Lorettas Leselampe Juli 2008

ID 23378
 
AnhörenDownload
Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. - samt einer Diskussion über die Bedeutung der STIMME.
Audio
17:44 min, 24 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.07.2008 / 23:47

Dateizugriffe: 452

Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Lorettas Leselampe
Entstehung

AutorInnen: lorettas leselampe
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 21.07.2008
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. Edition Suhrkamp 2007.

Anfang der Achtziger Jahre veranstaltet Giorgio Agamben ein Seminar, in dem er mit einigen anderen den Ort der Negativität als Grund der Metaphysik aufsucht. In der Lektüre von Heidegger und Hegel rekonstruiert das Seminar die entscheidende Szene, aufgrund derer die Metaphysik mitsamt ihren Opferkulten nicht so leicht zu überwinden ist, wie – nach Agamben – Jacques Derrida dies mit seiner Dekonstruktion der Metaphysik behauptet. Die Sprache und der Tod läßt sich als Dokument lesen, in dem Agamben lange vor der Veröffentlichung seines mehrbändigen Hauptwerks Homo Sacer dessen Aufgabe schon einmal skizziert. Es geht um nicht weniger als eine materialistische Philosophie, mit der sich eine andere Ökonomie des Lebens als das der Negativität denken lässt. So abstrakt und weit weg von alltäglichen Fragen diese Problembeschreibung ist – Sprache und Tod sind am Ort der Negativität verbunden – was Agamben hier diskutiert ist nicht weniger als die Frage, wie die bisherige, die Menschheit dominierende Ökonomie, von der die kapitalistische nur die letzte und ausgreifendste darstellt, überwunden werden kann.
Das Seminar geht von einem Heidegger-Zitat aus:
„Das Wesensverhältnis zwischen Tod und Sprache blitzt auf, ist aber noch ungedacht.“ (11)
Dieses Verhältnis soll rekonstruiert werden. Dabei ist deutlich, dass es nicht Heideggers Marotte ist, Tod und Sprache miteinander zu verbinden, sondern Teil der tradierten metaphysischen Struktur.:
„Die Antwort auf diese Frage führte das Seminar – über die Definition des Bedeutungsumfangs des Wortes sein und, als dessen unerläßlichen Bestandteil, der Indikatoren der Äußerung – zu der Forderung, das Problem der Stimme und ihrer ‚Grammatik’ als ein grundlegendes metaphysisches Problem und zugleich als ursprüngliche Struktur der Negativität zu begreifen.“ (13)
Das beschreibt die Hauptthese des Buches, die für alle, die sich mit der Stimme im Radio beschäftigen, von entscheidender Bedeutung ist: Wie hat sich die Stimme durch ihre Ausstrahlung, Zerstückelung, Vervielfältigung und Zerstreuung verändert? Was bedeutet es für die Stimme die „ursprüngliche Struktur der Negativität“ zu sein? Warum verbindet gerade die Stimme Sprache und Tod?
Ich will auf die Windungen und Umwege, die Agamben geht, um zu seiner These zu kommen, nicht eingehen. Sie führen über die mittelalterliche Scholastik, Aristoteles, moderne Linguistiker wie Roman Jacobson und Emile Benveniste schließlich zu folgender Feststellung:
„Das Stattfinden der Sprache zwischen der Aufhebung der Stimme und dem Bedeutungsereignis ist die andere STIMME, deren onto-logische Dimension wir im mittelalterlichen Denken haben vervortreten sehen und die in der metaphysischen Tradition die ursprüngliche Artikulation der menschlichen Sprache bildet. Doch insofern dieser STIMME (die wir von nun an in Kapitälchen schreiben, um sie von der Stimme als bloßem Klang zu unterscheiden) der Status eines Nicht-Mehr (Stimme) und eines Noch-Nicht (Bedeutung) zukommt, begründet sie notwendigerweise eine negative Dimension. Sie ist Grund, jedoch in dem Sinne, dass sie das ist, was zu Grunde geht und verschwindet, damit das Sein und die Sprache stattfinden können.“ (66)
