliche Interessen und Werteorientierungen treffen hier aufeinander. Aber gerade die Ambivalenzen sind bedroht: Die Reichen machen ihre Boulevards zu privaten Bollwerken (– was etymologisch auch der Ursprung des Wortes ist.) In den USA leben schon Millionen von Menschen in Gated Communities – In diese mit Stacheldraht umzäunten Siedlungen für Wohlhabende haben Arme keinen Zutritt. Gleichzeitig wird die Ausgrenzung von Fremden perfektioniert. Realitäten von Millionen Illegalen werden nicht anerkannt. Sie leben in einem rechtlosen Raum.
Währenddessen wird die Kluft zwischen Reich und Arm ständig größer. „Die Stadt wird ein zutiefst inhomogener Raum werden“ prophezeit Amnesty-Botschafter Roger Willemsen in seinem Gespräch mit den Herausgebern.
Diese auseinandergehende Schere wird von vielen Menschen jedoch noch keineswegs als bedrohlich gesehen: Woran das liegen könnte, beschreibt der Soziologe Sighard Neckel :

Zitat: „...wie in den USA .... ganz erheblich.“ S. 102

Während tatsächlich eine Amerikanisierung um sich greift, in Form von Freiheitsverlust, Segregation und sozialer Selektion, glauben sich einige immer noch auf dem Boulevard, in der „Europäischen Kulturstadt“. Nur was gibt es dort zu sehen. Hinter den Fassaden sind die Interessen dieselben: Konsum und wirtschaftliche Verwertbarkeit. Die Stadt und deren Kultur ist allzuoft nur simuliert. Eigentlich geht es nur um Kaufen und Verkaufen.

Auch wenn jede Stadt seine eigenen Gesetze hat, ist dies wohl eine der Entwicklungen, die auch global schon weitreichende Konsequenzen hat.

Hartmut Böhme macht allerdings in seinem Essay über „Global Cities“ und „Terrorismus“ auf eine weitere Entwicklung der globalisierten Finanz- und Wirtschaftsmärkte aufmerksam. Eine Beobachtung, die in Bezug auf die Wirtschaftsmetropolen nur selten so wahrgenommen wird:

Zitat: „Global Cities sind zwar materiell und lokal präsent...wirksam“ S. 75

In 12 Essays und Gesprächen nähert sich „Boulevard Ecke Dschungel“ diesen und vielen weitern Tendenzen der Stadtentwicklung. Philosophen, Soziologen, Schriftsteller und Kulturwissenschaftler kommen zu Wort. Und: Obwohl die Texte zum Teil schon vor dem 11. September letzten Jahres verfasst sind, vermögen sie in ihrer Zusammenschau ein oft übersehenes und hochspannendes Thema umfassend und aktuell zu beleuchten. Vor allem mit vielschichtigen und gut nachvollziehbaren Gesprächen legen die Herausgeber einen Grundstein für die weitere Debatte. Dass diese den Lesern in Zukunft verstärkt begegnen wird ist abzusehen... ob man nun im Dschungel lebt, im Schutzraum einer „gated community“, in der simulierten Stadt, oder sich gar noch auf dem Boulevard glaubt.


Abmoderationsvorschlag:

Das von Elisabeth Blum und Peter Neitzke herausgegebene Buch ist Ende August bei Edition Nautilus erschienen. 224 Seiten gibt es für 19 Euro 90.