Interview mit Anne Nivat zur Situation in Tschetschenien - Teil 1 von 4

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Interview mit Anne Nivat - Autorin des Buchs "Mitten durch den Krieg", Rotpunktverlag Zürich - zur Situation in Tschetschenien. Vorsicht: Das Interview ist vom Dezember 2001. Das Meiste hat sich nicht gerade verändert. Aber unkommentiert übernehmen bringt's wohl nicht ...
Audio
07:35 min, 3553 kB, mp2
mp2, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 28.10.2002 / 15:15

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: english
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Walter Kuhl, Redaktion Alltag & Geschichte
Radio: RadaR, Darmstadt im www
Produktionsdatum: 28.10.2002
keine Linzenz
Skript
Frage 1:

In der Einleitung zu Ihrem Buch haben Sie geschrieben, dass Sie die Annehmlichkeiten von Paris verlassen wollten, um nach Osteuropa zu gehen. – Von den Annehmlichkeiten von Paris zur Kriegshölle von Tschetschenien – was hat Sie daran interessiert, nach Tschetschenien zu gehen? //

Das vordergründige Interesse von Anne Nivat betraf Russland. Auch ihr Interesse bezüglich Tschetschenien war zuerst das Interesse, dadurch etwas über Russland zu erfahren. Anne Nivat war in Moskau, als 1999 der Tschetschenien-Krieg begann. Für sie war es unmöglich, die Chance nicht zu nutzen, nach Tschetschenien zu gehen und dort Informationen aus erster Hand zu erhalten.


Frage 2:

Sie haben in Ihrem Buch einen reinen Augenzeugenbericht geschrieben; ist es eigentlich möglich, unparteiisch zu sein in so einer Auseinandersetzung? //

Natürlich gibt es keine Objektivität per se. Aber Anne Nivat lässt sich nicht vorwerfen, dass sie zu parteiisch für die Tschetschenen oder zu sehr gegen die Russen berichtet hätte. Sie weiß sehr genau, was sie getan hat: Sie hat versucht, “ihren Job” zu machen, und zwar als eine Außenstehende, nicht als Russin, nicht als Tschetschenin. – Ihren Leserinnen und Lesern zu berichten aus Gegenden, wohin sie nicht gelangen konnten.


Frage 3:

Aber in Ihrem Buch kommt doch sehr deutlich heraus eine gewisse Sympathie – zumindest für die tschetschenische Bevölkerung? //

Natürlich. Das war das, was sie versuchte mit ihrer Subjektivität zu erklären. Aber sie versuche nicht, in ihrem Buch die Frage zu beantworten, wer schuldig ist. Das ist eine Frage, die sie nicht beantworten will. Die Schuld ist überall.
Natürlich ist ihre Sympathie bei den Tschetschenen, denn die Tschetschenen gaben ihr alles während dieses Krieges. – Sie gaben ihr ein Dach über dem Kopf, sie gaben ihr zu essen, sie begegneten ihr mit Sympathie; sie führten mit ihr interessante Diskussionen. Sie hat die schrecklichsten Tage ihres Lebens mit den Tschetschenen geteilt, sie teilt mit den Tschetschenen, was sie sonst mit niemandem teilt. So wird sie die Tschetschenen nie vergessen. Sie hat mit den Tschetschenen gelitten, sie war Zeugin von ihrem unendlichen Leiden. Aber sie war auch Zeugin vom Leiden der Russen in diesem Krieg. – Wie in jedem Krieg leiden die ZivilistInnen auf beiden Seiten.


Frage 4:

Sie haben in Ihrem Buch ja auch eindringlich beschrieben, wie Sie mitten unter den tschetschenischen Menschen gelebt haben – das ist jetzt der dritte Kriegswinter (2001/2002) in dem zweiten tschetschenischen Krieg: Was bedeutet das für die Menschen in Tschetschenien? //

Der Winter ist sicherlich die härteste Jahreszeit in Tschetschenien und es ist sehr schwierig, den Winter zu überleben. Die Tschetschenen haben sich daran gewöhnt. Nicht nur die Tschetschenen, es leben auch viele andere Nationalitäten in Tschetschenien wie Russen, Inguscheten, Dagestanis etc. Die meisten von ihnen sind auch schon ohne den Krieg sehr arm. Der Krieg verbessert die Situation nicht, aber er verändert sie auch nicht. Die Menschen versuchen nur, irgendwie zu überleben. Die Bedingungen im Winter im Kaukasus sind sehr hart. Aber die Menschen haben immer etwas im Kochtopf, egal was. Das ist ihr Schluss, nach allem, was sie erlebt hat in diesem Krieg, der der pure Horror ist. Während der schlimmsten Bombardements – wenn es nichts mehr zu essen gibt, wenn es tagelang nicht möglich ist, von einem Ort zum anderen zu kommen – die Menschen lernen, das zu akzeptieren. Und wer das Glück hat, physisch zu überleben, ist einfach froh.


Frage 5:

Wenn ich hier bei mir in Darmstadt sitze und alles habe, dann frag’ ich mich schon: Wie machen die Menschen das, das zu überleben? //

Anne Nivat verweist auf unsere Großeltern, die auch im Weltkrieg gelebt hätten. Während eines Kriegs verändert sich alles. Auch sie selber, die aus dem Westen gekommen war und Luxus gewohnt, war in der Lage, sich an die Bedingungen des Kriegs anzupasen.


Frage 6:

Gibt es irgendwelche Hilfslieferungen von außen? //

Bis jetzt ist sämtliche humanitäre Hilfe nur außerhalb Tschetscheniens verteilt worden, vor allem in der östlichen Nachbarrepublik Dagestan oder im westlichen Inguschetien. Es ist für die Hilfsorganisationen zu gefährlich, in Tschetschenien zu arbeiten. Natürlich brauchen die vielen Flüchtlinge die Hilfe, die sie erhalten. Aber die Menschen in Tschetschenien bräuchten Hilfe noch viel nötiger – und sie erhalten gar nichts. Erst recht nicht nach dem 11. September, wo alle Welt ihre Augen nur noch auf Afghanistan richtet.