Waren aus Israel boykottieren?

ID 3049
 
Beitrag zur Veranstaltung "Ist Kritk an Israel antisemitisch?", Mi, 15.1.03, Schlatterhaus Tübingen. Veranstalter: AK Palästina und Friedensplenum Tübingen.
Interviews mit Prof.Dr. Helga Baumgarten (Politikwissenschaft Birzeit-Uni Ramallah) und mit Eva Maria Kustermann (Palästina-AK Tübingen). Kommentar am Ende. Kurze Musiktrenner.

Mod
Viel Kritik aus den eigenen Reihen mussten sich in den vergangenen Wochen der Tübinger AK Palästina und das Tübinger Friedensplenum gefallen lassen. Grund dafür war ein Aufruf, in dem die beiden Gruppen unter anderem die Bundesregierung und die EU dazu auffordern, keine Warenimporte aus den israelischen Siedlungen auf besetztem Gebiet mehr zuzulassen. Die Kritik an diesem Teil des Aufrufs bestand hauptsächlich darin, dass mit einem Aufruf zu einem Warenboykott Assoziationen zur Kauft nicht bei Juden-Kampagne der Nazis unvermeidlich seien. Einen Boykott von Waren aus Israel zu fordern, knüpfe an antisemitische Ressentiments an und provoziere Beifall von der falschen Seite. Mit dieser Kritik setzten sich die Initiatoren des Aufrufs am 15.Januar öffentlich auseinander.

Ist Kritik an israelischer Politik antisemitisch? So lautete die teils selbstkritische teils suggestiv verneinende Leitfrage der Diskussionsveranstaltung.
Audio
38:10 min, 15 MB, mp3
mp3, 56 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 21.01.2003 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Lauschangriff
Entstehung

AutorInnen: Andreas Linder
Radio: WW-TÜ, Tübingen im www
Produktionsdatum: 16.01.2003
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als Referentinnen waren die Schirmherrinnen des Aufrufs eingeladen: Helga Baumgarten, deutsche Professorin für Politikwissenschaft an der Birzeit-Universität in Ramallah und Felicia Langer aus Tübingen, Holocaust-Überlebende, langjährige Anwältin von PalästinenserInnen in Israel und Trägerin des alternativen Friedensnobelpreises.
Ein kurzer Überblick über den Verlauf der Veranstaltung: Zunächst versuchte die Moderatorin Ingrid Rumpf vom AK Palästina die verschiedenen Kritikpunkte am besagten Aufruf zu entkräften. Sie betonte vor allem, dass sich AK Palästina und Friedensplenum in der Tradition antifaschistischer Politik sehen, Antisemitismen und Rassismen ablehnen und sich gegen rechte Gruppen, die zu Israel-Boykotten aufrufen, strikt abgrenzen.
Gerade die parallel laufende Ausstellung über die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma am Veranstaltungsort, dem Tübinger Schlatterhaus, verdeutliche die unzweifelhaften Identitäten der aufrufenden Gruppen. Ingrid Rumpf betonte, dass der Aufruf ausdrücklich kein Appell zum Warenboykott israelischer Früchte sei, sondern eine Forderung an die Regierenden in Berlin und Brüssel, ihre eigenen Abkommen mit Israel einzuhalten, nur Waren aus dem tatsächlichen Staatsgebiet Israels zu importieren. Israel masse sich an, die widerrechtliche besetzten Siedlungsgebiete als eigenes Staatsgebiet zu deklarieren. Unter den Aufruf seien bisher trotz verschiedener Kritik 3600 Unterschriften gesammelt und an das Auswärtige Amt in Berlin und die EU-Kommission in Brüssel geschickt worden.


