Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Schmerzen"

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[7.Kalenderwoche]
Wahrscheinlich wäre die Zeit jetzt perfekt, eine Bank zu gründen.
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11:52 min, 11 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 16.02.2009 / 16:39

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen:
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.02.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Staat müsste rein psychologisch großes Interesse daran haben, einmal etwas Positives zu tun anstatt immer nur Löcher zu stopfen, ganz abgesehen davon, dass diese anhaltenden Rettungsmaßnahmen ja eine Wettbewerbsverzerrung darstellen, dass es allen Heiligen der Marktwirtschaft grausen müsste. Wo bleibt die Belohnung für all jene Institute, die sich nicht verabenteuert haben? Nirgends!, und deswegen wäre es nur konsequent, da mal eine Alternative zu setzen.

Wenn das nicht gelingt, könnte man wenigstens einen Geld-Hammam einrichten, ein Geld-Dampfbad, vielleicht in drei Sparten: für die Ärmsten der Armen, die immer ärmer werden, wird ein Becken mit einer rund zwanzig Zentimeter hohen Schicht an 1- und 2-Cent-Münzen gefüllt; für die Mittelklasse gibt’s ein Becken mit 1-Euro-Stücken, und die Stinkreichen dürfen in Silberdollars baden. Die wirklich Reichen und Mächtigen dagegen sitzen in der Lounge und trinken ein Glas voll Wasser aus 300’000-jährigem Gletschereis, während als Hintergrundgeräusch ein dezentes, stetiges Papierrascheln das Zählen von Geldscheinen, Aktienpaketen oder auch nur das Blättern in den Verträgen zu den staatlichen Milliarden-Rettungspaketen darstellt. Aber das geht wohl wieder nicht, weil die Ärmsten der Armen sich um die zwanzig Zentimeter 1-Cent-Münzen prügeln würden. Vielleicht müsste auch in denen ihrem Hammam eine akustische Lösung gefunden werden.

Habe ich übrigens schon mal erwähnt, dass ich mal in einer Lesung von dem Typen war, der das Buch mit dem Titel «Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod» geschrieben hat? Allerdings hab ich’s nicht besonders lange ausgehalten; wenn sich Gymnasiallehrer, deren Blick auf die Sprache durch das Einhalten orthografischer und grammatikalischer Regeln definiert wird, mit ihren ehemaligen Schülern austauschen, wird das zwar für diese spezifische Kommunikations-Paargruppierung sehr ulkig, aber dem neutralen Beobachter verschlägts nicht nur den Sprach-, sondern auch alle anderen Sinne. Man muss noch anfügen, dass der Mann ja gar nicht auf Lesetournée gehen könnte, wenn da nicht zudem noch ein sozusagen über die Schulstunde hinaus greifendes und damit, wenn man die Verbindung zwischen Lehrer und Schülerinnen als Konjunktion begreift, sozusagen extrakonjugales, nein, extrakonjugierendes Lustelement im Spiel wäre. Geschätzte Hörerinnen und Hörer, ich rate dringend zu anderen Perversionen.

Aber dazu brauche ich natürlich einem Land mit Hartz IV nicht zu raten. Wobei mich doch immer wieder fasziniert, wie übermächtig dieses Thema in Deutschland ist, wie stark der öffentliche Diskurs geprägt ist von der Angst, in dieses entwürdigende Pseudo-Sozialnetz zu fallen, bis hin zur wirklich erschütternden Frage, ob ein frei verfügbares Taschengeld von 5 Euro pro Tag und Person nicht vielleicht zuviel sein könnte. Solche Gedanken verkleben normale Köpfe derart massiv, dass sie gar nicht mehr weiter denken können. Hartz IV ist insofern ein Äquivalent zu den französischen Philosophen und Soziologen der 1990-er Jahre. Man muss einfach ganz schnell an etwas anderes denken. Zum Beispiel an den spanischen Maler Francisco Goya. Offenbar wird seit ungefähr zwei Jahren die Urheberschaft Goyas am Bild «Der Koloss» in Frage gezogen, nachdem das Gemälde zuvor in den höchsten Tönen gelobt worden war wegen der Meisterschaft der Farbauftragung, der Komposition und natürlich vor allem der Gesamt-Bildidee, nämlich ragt der besagte Koloss über eine dunkle Szenerie mit möglicherweise einem Heerlager kilometerhoch in einen ungewissen Himmel hinauf, wobei er diesem Treck den Rücken zuwendet; eine gewaltige Allegorie und damit auch schon keine Allegorie mehr, mag sein auf den Krieg oder auf sonstige Kräfte, welche die menschlichen Wurmexistenzen bestimmen, jedenfalls ein Bild von einer derartigen Vorstellungskraft und Eindrücklichkeit, dass es niemandem im Ernst einfallen könnte, eine solche Bildidee einem anderen Maler als eben dem Kollegen Goya zuzuschreiben, denn andere hatten zu dieser Zeit keine solchen Visionen. Trotzdem wird jetzt darum gestritten, und das zeigt eindeutig, dass die Welt schön ist – es gibt noch viele offene Rätsel, und wenn die uns mal ausgehen sollten, dann schaffen wir eben ums Verrecken neue.

