Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis

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Welche Auswirkungen haben die steigenden Temperaturen in der Arktis? Erschreckende Tendenzen werden deutlich ......
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Upload vom 02.10.2008 / 17:12

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Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Umwelt
Entstehung

AutorInnen: Gabriel Fischer (Greenpeace München)
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 25.09.2008
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Klimawandel in der Arktis

„Der Nordpol bricht in Stücke“ – so war kürzlich in der Zeitung zu lesen. Die diesjährige Ausdehnung des arktischen Meer-Eises übertraf zwar nicht den Negativrekord des Vorjahres, war jedoch bis auf Platz zwei der Bestenliste zusammengeschrumpft. Zum ersten Mal in der Geschichte der Seefahrt war es möglich, sowohl die Nordost- als auch die Nordwestpassage im Sommer zu durchfahren. Forscher fanden bei ihren Flügen über das vermeintlich ewige Eis keine Eisfläche, die auch nur annähernd im Mittel der jahrelangen Messungen gelegen hätte. Noch vor kurzem rechneten die Experten mit einem eisfreien Polargebiet bis zum Jahr 2100, mittlerweile erwarten sie dies bereits 50 Jahre früher.

Längst haben wir uns daran gewöhnt, solche Katastrophenmeldungen in unserem Gedächtnis abzuspeichern und unter dem Oberbegriff „Klimawandel“ einzusortieren: Klar, das ganze ist ein globales Problem. Dennoch machen wir uns natürlich in erster Linie Gedanken darüber, welches die Konsequenzen vor unserer eigenen Haustüre sein werden: Muss ich im Urlaub der Zukunft gar nicht mehr nach Italien sondern kann mir in Fehmarn bei 30 Grad einen Sonnenbrand holen? Kann ich bald auch südlich des Mains auf Winterreifen verzichten?

Fragen, die durchaus ihre Berechtigung haben. Interessanter ist aber, über welche Probleme die Menschen in anderen Regionen der Welt sich den Kopf zerbrechen. In der Arktis z.B. sehen sich Flora, Fauna und letztendlich auch der Mensch einem nie da gewesenen Umbruch gegenüber. Die Erwärmung geht in diesen nördlichen Breiten doppelt so rasch voran wie in Deutschland.
Das Schmelzen des Eises ist nicht nur ein Frühwarnsystem des Klimawandels, sondern verstärkt seinerseits die regionale und globale Erwärmung: Durch die Verdunkelung der Flächen aufgrund des Verschwindens des Eises wird weniger Sonnenstrahlung direkt reflektiert, so dass sich die Erdoberfläche stärker erwärmt und somit wiederum zum Abschmelzen des Eises beiträgt - ein sich selbst verstärkender Kreislauf, der zunehmend grüne Fußspuren hinterlässt.

Man nennt dies „positive Rückkopplung“. Sie ist jedoch nicht der einzige Grund, warum sich in den arktischen Gebieten die Temperaturen weitaus schneller erhöhen. So ist auch die Atmosphäre über den Polen der Erde dünner als über der restlichen Welt und heizt sich somit schneller auf. Zudem wird der Wärmeaustausch zwischen Ozean und Atmosphäre mit schwindender Eisbedeckung des Meeres verstärkt und bewirkt, dass der Ozean während der Wintermonate mehr Wärme an die Atmosphäre abgibt. Dazu kommt, dass der Teil der Strahlung, der durch die Treibhausgase absorbiert wird, in der Arktis direkt zur Erwärmung der Atmosphäre beiträgt, während in niedrigeren Breiten ein Teil der Energie in die Verdunstung des Bodenwassers geht. Alles in allem ein Sammelsurium an Gründen, weswegen sich die Polarregion am Ende dieses Jahrhunderts um 8 Grad erwärmt haben dürfte.

