G8 Gipfel Desaster der Presse

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ANMOD:
Viele Medien haben bei der Berichterstattung über den G8-Gipfel im vergangenen Jahr versagt: Sie übernahmen falsche Agentur- und Polizeimeldungen ungeprüft und dramatisierten die Ereignisse. Anhand des falsch zitierten Auschnittes aus der Rede von Walden Bello veranschaulicht das folgende kleine Feature die Arbeitsweise professioneller Medien während des Gipfelprotests.


ABMOD:
Als Grundlage für das Skript dieses Features wurden Ausschnitte eines Artikels von message-online.com entnommen, welcher sich wiederum auf eine DJU-Studie zum G8-Gipfel, sowie Informationen des Republikanischer Anwält_innenvereins und dem Legal Team von 2007, sowie dem neu erschienen Buch "Feindbild Demonstrant - Polizeigewalt, Militäreinsatz, Medienmanipulation", bezieht.

Quelle: http://www.message-online.com/81/backmun...
Audio
07:17 min, 3413 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 23.02.2008 / 13:07

Dateizugriffe: 390

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: flotsam
Radio:
Produktionsdatum: 22.02.2008
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Auf der Onlineausgabe von Bild war am 2. Juni 2007 zu lesen

»auf der Kundgebungsbühne stachelt ein Redner die militante Szene auf«

Die Salzburger Nachrichten, wussten am vierten Juni zu berichten, da kletterte

»einer der laut Polizeiangaben 3.000 Militanten auf eine Bühne und gab die Parole aus«

Bei der Westdeutschen Allgemeinen am dritten Juni,

»ruft ein junger Mann ins Megafon«.

Und in den Stuttgarter Nachrichten vom vierten Juni 2007

»heizte ein Redner der Autonomen die Stimmung noch an«.

Es ist zwar nur ein Ereignis während der Demonstration in Rostock gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, von dem hier die Rede ist. Aber die Fantasie der Journalist_innen kannte an diesem 2. Juni offenbar keine Grenzen. Jedes Medium hatte seine ganz eigene Lesart dieses Ereignisses.

Das folgende Zitat allerdings war fast überall zu lesen -- egal ob in den Stuttgarter Nachrichten, der Ostsee Zeitung, bei bild.de und Spiegel-Online oder im Stern:

»Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen«.

Dieser Satz galt in den Texten vieler Journalist_innen als ultimativer Beleg -- so etwa für die Gewaltbereitschaft der Autonomen des

»Schwarzen Blocks«

(wie der Stern am sechsten Juni festhielt), -- sowie für die

»bislang nicht gekannte Brutalität«

(zu lesen auf Spiegel-Online am dritten Juni) --- oder einfach als Beleg für die Schlagzeile

»Die Schlacht von Rostock«

(in der Abendzeitung am vierten Juni).

In ihren Berichten über die Demonstration in Rostock gegen den G8-Gipfel suggerierten die Medien Authentizität mit dem Zitat

»Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen«

Ein griffiges Zitat. Nachrichtlich eingebaut in die Berichterstattung und publiziert als journalistische Eigenrecherche ohne Nachweis zu einer Agentur oder sonst einer Quelle.

Mittlerweile liegt eine Untersuchung der G8-Gipfel-Berichterstattung durch die Deutsche Journalist_innen_union DJU vor. Ersten Ergebnissen dieser Untersuchung zufolge reproduzierte sich dieses Zitat weltweit in Millionenauflagen. Häufig wurde sie noch ergänzt durch den plakativen Satz:

»Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.«

Die Information, aus welcher Quelle diese beiden wörtlich zitierten Sätze stammen, wurden den Leser_innen vorenthalten. Auch eine eigene Recherche zur Qualität der Quelle haben all jene Journalist_innen offenbar nicht angestellt, die das wörtliche Zitat beim Schreiben ihrer Texte benutzten. Sie suggerierten ihrem Publikum damit die Nähe der Autor_in zum Geschehen sowie größtmögliche Authentizität und Glaubwürdigkeit ihrer Arbeit.

Zitate wurden frei erfunden

Das Zitat

»Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.«

konnte kein Journalist -- weder die Reporter vor Ort und schon gar nicht die Verfasser von Berichten und Features in den Redaktionen weltweit
gehört haben. Denn: Es ist frei erfunden. Und es sollte nicht das einzige Beispiel für das Versagen professioneller Medien während des G8-Gipfels
in Heiligendamm bleiben.

Für die Journalisten hätte es nur eines minimalen Zeitaufwands bedurft, noch am selben Abend zu erfahren, dass niemand gefordert hatte, den

»Krieg in diese Demonstration«

reinzutragen.

