Aus neutraler Sicht: Neutralitätsprobleme

ID 2855
 
Wochenkommentar aus der Schweiz von Albert Jörimann

Albert Jörimann ("unser Mann in der Schweiz")produziert jede Woche einen ca. zehnminütigen Kommentar zu aktuellen politischen Themen.
Audio
09:58 min, 4673 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 15.12.2002 / 19:39

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Klassifizierung

tipo: Kommentar
idioma: deutsch
áreas de redacción: Politik/Info
serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

autoras o autores: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
fecha de producción: 10.12.2002
keine Linzenz
Skript
heute möchte ich über ein schwerwiegendes neutralitätspolitisches Problem sprechen, mindestens ein Doppelzenter. Nämlich sind mit dem Verschwinden der Sowjetunion alle tragenden Pfeiler der Neutralität und letztlich auch der Objektivität verschwunden. Neutral sein kann man nur zwischen zwei oder mehreren Parteien, aber verhalte dich mal neutral einer einzigen Partei gegenüber! Da wären ja alle Zivilstandsämter von Neutralitätsanträgen überschwemmt. Ein Heiratsvertrag als Neutralitätspakt, also das geht selbstredend nicht. Im Heiratsvertrag und in der darauf folgenden und nachhaltig anhaltenden Ehe kannst du auch nicht am Prinzip der Objektivität festhalten, du bist und bleibst Partei, da magst du deine Ehefrau oder deinen Ehemann noch so sehr lieben, vielmehr: Je mehr du deine Ehefrau oder deinen Ehemann liebst, desto mehr bist du Partei, und zwar witzigerweise ihre oder seine Partei, obwohl du doch eigentlich nur eine Partie bist für sie oder ihn. Aber du bist Partei per Definition. Der Heiratsvertrag ist ein Bündnis auf Parteilichkeit. Dabei schliesst er ja eigentlich im Grunde genommen zwei sich gegensätzlich ausschliessende Wesen in einen Vertrag ein, nämlich Mann und Frau, die an und für sich höchstens einen Steckplatz gemeinsam haben, hähähähä. - So, also das ist ungefähr unsere Schwierigkeit unterdessen; wir haben niemanden mehr auf der anderen Seite, zwischen den wir uns werfen könnten. Ich meine, so ne Restposten wie die Vertretung der US-amerikanischen Interessen in Havanna oder in Teheran, das zählt doch eigentlich nicht. Insofern ist also unsere Neutralität futsch.

Da müssen wir Unternehmensentwicklung betreiben. Gottseidank sind mit dem Wegfall des Haupt- bzw. oberflächlichsten aller oberflächlichen Widersprüche und Gegensätze, nämlich eben zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, nicht auch noch alle anderen weggefallen, so dass wir uns neutral zwischen neu entstehende andere Gegensätze stellen könnten. Was würde sich hier, bitte, weniger aufdrängen als der voll ausgebrochene Krieg zwischen Euch und Eurer Regierung? Ich möchte hiermit allen Deutschinnen und Deutschen guten Willens unsere guten Dienste für eine Vermittlung zwischen a) Schröder und b) dem deutschen Volk anbieten. Wir könnten gegenseitig Botschaften eröffnen, das heisst, die Botschaft bei Schröder haben wir ja schon, wir müssten also nur noch eine Botschaft Schröders beim Volk auftun. Machen wir doch gerne! Und dann verhalten wir uns neutral und verbreiten unsere Objektivität, dass die Windeln flattern.

