Kapitalismuskritik - von Heuschrecken und Stechmücken

ID 19820
 
Kritische Auseinandersetzung mit (verkürzter) Kritik an Finanzkapitalismus. Anlass ist die aktuelle Broschüre (Okt. 2007) vom ver.di Bundesvorstand mit dem Titel "Finanzkapitalismus. Geldgier in Reinkultur".

Die Broschüre vom ver.di-Bundesvorstand steht u.a. in der Kritik, weil sie offensiv mit dem Motiv der Heuschrecke als Symbol für (US-amerikanische) Hedge- und Private-Equity-Fonts arbeitet.

Interview mit einem Kritiker von ver.di Bezirk Stuttgart, der in der Finanzkapital AG einen kritischen Gegentext mit dem Titel "Mensch denk weiter. Heuschrecken sind keine Erklärung" mit verfasst hat.
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30:00 min, 27 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 24.11.2007 / 22:06

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Klassifizierung

Beitragsart: Magazin
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Das Syndikat ist nicht die Mafia
Entstehung

AutorInnen: Carsten
Kontakt: syndikat(at)coloradio.org
Radio: coloradio, Dresden im www
Produktionsdatum: 21.11.2007
keine Linzenz
Skript
Das Thema heute: Stechmücken und Heuschrecken. Der Kapitalismus und die Kritik an ihm.

Dass Kapitalismus keine schöne Sache ist, darüber sind sich viele einig. Was aber eigentlich das Problem am Kapitalismus ist, und was genau daran eigentlich kritisierenswert ist, da hört die Einigkeit schnell wieder auf.

Das Thema ist alt. Während manche meinen, Kapitalismuskritik ist, wenn man das Gebaren von bestimmten Unternehmen brandmarkt, oder die Globalisierung verteufelt, sagen andere: das ist „verkürzte Kapitalismuskritik“.

Sie setzen dagegen: Das Problem ist der gesamte kapitalistische Verwertungszusammenhang und nicht einzelne Phänomene daran. Denn: der Kapitalismus war auch nicht besser, als es noch keine Globalisierung gab. Auch da ging es schon um maximale Verwertung von Kapital. Und noch nie in der Geschichte des Kapitalismus wurde dabei zimperlich mit Menschen und den Lebensgrundlagen von Menschen umgegangen.

Aktuell ist es in Mode gekommen, bestimmte Akteure der Finanzmärkte zu kritisieren: Z.B. Hedge-Fonds und andere moderne „Produkte“ der Finanzwelt.
Jetzt hat der Ver.di Bundesvorstand eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel Finanzkapitalismus. Geldgier in Reinkultur. In dieser Broschüre soll erklärt werden, wie die verschiedenen Finanzmarktinstrumente funktionieren und was das Problem an ihnen ist.

Das Problem an der Broschüre ist dagegen: Schon auf dem Titelblatt sieht man einen gefräßigen Heuschreckenschwarm. Und auf den weiteren 28 Seiten wird mit der Heuschreckenmethapher nicht gespaart. Heuschrecken: das sind im Sinne der Broschüre die – meist US-amerikanischen – Finanzmarktakteure, die über deutsche Firmen herfallen und alles wegfressen.

Die Bundesregierung rollt den Heuschrecken – auch das eine Karrikatur im Heft – den roten Teppich aus.
Auf einem anderen Bild kommen drei Heuschrecken, eine mit Brille, Anzug und Krawatte – von Haien eskortiert übers Meer auf unser? Land zugerast. Andere Menschen zerstören derweil den schützenden Damm und die Flut ergießt sich über das Land. Die Heuschrecken fahren gerade zu auf eine friedlich vor sich hin rauchende Fabrik.

Das Bild der Heuschrecke ist nicht neu. Ganz und gar nicht. In der Bibel kommt das Motiv der Heuschreckenschwärme als existenzielle Bedrohung der Menschen vor. Und im Nationalsozialismus gab es die Vergleiche von Juden und Heuschrecken: Im Film „Jud Süß“ von Veit Harlans heißt es: „Wie die Heuschrecken fallen sie über uns her“.

In den letzten Jahren hat das Bild aber wieder Konjunktur. Dass die Heuschrecke mittlerweile zur gängigen Methapher geworden ist, ruft aber KritikerInnen auf den Plan. Sowohl von linker Seite als auch von konservativer.

Die Heuschreckendebatte...

Heuschrecken – mit diesem Begriff werden neuerdings und häufig Finanzmarktakteure tituliert: Sogenannte „Hedge-Fonds“ oder „Private Equity Fonds“ - aber auch andere.