Oder sprechen wir vom Zahnarzt oder von der Zahnärztin. Nagut, das ist ein Thema, das bei vielen Menschen ebenfalls negativ besetzt ist, wobei es hier in erster Linie um den Schmerz geht, und hierzu möchte ich doch wieder einmal gesagt haben, dass der Schmerz ganz und gar ein kulturelles Phänomen ist. Frühere Generationen ließen sich ohne mit der Wimper zu zucken ganze Gliedmaßen abschneiden bei vollem Bewusstsein. Dem französischen Sonnenkönig Louis XIV. wurde meines Wissens bei einer Zahnoperation sogar der halbe Rachen mit aus dem Maul gerissen, weshalb dero Majestät erstens Unmengen an Food vertilgen musste, um halbwegs etwas bei sich zu behalten, und zwotens ganz schrecklich aus dem Maul stank, es war ein Mundgeruch von der Sorte Magensäure. Hat ihm das etwa die Freude am Regieren verdorben? Nein, mein Herr, er war nicht mal übermäßig tyrannisch, höchstens etwas ausschweifend, aber eben. Immerhin enthält die Ausschweifung oft auch einen Kern an Kreativität, und sei es auch nur eine mechanische Kreativität. Ebenfalls schwach mag ich mich erinnern an Speisefolgen, bei denen ein gebratenes Kamel serviert wurde, aus dem beim Anschneiden ein ganzer Vogelschwarm entfleuchte, worauf im Innern dann ein gebratener Ochse wartete und darin wiederum ein gegartes Schwein usw. usf., so etwas hat meines Wissens das Kanzleramt in Berlin noch nicht hervorgebracht, obwohl dort angeblich genügend Kamele zu finden wären. Der Schmerz aber, um darauf zurückzukommen, ist mit Sicherheit eine Empfindung, die in unterschiedlichen Epochen ganz unterschiedlich erlebt wird, und wer daraus nun weitere Schlüsse ziehen will, mag dies ruhig tun; ich für mein Teil meine, mit diesem Hinweis genügend Vorgaben geliefert zu haben für ein kleineres Schmerz-Symposium.

Das gibt’s übrigens regelmäßig, Schmerz-Symposien, sie werden in der Regel allerdings von der pharmazeutischen Industrie veranstaltet, aber es gibt auch einen transpharmazionalen Schmerz bzw. die Pharmaindustrie kommt dem Schmerz nur im phänomenalen Bereich bei, nicht aber als Gesamtkomplex, mindestens noch nicht. Bekannt ist ja wohl der Phantomschmerz, wobei es hier nicht nur um den Schmerz als solchen geht. Menschen, denen aus guten oder schlechten Gründen irgendwelche Gliedmassen amputiert wurden, empfinden in diesen abgeschnittenen Teilen oft noch jahrelang danach – na, was soll ich sagen: Gefühle? Sind Jucken und Stechen und Ziehen Gefühle? – Damit würden wirs wahrscheinlich der Psychologie wieder zu einfach machen, wenn wir all die Verwerfungen der menschlichen Seele wie muskuläre oder Hautprobleme behandeln würden. Aber egal; die Tatsache, dass der Mensch nachgewiesenermaßen noch Jahre nach dem Entfernen von Füßen, Händen, Armen und Beinen störende Empfindungen bei solchen Gliedern hat, muss strikt logisch darauf schließen lassen, dass auch die anderen Empfindungen noch voll intakt sind, an denen sich der Mensch eben nicht stört und über die er sich dementsprechend auch weder beim Dermatologen noch beim Psychiater beschwert. Nun würde mich einfach mal interessieren, ob es eine Möglichkeit gäbe, mit solchen Phantomgliedern auch noch irgendwelche Phantomarbeiten zu erledigen. Nun gut, ich räume es ein, die Pointe, auf welche diese Argumentation mit großer Sachlogik hin steuert, ist die immer und immer wieder gescholtene Schicht der Staatsbediensteten. Allerdings musste ich kürzlich in einem Webblog darauf hinweisen, dass ich auch schon einmal in einem mittleren Industriebetrieb gearbeitet habe und dementsprechend auch dort Personen gesehen habe, deren Existenzberechtigung, natürlich nur im betrieblichen bzw. produktiven Sinne, durchaus nicht belegbar war. Man hätte mit all diesen Figuren gut und gern eine volle Abteilung füllen können. Das erinnert mich wiederum an eine andere These, wonach nämlich sämtliche Großunternehmen jederzeit ohne irgendeinen Schaden an ihrem Produktionskörper zu nehmen die Hälfte ihrer Belegschaft entlassen könnten. Dass sie dies nicht tun, hängt nicht mit den Gewerkschaften zusammen, sondern damit, dass einerseits ihre Gewinne dann derart exorbitant wären, dass sie sogleich vom Markt verschwinden würden; zweitens und vor allem aber hängt es damit zusammen, dass sich in unserer Gesellschaft bzw. in der Ökonomie, insgesamt also in unserem Gesellschaftsspiel so etwas wie ein Gleichgewicht eingependelt hat, in dem ein gewisser Anteil unproduktiver Personen mehr oder weniger gleichmäßig auf jene Unternehmen verteilt wird, deren Größenordnung derart extraorbitante Gewinne einbringt, dass sie solche unproduktiven Personen und Abteilungen locker verkraften und dadurch erstens Geld unter die Leute bzw. in die Wirtschaft oder in den Konsum bringen und zweitens den alten Mythos von Arbeitsplätzen und effizienter Produktion und schlanken Strukturen weiter am Leben erhalten. Denn genau die Beschäftigung unproduktiver Beschäftigter heißt dann per Saldo Wirtschaftlichkeit. Dabei geht es nur darum, dass die Menschen zu faul sind, neue Spielregeln für ein neues Gesellschaftsspiel aufzustellen bzw. einzuhalten.