Das ist ja schon ulkig, wie die Medien bei Euch den Eindruck erwecken, die Bundesregierung wolle einen Bürgerkrieg von oben entfesseln und Euch piesacken und aussaugen wie einst die preussischen Landjunker, von denen alle CDU- und CSU-PolitikerInnen abstammen. Wir SchweizerInnen, in unserem erleuchteten Zustand immerwährender Neutralität von Anbeginn aller Zeiten an, wir erinnern uns da reflexartig an jene Zeiten, in denen sich ein Vorgänger Schröders die Qualifikation erarbeitete, er würde alles aussitzen. Genau da steht bzwq. sitzt jetzt unser Gerhard doch auch, ganz exakt. Und es ist, als folgten die Medien einem inneren Zwang der öffentlichen Meinung, nämlich dass man jetzt, wo der Gerhard wieder für vier Jahre ziemlich unantastbar im Sattel sitzt, so richtig doll draufhaut, um anschliessend jenen psychologisch wohlbekannten Schwenker und Schlenker zu tun und ihn dann so peu à peu richtiggehend liebzugewinnen.

Unter diesem Aspekt betrachtet sind die Geifereien von der ansonsten doch immer eher sympathischen Angela Merkel und den anderen Abkömmlingen preussischer Blutsauger in CDU und CSU doch höchst interessant, sie tönen hier, oberhalb des Schwabenlandes, wie die krächzenden Vorgesänge kommender schwerer Wahlniederlagen. In spätestens vier Jahren, so lautet die entsprechende Prognose, ist Deutschland voll und ganz in sozialdemokratischer Hand, bis auf das letzte Bundesland, und das wird ja ohne Zweifel Thüringen sein. Thüringen muss fallen! - Allerdings, und das muss man dann doch noch anfügen, ist dann natürlich von einem sozialdemokratischen Programm nichts mehr übrig bis auf jene Staatsgläubigkeit, die umgekehrt nicht nur die SPD, sondern die CDU und die CSU genau gleich auszeichnet: Der Glaube daran, dass man die Widersprüche der Gesellschaft lösen kann, indem man den Staat mit entsprechenden Programmen beauftragt. – Das allerdings ist ein Generalirrtum, der in den nächsten Jahren eine Zuspitzung erfahren wird insofern, als ja der Staat als nationales Gebilde immer mehr in Konflikt kommt mit der Europäischen Union als internationales Gebilde. Im Nationalstaat finden die einzelnen Interessengruppen mit der Zeit zu einem relativ stabilen Gleichgewicht; nun aber prallen die nationalen Gleichgewichte aufeinander, und die sind nun einfach mitnichten gleich. Damit muss aber der Staat logischerweise zwingend an sich selber scheitern. Und diesen Prozess verfolgen wir dann wieder mit grossem Interesse und stellen auch hier schon jetzt nicht nur unsere guten, sondern sogar unsere besten Dienste bereit. Hier sind wir, Pfadfinderwort, auf Ehre!

Insgesamt aber entnehmen wir dem furchtbaren Geschnatter einfach, dass ihr euch gegenwärtig nicht so wohl fühlt in diesem eurem Deutschland, geschätzte Deutsche. Thja, Freundinnen und Freunde, da seid ihr wohl nicht allein. Auch die Kanaken fühlen sich nicht wohl in Deutschland, aber eigentlich wollte ich nicht das sagen, sondern: eigentlich fühlen sich auch die Holländerinnen und Holländer nicht mehr wohl in Holland und möchten jetzt lieber nach Dänemark. Was sagt ihr dazu? Auch bei uns möchten viele Menschen über Weihnachten verreisen, aber niemand geht weg, weil niemand sich mehr eine Reise leistet, obwohl die unterdessen so wenig kosten, die Reisen, dass es garantiert billiger ist wegzufahren als zuhause zu bleiben. Aber wenn man wegfährt, erhält man keine Arbeitslosenunterstützung mehr, so einfach ists!, und deswegen nützen all die Sonderaktionen der Billigfluggesellschaften keinen Pfifferling, es bleiben alle hübsch zuhause sitzen beziehungsweise stehen in der Schlange vor dem Arbeitsamt. Auch bei uns, Kolleginnen und Kollegen, ist es das Gleiche. Die Politikerinnen und Politiker machen auch in der Schweiz eh, was sie wollen, und unsere Wirtschaft ist keinen roten Pfennig mehr wert, alles nur heisse Luft; immerhin bleibt uns der Trost, dass man mit heisser Luft immerhin noch schöne Ballonfahrten unternehmen kann. Ansonsten warten auch wir auf den Messias, der uns endlich verkündet, wie wir unsere Gesellschaften renovieren sollen. In der Zwischenzeit schieben wir eine romantische Phase ein und lesen Bücher oder gehen ins Kino.