Mit diesem Begriff soll kritisiert werden, dass Fonds z.B. Beteiligungen an Unternehmen erwerben und diese später mit Gewinn wieder veräußern. In der Zwischenzeit wird versucht, den Betrieb möglichst so umzugestalten, dass die Beteiligungen mit maximalem Gewinn verkauft werden kann.

Besonders wird daran kritisiert: die Fonds sind an kurzfristigen Gewinnen orientiert und nicht an einem langfristig rentablen Unternehmen. Oft werden auch Unternehmen geteilt und die Teile sofort veräußert, die den maximalen Gewinn bringen.

Ein jüngstes Beispiel kennen viele: die Fahrradfabrik in Nordhausen, die von ihren Beschäftigten besetzt wurde, nachdem neue Eigentümer, dem Finanzinvestor Lone Star einem Hedge Fonds, die Fabrik geschlossen hatte.
Auch während der Besetzung hatten die AktivistInnen eine große gebastelte Heuschrecke am Werkstor angebracht um zu Signalisieren: Hier waren Heuschrecken am Werk.

Das Bild der Heuschrecken mittlerweile in der Öffentlichkeit fest verankert
Frankfurter Rundschau schreibt von „Heuschrecken“ ohne Anführungszeichen und ohne eine kritische Bezugnahme auf dieses Bild – Und jedeR weiß was gemeint ist
Den Begriff Heuschrecke eingebracht hat Franz Müntefering, SPD-Vorsitzender. Schon 2004 hatte er den Begriff in einer Rede verwendet – damals noch ohne dass das weiter öffentlich bekannt wurde. Als er dann in einem Interview mit der Bild am Sonntag sagte, das manche Finanzinvestoren „wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen herfallen“, war die Aufregung größer.

Der konservative Historiker Wolffsohn empörte sich in einem Essay: „60 Jahre 'danach' [nach dem NS] werden heute wieder Menschen mit Tieren gleichgesetzt, die - das schwingt unausgesprochen mit - als 'Plage' vernichtet, 'ausgerottet' werden müssen."

Die IG-Metall setzte noch einen drauf. Das Titelbild (und auch die Karrikaturen, die einen Text von Werner Rügemer über das Agieren von Fondsgesellschaften illustrierten) zeigte eine in Nadelstreifen gekleidete Stechmücke mit US-Zylinder und Aktenkoffer. Im Heft wird es noch unmissverständlicher: US-amerikanische Stechmücken saugen hier an Schornsteinen deutscher Fabriken.

Dies war der Beginn einer großen Debatte um die Frage, ob die Bilder oder auch der zugehörige Artikel antiamerikanisch und antisemitisch seien.

Autor und Herausgeber gaben sich seinerzeit überrascht.

Aktuell: Die Ver.di-Broschüre: Finanzkapitalismus. Geldgier in Reinkultur

Das aktuellste Beispiel in der Heuschreckendebatte: Die schon erwähnte Broschüre vom Ver.di Bundesvorstand.
Kurz nach Erscheinen der Broschüre gab es auch schon eine Antwort. Ebenfalls von ver.di, von der AG Finanzkapital beim ver.di Bezirk Stuttgart. Sie haben ein paar Wochen später ebenfalls eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel: Mensch, denk weiter. „Heuschrecken sind keine Erklärung“
Neben der Bildsprache und der Heuschreckenmethapher kritisieren sie vor allem die falsche Analyse der Broschüre, die zu dem Schluss kommt: Politische Entscheidungen, die zur Liberalisierung der Finanzmärkte führten haben zu der Situation geführt, wie wir sie aktuell haben und in der die deutschen Unternehmen den Fondsgesellschaften vornehmich aus den USA hilflos ausgeliefert sind.

In der Broschüre, so die Kritik weiter, wird unkritisch auf ein „Kollektiv der Deutschen“ Bezug genommen, etwa wenn es im Zuge einer gescheiterten Übername heißt:
„Diesmal hat noch Oldenburg gegen New York gewonnen“
Oder ganz am Anfang der Broschüre: Wir alle haben einen Personalausweis – wo sich dann unwillkürlich die Frage stellt, ob die Broschüre wirklich nur an Menschen verteilt wird, die einen Personalausweis haben und nicht auch an Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft.



Wer sich die Texte jeweils im Original ansehen möchte:

Die Kritik:
http://www.labournet.de/diskussion/wipo/...

Und die Broschüre Finanzkapitalismus:
http://wipo.verdi.de/broschueren/finanzk...

Kommentare
08.12.2007 / 12:34 alex, Radio Corax, Halle
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