Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Lauren Slater"

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Ich bin kein Freund von Latrinenpoesie,
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10:54 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.02.2009 / 14:29

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen:
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.02.2009
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
aus dem einfachen Grund, weil sich rund ums Scheißen und Pissen bis ins hohe Alter pubertäre Reflexe erhalten in der ganzen Pracht der vollendeten Zwiespältigkeit zwischen Nase zuhalten und möglichst genau hin riechen. Von diesem Potenzial leben verschiedene Showmaster und überhaupt ganze TV-Serien ganz gut. Anderseits erinnere ich mich daran, dass ungefähr das vierte Frauenzimmer in Günter Grass’ Roman «Der Butt» ihrem Ehemann immer im Kot herumstochert und daraus eine Überfülle an Informationen über den Gatten herausliest in einer Mischung zwischen Ernährungsberaterin, Privatdetektivin, Wahrsagerin und Sittenpolizistin. Die Idee und die entsprechende Passage halte ich nicht für die schlechteste im Gesamtwerk von Grass. Und nachhaltig haften geblieben sind mir Teile des Spottverses von Bert Brecht: «Der liebste Ort, den er auf Erden hab, sei nicht die Rasenbank am Elterngrab; Orge sagte mir: Der liebste Ort auf Erden war ihm immer der Abort», mit allerlei Kalauern und vor allem gedacht als veritabler Misthaufen vor der Biedermeier-Beschaulichkeit. Bevor ich mich nun aber dem Gestank und seinen zweifelsfrei lustigen Konnotationen bei uns und in der jüngeren und älteren Vergangenheit zuwende, unter besonderer Berücksichtigung des Umstandes, dass wir alle von Viehzüchtern abstammen, möchte ich eher den einen alltagsphilosophischen Aspekt hervorheben, dass das WC unterdessen fast zum einzigen Ort im Alltag geworden ist, auf dem man sich für einige kurze Momente ungestört konzentrieren kann. Dementsprechend empfiehlt es sich, die Toiletten mit einem kleinen Bibliotheksbestand auszustatten. Auf diese Art und Weise kommt man nämlich zur Lektüre von Büchern, die man sonst nicht mal mit Gummihandschuhen anfassen würde, was besonders bei mir zutrifft, der ich mich vor einiger Zeit darauf spezialisiert habe, Bücher zu beurteilen, ohne sie gelesen zu haben. Ich bin auf diese Spezialisierung übrigens nicht besonders stolz und weiß auch nicht, ob ich sie überhaupt weiter führen soll; immerhin habe ich in der Regel bessere Trefferquoten bzw. eine höhere analytisch-kritische Einsicht als das ganze Kritiker-Gesocks, das anhand einer Buchrezension eher den eigenen polyglott humanistischen Bildungshorizont abpinselt, als dass es dem betreffenden Schunken jene Kritik angedeihen lässt, die er verdienen täte. Anderseits muss ich einräumen, dass sich meine persönliche allgemeine Methode in der Zwischenzeit wirklich zu einer allgemeinen Methode ausgeweitet hat; in den Medien äußern sich fast nur noch Menschen zu Dingen, von denen sie keinen Schimmer haben, weshalb sie von der Moderatoren- oder Redaktorenschar Experten genannt werden. Deshalb habe ich ja auch wieder zu lesen begonnen, eben, auf der Latrine. Wenn ich dabei auch nicht gewaltige Fortschritte mache, da ich, hahahaha, nämlich in der Regel nicht an Verstopfung leide, gelangt doch das eine oder andere Buch zum Abschluss oder mindestens bis auf Seite 7 oder 70. So zum Beispiel im schmalen Band «Als auf Oscars Bauch ein Raumschiff landete», das Lauren Slater vor rund 13 Jahren veröffentlicht hat und das von Patienten in der Psychiatrie handelt. Genau genommen handelt es natürlich von Lauren Slater, was die Frage aufwirft: Interessiert mich Lauren Slater? – Und die Antwort lautet entschieden Nein, außerhalb des Klos interessiert mich die Frau entschieden nicht, und sie interessiert mich auch auf dem Klo nicht, aber ich nehme sie zur Kenntnis wie einen Punkt zwischen zwei Sätzen oder wie eine trocken am Himmel vorüber scheuernde Wolke, was ich übrigens für ein schönes Bild halte, es steht auf Seite 86 dieses Buches: «Ich frage mich, was er auf seinem Heimweg durch die ländliche Gegend sah, über der trockene Wolken am Himmel scheuerten.» Meiner Treu, da hat Lauren Slater oder die Übersetzerin Frau Locke Groß wohl unbeabsichtigt das große Poesie-Fass angezapft. Trockene Wolken scheuern über den Himmel – das ist so etwas wie eine Trickfilm-Wahrnehmung, übertragen auf eine Natur-Wahrnehmung und damit geeignet für eine authentische poetische Aussage, meines bescheidenen Erachtens nach. Aber besonders erhellend war nicht ein poetischer Aspekt, sondern folgende Passage auf der Seite 89: «Die erstaunlichsten und brillantesten Beschreibungen der Hypergraphie (zwanghaftes Schreiben) finden sich bei Susan Baur, die sich auf einen Beitrag von S. Waxman und N. Geschwind in einer neurologischen Fachzeitschrift bezieht.» – Zwischenbemerkung: Habt ihr die leichthin vorgenommene Verschiebung der Autorenrechte von Waxman und Geschwind zu Slaters Freundin Susan Baur bemerkt? – Höchst brillant. Aber weiter: «Baur berichtet von einer jungen Frau namens Yolanda. (...) Waxman und Geschwind erzählen die noch bizarrere Geschichte einer jungen Sekretärin, die sie mehrere Monate lang behandelten. An ihrer Schreibmaschine überfielen sie plötzlich ganz unerwartet eine Reihe von Orgasmen. Beschämt und verwirrt presste sie ihre Beine und ihre Lippen zusammen und tat so, als ob sie eifrig arbeite, während diese intimen sexuellen Eruptionen sie schüttelten. Ungefähr eine halbe Stunde nach diesen orgasmischen Episoden fiel sie regelmäßig in eine Trance und produzierte, noch immer an ihrer Schreibmaschine sitzend und ohne dass ihre Kollegen etwas bemerkten, seitenweise mystische Texte.» An diesem Punkt, geschätzte und höchst interessierte Zuhörerinnen und Zuhörer aus Erfurt, musste ich das Buch aus dem Klo entfernen. Das halte ich für sittenwidrig, erstens wegen der immensen Projektion von Lauren Slater in die von ihr auch nur referierten Personen – die Frau «drückte beschämt und verwirrt Beine und Lippen zusammen» –, vor allem aber wegen der seitenweisen mystischen Texte, die ich dann nämlich zuerst sehen möchte, bevor ich weiterlese. Daneben gehe ich davon aus, dass mit diesem Bild der vor ihrer Schreibmaschine in Serie orgasmierenden Sekretärin der Kulminationspunkt des Buches überschritten sein dürfte, wenn das auch bei Lauren Slater nicht gesichert ist, da sie ihr Geld mit dem Schreiben von Büchern über Psychologie verdient, und zwar nicht Fachbücher, sondern welche für das Kaufpublikum, und da muss natürlich Sex rein, bei den PatientInnen ebenso wie bei der betroffenen Psychologin.