Helga Baumgarten referierte sehr ausführlich und differenziert ihre Sicht der momentanen Situation in Israel. Sie bezeichnete den andauernden Bürgerkrieg in Israel als Katastrophe. Frau Baumgarten wird gleich im Interview zu hören sein. Felicia Langer argumentierte sehr detailliert, warum für sie eine Kritik an der israelischen Regierungs- und Besatzungspolitik nicht antisemitisch sei und warum sie einen Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten unterstützt. Die engagierte Diskussion nach den Vorträgen konzentrierte sich auf die Kritikpunkte am zur Debatte stehenden Aufruf. Die Kritikerinnen und Kritiker hatten dabei einen schlechten Stand. Die prominenten Referentinnen gingen zwar sehr differenziert und offen auf die Argumente ein, aus dem Publikum häuften sich aber ungehaltene Zwischenrufe, sobald Sinn und Zweck des Aufrufes, vor allem des darin enthaltenen Warenboykotts in Frage gestellt wurden. Die KritikerInnen führten an, dass der Aufruf nur im Nebensatz auch die Einstellung von Rüstungsexporten in arabische Staaten und nicht nur nach Israel fordere. Ebenso wurde die Meinung vertreten, dass die Forderung nach einem Warenimportstop in die EU für die Friedensbewegung in Israel eine nützliche politische Strategie im Kampf für ein Ende der völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik sei, aber nicht für die deutsche Friedensbewegung. Und vor allem, dass man nicht wissen könne, von welchen rassistischen und antisemitischen Kräften dieser Aufruf beklatscht werden würde. Diese Kritikpunkte stießen bei den mehrheitlich anwesenden BefürworterInnen des Aufrufs auf weitgehendes Unverständnis sowie auf ungehaltenes Abwinken. Aber immerhin: Es wurde öffentlich und überwiegend fair diskutiert.
Wir wollen nun hier im Radio die Debatte der Veranstaltung nicht wiederholen, sondern bieten zunächst ein Interview mit Frau.Prof.Baumgarten, das im Anschluß an die Veranstaltung telefonisch geführt wurde:



Interview Baumgarten
"Frau, Baumgarten, wie erleben Sie denn ...
... dass sie in unseren Reihen nicht willkommen sind und auch keine Chance haben."


Antisemitische Trittbrettfahrer sind in den friedensbewegten Reihen nicht erwünscht. So das Fazit von Prof. Helga Baumgarten. Damit betonte sie nochmal die aus ihrer Sicht richtigen politischen Forderungen des Aufrufs und die Abgrenzung zu rechtslastigen Einstellungen. Im folgenden Interview mit Eva Maria Kustermann vom AK Palästina Tübingen wird es vor allem um die Frage gehen, warum für die Initiatoren des Aufrufs die Forderung nach Einstellung von Warenimporten aus den besetzten Gebieten die gleiche Wichtigkeit hat wie die Forderung nach Einstellung von Rüstungsexporten. Gefragt wird vor allem auch nach den Positionen des Palästina AK zu den Kritikpunkten am Aufruf.



Interview Eva Maria Kustermann
" In Eurem Aufruf zur Beendigung...
... Solche Datteln schmecken mir nicht."


Kommentar
Es spielt also doch eine Rolle, woher die Datteln kommen. Die Frage ist allerdings, ob Früchte aus Israel ein zentrales Problem linker deutscher Friedenspolitik sein sollen. Wer wie zahlreiche internationale Friedensgruppen die Embargo-Politik gegen den Irak bekämpft, weil darunter nur die Zivilbevölkerung zu leiden hat, sollte sich die Frage stellen, ob es Sinn macht, eine ähnliche Politik gegen den Staat Israel zu fordern. Überhaupt muss die Frage erlaubt sein, wem ein Boykott israelischer Waren nützen soll und wem nicht. Eine klare Antwort auf diese Frage blieb bei der Veranstaltung "Ist Kritik an Israel antisemitisch? aus.
Sehr glaubwürdig aber haben sich die Initiatoren des besagten Aufrufs wie auch die prominenten Schirmherrinnen in der Veranstaltung gegen den Vorwurf abgegrenzt, sie würden etwa die Lasten der deutschen Geschichte als auch die zeitgenössischen Antisemitismen in Deutschland nicht mitbedenken. Sie haben sich vor allem nicht einseitig, sondern sehr differenziert mit der verfahrenen Situation in Israel und Palästina auseinandergesetzt. Neben der Kritik an den Kriegsgräueln der israelischen Armee wurden genauso die Selbstmordattentate von Palästinensern als sinnlos und kontraproduktiv, als schädlich für den Friedensprozess bezeichnet. Den inhaltlichen Positionen von Frau Baumgarten und Frau Langer gebührt hoher Respekt. Doch die entscheidende Kritik am Aufruf von AK Palästina und Friedensplenum konnten auch sie nicht entkräften: Einen Boykott israelischer Waren zu fordern weckt auch auf der Basis edelster Motive Assoziationen zur Kauft nicht bei Juden-Kampagne der Nazis, mit der die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in den dreißiger Jahren ihren Anfang nahm. Einen Boykott israelischer Waren zu fordern, verursacht zumindest den klammheimlichen Beifall all derer, denen es nicht an der Kritik einer brutalen Besatzungspolitik gelegen ist, sondern am Wiederbeleben antisemitischer und antiisraelischer Ressentiments. Und von diesen gibt es in Deutschland immer mehr. Und es sind nicht nur die Möllemänner, die ihre Kritik an der israelischen Regierungspolitik in antisemitische Parolen kleiden. Auch linke und globalisierungskritische Gruppen wie attac oder Ya Basta aus Italien lassen in undifferenzierter Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf antiisraelisches und antisemitisches Vokabular hören.