8 Grad mag wenig klingen. Doch werfen wir unseren Blick einmal auf Lappland, keine 2000 Kilometer nördlich von Berlin. Hier kann man den Wandel hier bereits wahrnehmen: In Rovaniemi beispielsweise, Heimatstadt des Weihnachtsmanns und finnisches Eingangstor zur Arktis, droht der Wintertourismus auszufallen. Noch im Dezember sind Flüsse und Seen nicht zugefroren und damit fällt eine der Hauptattraktionen des Winters, die Rentier-Schlittenfahrt, aus. Die Eisbedeckung insgesamt ist 1-3 Wochen kürzer.

Auch das traditionelle Mitsommerskirennen unterhalb des Inari-Sees im Norden Finnlands wird wohl bald der Vergangenheit angehören. Zu warm sind die Jahreszeiten mittlerweile, als dass sich der Schnee in den Senken der sanften Hügel Finnisch-Lapplands bis Mitte Juni halten könnte. Eine alte Tradition, ein netter Brauch verschwindet für immer. Auch das berühmte Eishotel nahe Kiruna auf der schwedischen Seite des Bottnischen Meerbusens wird bald Buchungen abweisen müssen.

Betrachtet man die Klimakarten der letzten Winter für die Region, so hat vor allem dieser Teil bereits temporäre Erwärmungen enormen Ausmaßes erlebt. So war es zum Jahreswechsel 2007/2008 in einem Zeitraum von zwei Monaten im Schnitt um fast 8 Grad wärmer als im langjährigen Mittel. Einheimische berichten, dass es mittlerweile im Winter anstelle von 20 Grad unter Null nunmehr wochenlang Temperaturen um den Gefrierpunkt gibt. Die Folgen für die traditionsbewusste Minderheit der Samen und ihre Rentierzucht sind dramatisch: Durch die raschen Temperaturschwankungen und den Wechsel von Regen und Schnee bilden sich dicke Eisschichten, die es den Rentieren schon heute erschweren, an die überlebensnotwendigen Flechten zu gelangen - die Herdenbesitzer müssen den Eispanzer aufhacken oder die Tiere mit gekauftem Heu und Körnern über den Winter bringen. Letzter Ausweg: Die Tiere werden in Lastwägen in kältere Regionen gefahren. Die letzten Ureinwohner Europas drohen ihren jahrtausendealten Lebensrhythmus zu verlieren und ziehen in naher Zukunft nicht mehr ihren Herden hinterher, sondern in die Stadt.

Ähnlich sieht es auf dem alten Wikingereiland Grönland mit seinen 2,5 Millionen Kubikkilometern Eis aus. Der Anstieg der Temperaturen ermöglicht dort in geschützten Buchten bereits den Anbau von Kartoffeln und Brokkoli. In den letzten 30 Jahren schmolz die Eisdecke des grönländischen Inlandeises um fast 20 %. Steigt die Erdtemperatur weiter an und schmilzt genügend Eis ab, verliert der gigantische Eisschild seinen wichtigen selbsterhaltenen Mechanismus, die sogenannte Albedo-Rückkopplung. Ist dieser Punkt überschritten, ist das Abschmelzen nicht mehr aufzuhalten und das gesamte Eis wird verschwinden.

Dadurch entsteht ein globales Problem, da durch die enorme Masse der Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigen würde. Küstenregionen und sogar ganze Inseln würden im Laufe des 21. Jahrhunderts vom Erdboden verschwinden. Da gerade an den Küsten überproportional viele Menschen leben, müssten Hunderte Millionen von Menschen umsiedeln. Doch auch höher liegende Regionen wären betroffen. Sollte es zu einem Versiegen des Golfstroms kommen, ist davon ganz Europa betroffen. Wer also glaubt, die Klimaveränderung in der Arktis wäre ein lokales Phänomen, wird sich eines Besseren belehren lassen müssen.