Schwamm drüber. Passgenau vor der Oscar-Verleihung habe ich mir den Film des Jahres angesehen, Slumdog Millionaire, und habe somit laut meiner eigenen Vorgabe eigentlich gar kein Recht auf eine Kritik, aber immerhin kann ich zwei Zeitungskritiken referieren: In der einen stand, das offizielle Indien hätte diesen Film nicht so unheimlich gerne gesehen, da man lieber das moderne Bild nach außen abstrahlt als die Slum-Tristesse, wobei dieses Slumleben im Film eigentlich gar nicht so übermäßig dramatisch dargestellt wird, bloß halbwegs realistisch; jedenfalls so realistisch, dass der Film in den Kinos in den Armenvierteln von Mumbai selber nur kurz gelaufen sei, weil die Bewohner lieber Seifenopern sehen als eben ihre eigene Realität. Die andere Filmbesprechung zählte am Laufmeter jene Punkte auf, welche die Slumbewohner angeblich lautstark bemängeln, u.a. die Tatsache, dass der Hauptdarsteller schon zu Beginn in ein Klo fällt, nachdem man ihn dort eingesperrt hat, weil er, was weiß ich, eine Fotografie studiert wohl; aber auch den Namen des Films: Wir sind keine Slumhunde!, hätten die Slumbewohner gesagt. Allerdings muss ich doch annehmen, dass Danny Boyle diesen Namen nicht erfunden hat, ungefähr so, wie die Erfurter nun mal Puffbohnen genannt werden oder die Geraer Fettkoschen, wenn ich das richtig verstanden habe. Und somit muss ich auch annehmen, dass diese zweite Kritik nichts anderes war als aus den Fingern gesogenes Zeilengeld einer Filmkritikerperson, die als ultrakompetent und unabhängig und solidarisch und so weiter gelten will. Von dieser Sorte Menschen treibt sich im Kulturbereich wohl ein ansehlicher Prozentsatz der Menschheit herum. Das ist schon ziemlich ärgerlich. Im Gegensatz zum Film, dem man höchstens einen Vorwurf machen könnte: Dass er nämlich nach einem absolut klassischen Muster gestrickt sei. Das Millionenquiz als Aufhänger für die verschiedenen Lebensstationen des Teeträgers Jamal, das ist formal überhaupt nicht innovativ. Es handelt sich, mit anderen Worten, nicht um einen Avantgarde-Film, sondern nur um einen mit sämtlichen Wassern der Filmkunst gewaschenen Streifen. Sehr wohlgefällig, sehr zu empfehlen.

