Interview mit Anne Nivat zur Situation in Tschetschenien - Teil 3

ID 2207
 
Achtung, vom letzten Winter! Fragen deutsch, Antworten englisch;
Audio
06:10 min, 2891 kB, mp2
mp2, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 28.10.2002 / 14:48

Dateizugriffe:

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: english
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl, Redaktion Alltag & Geschichte
Radio: RadaR, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 28.10.2002
keine Linzenz
Skript
Frage 10:

Die offizielle russische Position sagt, man versuche gegen den islamischen Fundamentalismus in Tschetschenien vorzugehen – das ist also der Anti-Terror-Kampf – wie fundamentalistisch ist der Islam in Tschetschenien wirklich und vor allen Dingen: Welche Rolle spielt der Islam in Tschetschenien wirklich? //

Der Islam spielt in Tschetschenien definitiv eine Rolle. Es ist eine Möglichkeit für Tschetschenien, seine neue Identität zu finden. Das ist ein Problem aller ehemaliger Sowjetrepubliken, dass sie auf der Suche nach ihrer Identität sind – auch Russland. Wenn also der Islam für Tschetschenien eine Möglichkeit ist, sich selber zu definieren, so ist der Krieg gegen Tschetschenien für Russland ebenso eine Möglichkeit, sich selbst zu definieren.
Während ihres gesamten Aufenthalts in Tschetschenien konnte sie konkret fundamentalistische Ausprägungen des Islam nur bei den Wahabiten finden, die sich selber als fundamentalistisch definieren. Aber die schienen ihr nicht besonders stark zu sein. Die Mehrheit der Tschetschenen lehnt diesen fundamentalistischen Islam ab. Der gewählte Präsident Maschadow ist Vertreter dieser moderaten Form des Islam. Ihr Schluss ist, dass es inTschetschenien keine fundamentalistische Gefahr gibt.


Frage 11:

Die Rolle der Frauen in Tschetschenien wird sicher unterschiedlich gewesen sein vor den beiden Kriegen und jetzt, in diesem Krieg noch drin – wie frei können sich Frauen in Tschetschenien bewegen? //

Die Frauen, die Anne Nivat in Tschetschenien getroffen hat, sind alle sehr stark. Ihre Rolle wurde durch den Krieg aufgewertet. – Männer sind zwar im Krieg die Kämpfer, aber Frauen sind auf ihre eigene Art Kämpferinnen. Frauen tragen die Verantwortung für das gesamte alltägliche (Über-)Leben.
Die Aufteilung der Rollen von Männern und Frauen ist in der tschetschenischen Gesellschaft recht primitiv. In diesen Zeiten ist die Rollenzuschreibung für Frauen nicht so streng. Trotzdem halten sich viele Frauen an die islamischen Vorgaben, nicht weil sie es müssen, sondern weil sie es wollen, zum Beispiel, dass sie getrennt von ihren Männern nach ihren Männern essen. Anne Nivat durfte auch als Frau mit den Männern essen. Das kann aber auch mit ihrem Gast-Status zusammenhängen. Gäste sind heilig, auch im Krieg.


Frage 12:

Wie ist das Verhältnis zwischen der Zivilbevölkerung und den tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern? Werden die Unabhängigkeitskämpfer unterstützt – moralisch – oder auch: hilft man ihnen? Wie werden sie politisch heute, im dritten Kriegswinter gesehen? //

Die Beziehung zwischen den Unabhängigkeitskämpfern und der Bevölkerung ist sehr zwiespältig. Natürlich werden die Freiheitskämpfer unterstützt, wenn auch meist passiv. Die Freiheitskämpfer kommen aus den tschetschenischen Familien. Die Tschetschenen sind darin vereint, gegen die Russen für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Aber jetzt gibt es das Problem, dass die Unabhängigkeitskämpfer untereinander uneins sind. Das ist einer der Gründe, warum der Krieg jetzt schon so lange dauert. Der andere Grund ist, dass Russland selbst nicht weiß, wie es den Krieg beenden soll. Russland hat keine Vorstellung, wie es seine Beziehung zu Tschetschenien zukünftig gestalten soll.