In der gesamten Arktis sind auch die letzten Rückzugsgebiete indigener Völker bedroht. Den Inuit Grönlands, Kanadas und der USA, den Samen Skandinaviens und den "kleinen Völkern" Sibiriens schmilzt schlichtweg der Boden unter den Füßen weg. Das Eis schwindet und der gefrorene Permafrostboden taut immer weiter auf. Die Folgen sind vielfältig. Beispielsweise werden Infrastrukturen wie Straßen, Gebäude, Bauwerke und Gas- und Ölförderanlagen beeinträchtigt. In gebirgigen Regionen nimmt die Stabilität der Hänge ab und die Gefahr von Erdrutschen zu. Ganze Dörfer mussten aufgrund von Küstenerosion und Stürmen bislang umgesiedelt werden. Die 600 Inupiat in Shishmaref in Alaska werden ihren Ort auf der seit 4000 Jahren besiedelten Insel vor der Küste Nordalaskas in den nächsten Jahren verlassen müssen. Durch die steigenden Temperaturen kommt es zu Seestürmen und einer unaufhaltsamen Küstenerosion. Viele Häuser mussten bereits ins Land versetzt werden. Ein Ende des Dorfes wurde bei einem Sturm vollständig weggerissen. In Alaska sind momentan 184 weitere Gemeinden der Gefahr von Erosion und Überflutung ausgesetzt. Außerdem müssen die Bewohner Shishmareffs um ihre Nahrungsmittelversorgung fürchten. Durch das schwindende Meereis können sie Anfang November nicht mehr über das Eis ans Festland gelangen, um Elche und Karibus zu jagen. Die Bucht ist nunmehr ein offenes Gewässer geworden.

Dieses Problem teilen sie mit vielen Gleichgesinnten: Die Jäger der gesamten arktischen Regionen beklagen, dass das Eis sie nicht mehr trägt. Die Eisschicht wird dünner, so dass bereits eine Reihe von tödlichen Unglücken die Jäger aufschreckte - vertraute Wege auf dünnerer Eisdecke sind nicht mehr sicher. Doch nicht allein der Zugang zu Nahrung lässt viele indigene Völker besorgt sein, die von der Jagd, vom Fischfang, von der Rentierzucht und vom Sammeln leben. Hinzu kommen Veränderungen in der Tierwelt durch allmähliche, nicht vorhersehbare Abwanderungen bestimmter Tierarten oder Veränderungen ihrer Wanderwege als Reaktion auf einen geringen Anstieg der Meerestemperatur. Ebenso gehen pflanzliche Nahrungsquellen verloren, da zum Beispiel bestimmte Beeren im veränderten Klima nicht mehr wachsen. Seehunde, Eisbären und Walrosse, für die das Eis als Lebensraum notwendig ist, drohen auszusterben.

Während in der westlichen Welt, z.B. in Alaska oder Grönland, die Urbevölkerung im Notfall mit staatlichen Hilfsmaßnahmen rechnen kann, dürfte das im Bereich des russischen Fernen Ostens, z.B. in Chukotka, kaum der Fall sein. In den letzten Jahrhunderten sind die einzigartigen Kulturen der Polarvölker durch Missionierung, Alkoholmissbrauch und eingeschleppte Krankheiten nicht nur nachhaltig verändert, sondern z.T. auch vernichtet worden. Es wäre bedauerlich, wenn dieses Zerstörungswerk indirekt durch den Klimawandel fortgesetzt würde. Denn die Tier- und Pflanzenwelt stellt nicht allein eine Nahrungsquelle dar, von denen die Indigenen existentiell abhängig sind. Darüber hinaus ist sie wichtig für ihre soziale, kulturelle und spirituelle Identität. Feste, Zeremonien, Mythologien und Überlieferungen von Geschichten spiegeln die Bedeutung der arktischen Umwelt für ihre Bewohner wider. So stellt der Klimawandel das Überleben der Inuit-Kultur in Frage. Sie sehen das Menschenrecht, sich für ihre eigene Lebensweise entscheiden zu können, in gravierender Weise verletzt. Hinzu kommt die Gefahr der Ausbeutung vorhandener Erdöl- und Erdgasressourcen: Diese Bodenschätze können angesichts der immer günstigeren Witterungsverhältnisse bald geborgen werden. Der Kampf um die besten Plätze hat schon längst begonnen. Die Arktis mit ihrem unschätzbaren Reichtum in Flora, Fauna und Kultur ist von den unmittelbaren und den indirekten Folgen der Öl- und Gaspolitik als erste und am stärksten betroffen.