Der Ort der Negativität ist der Ort der STIMME, die nicht ist. Sie ist nicht mehr der Laut, der vom Menschen geäußert wird, sie ist schon auch nicht mehr die Schallwelle, aber zugleich hat sie auch noch keinen Sinn, keine Bedeutung. Es ist diese STIMME, die nur negativ – über das, was sie war, oder das, was sie sein wird – bestimmt werden kann. Dies ist eine in der metaphysischen Tradition stete Behauptung. Agamben argumentiert – sich an Jacques Derrida anschließend –, dass sich die Bedeutung dieser STIMME für die metaphysische Konstruktion aus ihrer Präsens erkläre:
„Die zentrale Stellung des Verhältnisses von Sein und Präsenz in der Geschichte der abendländischen Philosophie liegt darin begründet, dass Zeitlichkeit und Sein eine gemeinsame Quelle haben: die ‚stetige Gegenwart’ der Instanz der Rede.“ (68)
Jacques Derrida hat in seiner Grammatologie eben diese Tradition an einzelnen Beispielen – Rousseau, Saussure, Levi-Strauss – nachgezeichnet und nachzuweisen versucht, dass die Stimme, anders als die Metaphysik behauptet, immer schon verräumlicht ist, also auch nicht-präsent. Die zentrale Stellung der Präsenz innerhalb der Philosophie wird von Derrida verschoben. Er versucht zu zeigen, dass die Präsens immer schon von einer Abwesenheit heimgesucht ist. Gerade die Vorstellung der Präsens versucht diese Abwesenheit zu bannen, zu leugnen oder umzudeuten.
Wenn sich über die Präsens eine gewisse Struktur der Herrschaft begründen läßt, würde eine Struktur der Abwesenheiten immer aufweisen, dass es überhaupt nicht kontrollierbare Momente gibt, die jede Präsens zersetzen, Momente, die sich der Beherrschung entziehen. Diese Momente erscheinen in der Metaphysik als Mangel – nur negativ, während Derrida nachweisen kann, dass sie gerade einen Überschuss darstellen, der in der Behauptung des Mangels gebannt werden muß. Für das Radio übersetzt: die Stimme im Radio ist nie präsent, die sprechende Stimme wird über den Raum verteilt und ist nicht kontrollierbar. Wer sich aber Bilder gerade auch freien Radios anschaut, wird immer eher die phallische Antenne als Zeichen der Kontrolle visualisiert sehen, denn die unheimliche und unkontrollierbare Situation der Zerstreuung.
Agamben teilt Derridas Lektüre der Metaphysik nicht, hauptsächlich aus dem Grund, weil dieser behaupte, die Metaphysik zu überwinden. Agambens Kritik greift an dieser Stelle etwas zu kurz und ist eher ein Versuch, die eigene Position wichtiger zu machen. Derrida darf nicht die ganze Arbeit schon erledigt haben. Dabei hat der französische Philosoph immer betont, dass die Metaphysik nicht zu überwinden ist, sondern im Gegenteil die Figur der Überwindung selbst eine Figur der Metaphysik ist, die deren Erhalt erst ermöglicht. Doch Agamben führt auch ein sprachtheoretisches Argument ins Feld, das ernstzunehmender ist:
„Die Metaphysik ist nämlich nicht einfach der Primat der Stimme über das gramma (den Buchstaben, wie Derrida behauptet). Wenn Metaphysik jenes Denken ist, das die Stimme als Ursprung setzt, dann nur deshalb, weil diese Stimme von Anfang an als aufgehobene gedacht wird, als STIMME. (...) Die Metaphysik ist immer schon Grammatologie, und diese ist Fundamentologie, insofern dem gramma (der STIMME) die Funktion des negativen ontologischen Grundes zukommt.“ (72)
Während Derrida die Grammatologie als Untersuchung der Schrift, als materielle Geschichte versteht, die gerade nicht in der Metaphysik der Präsens aufgeht, bleibt diese Grammatologie als negative ontologische Begründung der Sprache metaphysisch: die von ihr geborgene Materialität im Buchstaben sei nicht positiv, sondern in ihrer Schwebe zwischen Artikulation und Bedeutung negativ. Leider führt Agamben sein Argument nicht aus.