Auch die Frage, welchem Redner diese frei erfundenen Sätze in den Mund gelegt worden waren und was dieser statt-dessen auf der Abschlusskundgebung im Rostocker Stadthafen gesagt hat, bedurfte keiner aufwändigen Recherche. Denn innerhalb von Stunden waren schon am Samstag-abend Ama-teur-videos und Berichte von der Abschlusskundgebung im Internet einzusehen, die das behauptete Zitat ins Reich der Fantasie des Urhebers verwiesen.

»,Krieg' gegen die Polizei«

DPA hatte den philippinischen Soziologieprofessor und Globalisierungskritiker Walden Bello am Samstag um 18.41 Uhr in einer Meldung wie folgt zitiert:

»Um 17.30 Uhr werden die ersten Autos angezündet, während unweit vom Tatort auf der Kundgebungsbühne ein Redner die militante Szene noch mit klaren Worten aufstachelt:

,Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen. Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts.'«

Wer Bellos Rede im Original tatsächlich gehört hatte, und dem Englischen mächtig ist, erinnert sich jedoch an die Worte von ihm:

»Vor zwei Jahren haben sie gesagt: Bringt nicht den Krieg in die Diskussionen. Konzentriert Euch nur auf die Armutsbekämpfung. Aber wir sagen: Wir müssen den Krieg in dieses Treffen reinbringen. Denn ohne Frieden kann es keine Gerechtigkeit geben.«

Wie aus dem Original-Satz

»Without peace there can be no justice«

die deutschen Worte

»Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts«

werden konnten, bleibt bis heute das Geheimnis der DPA.

In einem anderen DPA-Korrespondentenbericht aus Rostock hieß es noch am selben Abend:

»Einer der Redner forderte über die Lautsprecheranlage sogar zum ,Krieg' gegen die Polizei auf.«

In Reportagen, Online-Chronologien und Berichten wurde die falsche DPA-Meldung häufig noch ausgeschmückt. So dramatisierten Reporter der Ostsee-Zeitung am vierten Juni die Ereignisse:

»Auch die Bühne haben die Militanten scheinbar erobert. ,Wir erinnern an Genua (...)', tönt es hasserfüllt ins Schlachtgewirr«.

DPA verweigert Aufklärung bis heute

Die beiden Sätze der DPA-Falschmeldung wurden wörtlich angeschlossen.

Bis heute verweigert die deutsche Presseagentur DPA die Aufklärung, wie es zu diesen Meldungen über ihren Ticker kam.

Es sollte insgesamt drei lange Tage dauern, bis DPA endlich zu ihrem eigenen Zitat klarstellte:

»Diese Formulierung ist (...) weder in der englischen Original-Rede noch in der deutschen Übersetzung des Beitrags so gefallen.«

Eine Richtigstellung oder Entschuldigung der Medien, die das Zitat verwendet hatten, unterblieb zumeist. Sie hatten alle DPA vertraut.

Die Falschmeldung und ihre millionenfache Reproduktion führte nicht zu einer transparenten Fehlersuche und einer Debatte über Konsequenzen. Vielmehr weigert sich DPA bis heute, sich als Urheberin der Falschmeldung an der Aufklärung zu beteiligen.

Auch ihre Kund_innen hat sie bislang nicht über den Grund der fehlerhaften Arbeit informiert. Man habe beschlossen,

"die interne Ursachen- und Fehleranalyse nicht öffentlich zu kommunizieren",

heißt es. Gegenrecherchen fanden nicht statt.

Die Falschmeldung der DPA kann nicht als bedauerliches und singuläres Missgeschick beim G8-Gipfel bewertet werden. Urheber zahlreicher Falschmeldungen war insbesondere die Polizeipressestelle des Sonder-Einsatzstabes »Kavala« in Rostock.

Bedeutung konnten die polizeilichen Falschmeldungen allerdings erst erlangen, weil sie ohne Gegenrecherchen von vielen Journalist_innen einfach verwendet wurden.

Blogger entlarvten Falschmeldungen

Die bisherige Auswertung der Berichterstattung während des G8-Gipfels in Heiligendamm verweist auch auf die
Bedeutung der Existenz von nichtkommerziellen Medien und Blogger_innen. Oft waren sie es, die in kurzer Zeit wertvolle Informationen lieferten und
damit viele Falschmeldungen der kommerziellen Medien entlarven konnten.

Nach professionellen journalistischen Kriterien der Recherche wie auch dem Gebot der kritischen Berichterstattung erweist sich das Versagen vieler deutscher Medien beim G8-Gipfel als ein strukturelles Problem. Und dieses betrifft vor allem das Selbstverständnis des professionellen Journalismus.

Kommentare
24.02.2008 / 00:43 Ralf Corax, Radio Corax, Halle
wird am Mittwoch-Mittag auf CORAX gesendet
danke
 
25.02.2008 / 17:39 Michael Liebler, Radio Z, Nürnberg
Gesendet
Montag, 25.02. im Stoffwechsel
 
26.02.2008 / 11:58 RDL, Radio Dreyeckland, Freiburg
gesendet
zip-fm vom 26. Februar