Daneben habt Ihr vielleicht auch noch mitbekommen, dass die Vereinigten Staaten wieder mal zum Sturm auf das Schweizer Bankgeheimnis geblasen haben und von der Mitleid erregenden UBS zunächst 200 Kundendaten von Steuerbetrügern und gleich anschliessend weitere 52'000 Kundendaten von vermuteten Steuerbetrügern gefordert und im ersten Fall auch bereits erhalten haben. Das freut natürlich Euren deutschen Kampfhund und Finanzminister Steinbrück ganz besonders; er hat ja übers Wochenende zusammen mit Frau Bundeskanzlerin Merkel die Bekämpfung von Steueroasen ganz weit oben auf die Traktandenliste gesetzt. Mann, das wäre mal ein Fortschritt, wenn diese Fluchtburgen endlich geknackt würden, übrigens nicht nur bei der Steuerhinterziehung, sondern auch bei der Schiffsregistrierung und noch ein paar weiteren Dingern. Meinerseits kann ich nur hoffen, dass die Schweizer Banken grundsätzlich ihr Geschäft schon länger auf eher solide Bereiche verlegt haben, und davon gehe ich eigentlich auch aus. Steueroptimierung kann man nämlich auch ohne Steuerbetrug praktizieren, das ist der Schlüssel zu diesem Thema. Die grössten Offshoreparadiese heißen eben nicht zufällig Offshoreparadiese, sondern sie heißen so, weil sie ein paar Seemeilen vor den Küsten der Vereinigten Staaten von Amerika liegen, z.B. die Bermudas oder die Jungfern- oder die Kaimaninseln. In Europa gibt es ebenfalls einige hübsche Offshore-Steuerinseln, nämlich z.B. Jersey, Guernsey, Herm, Sark, Alderney usw. Der britische Regierungschef Brown war denn auch auffällig zurückhaltend bei der Erleuchtung vom Wochenende; nämlich sind all diese Inseln aktuelle oder ehemalige britische Besitztümer.

Aber Großbritannien war schon immer ein Vorbild für die Schweiz. Bis etwa 1958 hatten wir sogar die gleiche Nationalhymne wie die Engländer, allerdings mit einem leicht modifizierten Text. Und so kann man auch davon ausgehen, dass die UBS in den Vereinigten Staaten wirklich systematisch u.a. Beihilfe zur Steuerflucht angeboten hat. Allerdings muss man auch davon ausgehen, dass dies die anderen Banken genauso gut taten, sei es direkt oder durch den Verweis auf sehr interessante Adressen. Und insofern hört man in unserem Kleinstaat schon etwas genervt zu, wenn die US-Amerikaner eine Kampagne betreiben, die bei aller vernünftigen Begründung eben auch nach Wettbewerbsbenachteiligung tönt.

Insgesamt aber wäre es, wie gesagt, ein echter Fortschritt, wenn sich auch im ehemaligen britischen Weltreich ein Steuerkonsens durchsetzen würde, der es nach langen Jahren des absoluten Protektionismus für die Reichen und Superreichen erlauben würde, auch bei den hohen und höchsten Einkommen und Gewinnen wieder mal mindestens ein kleines Teilchen an Gewinnbesteuerung vorzunehmen. Bei den Unternehmen der Realwirtschaft klappt das durchaus regelmäßig, wenn sie nicht gerade in Holdinggesellschaften organisiert sind, welche mit internen Transaktionen die Gewinne eben nach Guernsey oder den Virgin Islands transferieren; aber vor allem eben die Holding- und vollends die Finanzgesellschaften haben ja spätestens seit Ronald Reagan eine dauerhafte und komplette Steueramnestie genossen.