Immerhin hat Derrida selbst das Projekt der Grammatologie niemals streng verfolgt, sondern immer als Dekonstruktion bestimmter metaphysischer Texte verstanden, deren zwiespältige Ursprungslogik er zersetzte. Agamben widmet seiner Auseinandersetzung mit Derrida nur einen der Exkurse, die zwischen den Seminartagen stattfinden und bestimmte Fragen vertiefen oder eben sich gegen andere abgrenzen, die gelegentlich, wie in diesem Fall, aufgrund ihrer Nähe eher interessant wären. Agamben resümiert seine Position folgendermaßen:
„In der Metaphysik wird das Stattfinden der Sprache (daß Sprache ist) zugunsten dessen, was in der Instanz der Rede gesagt wird, vergessen; das heißt, dass dieses Stattfinden (die STIMME) nur als Grund des Gesagten gedacht wird, derart, dass die STIMME selbst niemals als solche ins Denken tritt.“ (165)
Das Stattfinden der Sprache wird zugunsten der Präsenz der Stimme verdrängt. Die STIMME wird nur in Hinsicht des Gesagten überhaupt wahrgenommen. Agambens Seminar versucht in diesem Sinne, die STIMME ins Denken treten zu lassen und das heißt: Die STIMME müßte also positiviert, nicht als negativer Grund gedacht und im Gesagten verdrängt werden, sondern ausgesprochen werden. Das ist aber gar nicht so einfach. Denn damit verliert sich der Grund der Grundlosigkeit, den die STIMME als Ort der Negativität bietet. In diesem Zusammenhang nun geht Agamben auf das Problem des Opfers ein:
„Daß der Mensch, das Tier, das Sprache besitzt, als solches das Grundlose sei, dass er keinen Grund als im eigenen Tun (in der eigenen ‚Gewalt’) findet, ist in der Tat eine so alte Wahrheit, dasss sie schon der ältesten religiösen Praktik der Menschheit zugrunde liegt: dem Opfer. (...) Im Zentrum des Opfers steht nämlich eine bestimmte Handlung, die als abgesonderte und ausgeschlossene sacer (heilig) wird und eben deshalb mit einer Reihe ritueller Verbote und Vorschriften belegt wird. (...) Auf diese Weise liefert sie der Gesellschaft und ihrer grundlosen Gesetzgebung die Fiktion eines Anfangs: Was aus der Gemeinschaft ausge¬schlossen wird, ist in Wirklichkeit das, worauf das gesamte Leben der Gemeinschaft fußt.“ (169)
In seinem mehrbändigen, bis heute nicht abgeschlossenen Werk Homo Sacer entwickelt Agamben diesen Gedanken weiter. Unsere Gesellschaft existiert, weil etwas geopfert wird. Konstitutiv muss etwas gewalttätig ausgeschlossen werden, um der Gesellschaft ihren Grund zu geben, auf der sie ihre Institutionen – die Gerichte, die Exekutive und die Legislative – etablieren kann.
Die Aufgabe der Philosophie sieht Agamben nun darin, diese Grundlosigkeit aufzuzeigen. Diese Arbeit aber bleibt aufgrund der negativen Struktur „zwangsläufig unvollendet“, stattdessen begründet sie die Gewalt. Wie wäre aber eine Gesellschaft ohne Auschluss, ohne diese konstituierende Gewalt, also eine Gesellschaft ohne Opfer denkbar? Agambens Seminar über Sprache und Tod endet mit folgenden Worten:
„Eine vollendete Begründung der Menschheit in sich selbst würde die endgültige Eliminierung des Mythologems des Opfers und der in ihm begründeten Vorstellung von Natur und Kultur, Unsagbaren und Sagbaren bedeuten. (...) Das dem Menschen Eignende ist kein Unsagbares, kein Heiliges, das in jedem Tun und Sprechen des Menschen ungesagt bleiben muß. Ebensowenig ist es ein Nichts, dessen Nichtigkeit die Willkürlichkeit und Gewalt des menschlichen Handelns begründen würde. Es ist vielmehr die sich selbst durchschauende soziale Praxis, das sich selbst durchsichtig gewordene Wort des Menschen.“ (172)
Nichts anderes meint eine kommunistische Gesellschaft: die Gesellschaft mit einer „sich selbst durchschauenden sozialen Praxis“. Die STIMME kann ausgesprochen werden, sie muss sogar ausgesprochen werden, wenn sie nicht in der Negativität verharren, also geopfert werden soll. Der Gefahr einer solchen Perspektive – zu einer Erlösungsphantasie des Endes der Geschichte zu werden – wäre allerdings damit zu begegnen, dass das Wort selbst niemals ganz durchsich¬tig werden kann, dass die soziale Praxis immer etwas unkontrollierbares, dem Menschen fremdes birgt. Genau hier wäre Agambens Perspektive mit der Dekon¬struktion Derridas zu überprüfen. Denn müßte eine sich selbst durchschauende Praxis nicht gerade auch durchschauen, dass sie sich niemals ganz durchschauen kann? Niemals ganz: dies wäre gerade nicht negativ zu denken, Und wäre dieses ‚niemals ganz’ nicht gerade zu genießen als Geschichte. Dieser Genuss aber kann sich erst in einer Gesellschaft einstellen, die nichts mehr opfert, ncihts mehr ausschließt, eine Gesellschaft kurzum, in der nichts heilig ist. Wie weit wir heute, fast dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung von Agambens Seminar Sprache und Tod. Der Ort der Negativität entfernt sind, mag jede und jeder für sich ermessen. Dass diese Perspektive gleichwohl nichts an Aktualität eingebüßt hat, das könnte ein möglicher Ausgangspunkt für eine Gesellschaft ohne den Grund der Grundlosigkeit, einer in den sozialen Praktiken begründeten Gesellschaft sein.


Kommentare
23.07.2008 / 11:55 ta, Radio Corax, Halle
gesendet
im mittagsmagazin