A propos neue Spielregeln – wir gehen hier immer davon aus, dass die Entwicklung zwischen Fortschritt und Rückschritt pendelt, spricht größere oder kleinere Freiheit der Individuen und der Gesellschaft. Diese Hypothese müsste man auch mal genauer anschauen. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass sich unsere Gesellschaften ganz unbesehen von diesen Fortschritt/Rückschritt-Debatten in einer ganz anderen Richtung entwickeln und völlig neue Organe ausbilden, während unsereins immer noch die alten Litaneien von der freien Marktwirtschaft oder der sozialen Gerechtigkeit runterschnackelt. Ich glaube, der wirklichen Gesellschaft in ihrer globalen Einbettung ist all dies unterdessen völlig wurscht. Das ist übrigens auch der wichtigste Grund dafür, dass ich Eure Hartz-IV-Gesetze für derart stoßend halte. Es gibt für solche Elends-Regelungen kein einziges Argument und schon gar keine wirtschaftliche Notwendigkeit, von den Staatsfinanzen gar nicht erst zu reden.

Wie auch immer: Ihr habts vielleicht gehört, dass Radio Vatikan als ebenso unabhängiger und internationaler Sender wie das Freie Radio Erfurt International von diesem den Kommentar «Aus neutraler Sicht» übernehmen wollte. Da ich mich in religiösen Dingen nicht für berufen halte, schon gar nicht in katholischen, musste ich leider absagen. An meiner Stelle wurde dann Daniel Vasella angefragt, der dafür bereit war, statt am Dienstagmorgen jeweils am Samstagmorgen; Vasella sollte aber eher über ethische Fragen sprechen als frei satirisch herumflunkern, aber er wollte es dennoch tun. Aber eifrige Reporter einer Schweizer Gratiszeitung brachten es an den Tag, dass Daniel Vasella Schwangerschaftsverhütungsmittel produziert, worauf Radio Vatikan die Sendung mit dem Ausdruck des Bedauerns wieder strich. Habt Ihrs gehört, oder ist diese Meldung strikt regional beschränkt geblieben? Ihr kennt aber mindestens Daniel Vasella; es ist der CEO des Schweizer Pharmamultis Novartis. Es ist doch schön, dass man im Vatikan solche Figuren für geeignet hält, offiziell Fragen der Ethik zu erörtern, auch wenn es dann letztlich nicht dazu kommt. Die Begründung halte ich übrigens doch für etwas halbseiden, weil postkonziliär, die stammt ja noch vom sogenannten Pillen-Paule, von Papst Paul VI., der sie verbot. Stattdessen hätten die gescheiter die Schmerzmittel verboten, denn der Schmerz stellt doch in jedem religiösen System einen tragenden Pfeiler dar. Einfach so schmerzfrei durch das Leben zu wandeln und wenn möglich auch noch Sozialhilfe in ausreichender Höhe zu beziehen, das, Kollege Ratzinger, das ist ein religiöses Problem, nicht die Schwangerschaftsverhütung.