Selbst wenn der Warenboykott eine angesichts der Situation in Israel politische richtige und möglicherweise wirksame Forderung ist. Selbst wenn es kein realer Einkaufsboykott, sondern nur ein Appell an die Regierenden ist, ihre eigenen Beschlüsse einzuhalten. Selbst wenn immer wieder betont wird, dass das Existenzrecht des Staats Israel nicht in Frage steht. Selbst wenn eingeräumt wird, dass die Selbstmordattentate palästinensischer Terroristen unverantwortlich, unmenschlich und kontraproduktiv sind. Selbst wenn immer wieder betont wird, dass sich die Initiatoren dieses Aufrufs als antirassistisch und nicht-antisemitisch verstehen und sich auf die kritischen und linken Kräfte in Israel und Palästina solidarisch beziehen. Selbst dann ist der Aufruf oder gar die Durchführung eines Boykotts israelischer Waren vielleicht in Israel die richtige Aktion, aber nicht in Deutschland. Was für Gush Shalom und andere israelische Gruppen die richtige politische Strategie sein mag, muss es für deutsche linke Gruppen nicht sein. Die Situation in Deutschland ist von der Hypothek der deutschen Geschichte und den erneut zunehmenden Antisemitismen geprägt. Wer versucht, sich um diese Realität herumzumogeln, wie das das Friedensplenum und der AK Palästina versuchenkommt nicht umhin, immer wieder erklären zu müssen, worin der Unterschied zu Israelboykotten liegt, die nicht aus friedenspolitischen, sondern aus antisemitischen und rassistischen Motiven erfolgen. Ein Blick ins Internet unter dem Stichwort "Israelboykott" reicht, um zu sehen, welcher Schund und Dreck von rechten Idioten, aber auch von Möllemännern, zu diesem Thema verbreitet werden. Ak Palästina und Friedensplenum täten gut daran, zu erkennen, dass ein Boykott israelischer Waren hier in Deutschland die falsche Aktion, der falsche politische Ansatz ist. Auch, wenn es sich nur um einen Appell an die Herrschenden handelt, ihre eigenen Abkommen einzuhalten. Wäre es nicht sinnvoller, wenn sich die hiesige Friedensbewegung, auf andere Aktionsformen besinnen würde, statt sich mit Appellen an die Regierenden zu wenden? Der solidarische Bezug auf das unterdrückte palästinensische Volk und auf regierungskritische israelische Gruppen bietet eine breite Palette von Möglichkeiten. Als Beispiel seien der Aufruf von medico international mit dem Titel Zeichen paradoxer Hoffnung genannt oder die tatkräftige Unterstützung israelischer Kriegsdienstverweigerer. Felicia Langer hat recht, wenn sie sagt, dass gehandelt werden muss und dass es Menschen gibt, wie die israelischen Verweigerer, die für ihre Überzeugung in den Knast gesteckt werden.
Die deutsche Friedensbewegung könnte sich auf diese Menschen nicht nur solidarisch beziehen, sondern sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Dann wäre Friedenspolitik mehr als abstrakte Forderungen an die Regierenden, dann würde sie zu praktischer Politik werden.