Ich persönlich wäre froh, wenn es wieder mal Schnee gäbe. Ich meine richtigen Schnee, nicht so ein paar Millimeter, das dann sofort von der Maschinenindustrie in Matsch und Schneeschlamm umgewandelt wird, sondern einen Meter zwanzig Neuschnee Pulver gut auf eine gut abgesetzte Schneedecke von etwa fünfzig Zentimeter. Und dann Temperaturen bei zwanzig Grad unter Null und Sonnenschein, dass man im Bikini Skilaufen kann. Neben der reinen Schönheit wäre dies ein effizienter Beitrag, um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, denn bei solchen Wetterverhältnissen - um es zu wiederholen: ausreichend Schnee, Temperaturen von zwanzig unter Null und Sonnenschein - wird niemand mehr krank. Eigentlich verhalten wir uns ja idiotisch, wenn wir die Räume auch im Winter auf plus zweiundzwanzig Grad raufheizen und damit eben dafür sorgen, dass in unseren Siedlungen keine Chance mehr besteht für irgendwelchen Schneebesatz, weil alle Gebäude und auch die Strassen zum Vornherein viel zu warm sind. Das ist wirklich idiotisch, gesund wäre, alle Innenräume auf minus achtzehn Grad hinabzukühlen. Jetzt, wo man ja mit dem Computer sprechen kann und nicht mehr maschinenzuschreiben braucht, wäre das nicht mal mehr für die sogenannt produktiven Abläufe gefährlich, die ja ohnehin reiner Betrug sind, produktiv ist bei uns eh überhaupt nix mehr. Das wäre doch eine Entwicklung! Da würde es den Deutschen in Deutschland wieder Spass machen, und es würde ein ungeheurer Reiseboom einsetzen, von Eskimos über die Lappen bis hin zu den Wüstensöhnen und –töchtern, die sich dieses Exotenland natürlich nicht entgehen lassen möchten. Die Heizölpreise würden in den Keller fallen, so dass wir auch auf dieser Ebene einen Konfliktherd entschärft hätten, ohne auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. Schönes Wetter plus beissende Kälte gleich Gesundheit und Wirtschaftswachstum, das sollte man sich mal hinter die Ohren schreiben. - Und was den Schnee angeht: Findet ihr es eigentlich nicht auch pervers, dass man je länger, desto mehr sogenannte Spitzensportlerinnen und Spitzensportler symbolisch das absolvieren lässt, was man doch eigentlich selber erledigen sollte, nämlich eben doll skilaufen und Eistee saufen oder Glühwein? – Und wenn wir schon dabei sind: Weshalb richten die eigentlich im internationalen Skiverband die Rennen nicht so ein, dass man auf halber Strecke einen Halt in einer Skihütte einlegen muss und dort für Produktewahl, Bestellung und Eleganz und Graziosität des Konsums zusätzlich Stil- und Haltungsnoten kriegt, die anschliessend, ganz wie bei den Ski-Weitsprung-Meisterschaften, zur Ermittelung des Resultates beigezogen werden? Vor zig Jahren einmal hat jemand in einem Buch über den eindimensionalen Menschen gejammert. Und wo sind wir heute? Wir sehen im Fernsehen Skiläufer, die einfach möglichst schnell ins Tal runterdonnern. Das ist doch einfach Quatsch. Vor allem, wenn dann noch so ne Deutsche gewinnt statt wie früher unsere, ach, wie hiess sie noch, Therese Nadig, Michaela Figini oder Vreni Schneider. Das waren noch Zeiten, als es noch einen echten Winter gab!