Brief "15 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica"

ID 35002
 
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Hasan Nuhanovic überlebte als bosniakischer UN-Bediensteter das Massaker von Srebenica und kämpft seitdem für eine Aufarbeitung der traumatischen Folgen dieses Verbrechens. 2005 erschien sein Buch "Unter der UNO Flagge". Vor Kurzem wurden die Reste seines jüngeren in Srebrenica ermordeten Bruders in einem Massengrab gefunden. Nuhanovic schrieb einen Brief an die Öffentlichkeit.

Übersetzt aus Bosnischen von Neven Klepo; vorgelesen von Claudia Buchbauer und Dieter Hüttner.
Audio
11:18 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 31.08.2010 / 22:00

Dateizugriffe: 409

Klassifizierung

Beitragsart: Anderes
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Hasan Nuhanovic, Klaudia Puchbaur, Dieter Hüttner, Neven Klepo
Kontakt: michael.barnikel(at)gmail.com
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 06.07.2010
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Brief aus Srebrenica – „Made in Portugal“

Letzte Woche hat er den Körper von Muhamed Nuhanović identifiziert, dessen leibliche Überreste aus dem Massengrab in Kamenice exhumiert wurden. Die Identifikation hat sein Bruder Hasan bestätigt, der einen Brief, den die Zeitschrift „Dani“ veröffentlicht hat, an demselben Tag geschrieben hat.

1.
Heute habe ich meinen Bruder identifiziert anhand seiner Sportschuhe.
Letzen Herbst haben sie mir von meiner Mutter gemeldet. Sie haben sie gefunden, was von ihr übrig geblieben ist, in einem Bach, im Dorf Jarovlje, zwei Kilometer entfernt von Vlasenica. Die Serben, die dort wohnen, haben vierzehn Jahre lang Müll auf sie geworfen. Sie war nicht allein. Noch sechs weitere haben sie am denselben Ort umgebracht. Verbrannt. Ich sagte, ich hoffe, dass sie verbrannt wurden, nachdem sie zum letzten Mal ausatmeten. Im letzten Herbst, das gleiche, ging ich zum Gericht, damit ich Predrag Bastah „den Kaiser“ sehe. Ein Serbe in Vlasecina sagte mir, ich gab ihn später hundert Mark, dass sie „der Kaiser“ mit Benzin übergossen und angezündet hat. Als ich ihm im Gerichtssaal sah – sie stellen ihn vor Gericht, weil er 1992 gemetzelt hat – habe ich nichts zu sehen gehabt. Irgendein verkrampfter Ausgestoßener. Er hat wohl sein ganzes Leben auf seine fünf Minuten gewartet, ein „Jemand“ zu sein. Und er hat sie 1992 bekommen. Und dann gab es keine lebendigen Muslime mehr zum massakrieren bis zum Fall von Srebrenica. Er hat mehr als zwei Jahre gewartet, aber dann ist ihn wieder die Faust in mich, meine Mutter und andere zugefallen. Sein Befehlshaber, hier er arbeitet in Sarajewo, so sagte mir ein anderer Serbe, und ihm gab ich dreihundert Mark.
Ich bereitete mich vor, sie dieses Jahr neben meinem Vater beizusetzen. Meinem Vater identifizierte ich vor vier Jahren, und elf Jahre nach seiner Hinrichtung. Etwas mehr als die Hälfte seiner Knochen, sagt man, haben sie gefunden. Der Schädel zerschmettert von Hinten. Der Doktor konnte mir nicht sagen, ob es nach dem Tode geschah. Sekundäres Grab – Čančari 5. Zvornička Kamenica. Dreizehn Massengräber gibt es dort, alles Körper, die von Četniks aus dem primären Massengrab bei Police, farma Branjevo, kurz vor Dayton mit Bulldozern zusammengetragen, auf LKWs aufgeladen und vierzig Kilometer weiter ausgekippt und wieder zugeschüttet haben.
Von ihnen gab es dort etwa eintausend fünfhundert. So sagen die es aus dem Tribunal. Ich habe die Aussage eines Scharfrichters gelesen, der sagt: „Ich konnte nicht mehr schießen, mein Zeigefinger ist eingeschlafen, so sehr habe ich sie getötet. Ich tötete sie stundenlang.“ Irgendjemand, sagt er, hat ihnen je fünf Mark für jeden Muslimen, den sie an diesem Tag umbringen, versprochen. Er sagte auch, dass sie die Busfahrer gezwungen haben auszusteigen und zumindest ein paar Muslime umzubringen, damit sie später niemals davon erzählen würden. Da, die armen Fahrer. Der arme Erdemović, der sagt, dass er töten musste, sonst wäre er selbst umgebracht worden. Alle mussten, siehe da, aber nur Mladić ist schuld, weil er das, sagen sie, alles befohlen hat. Und wenn sie Mladić fassen, eines Tages, wird er sagen, wie ein richtiger serbischer Held: „Ich übernehme die Verantwortung für alle Serben und für das ganze serbische Volk. Nur ich bin schuld, richtet mir und lasst sie alle frei.“ Und dann werden alle, auch wir und die Serben und die anderen, glücklich und zufrieden sein. Wir werden unsere Hosen runterziehen und uns abknutschen. Die Ausländer werden wir für nichts mehr brauchen.
Letztes Jahr haben sie ihnen allen schöne, weiße steinerne Grabsteine angefertigt. Alle gleich, alle im selben Lot. Neben meinem Vater zwei freie Plätze. Er wartet schon das dritte Jahr auf meine Mutter und seinen Sohn, Muhamed, dass sie ihn neben ihm legen.
Und sie sagten mir von meiner Mutter. Ich bereitete mich vor, sie neben meinem Vater diesen 11. Juli 2010 zu beizusetzen. Aber dann riefen sie mich letztens am Telefon an – sagten sie haben Übereinstimmungen der DNS, aber sie sind nicht hundertprozentig sicher. Sie sagten, dass ich nach Tuzla komme. Und heute bin ich gegangen.

2.
Ich kaufte meinem Brüderchen 1995 im Frühling neue Sportschuhe, von Adidas, über einen Ausländer. Er brachte sie aus Belgrad mit, als er aus dem Urlaub nach Srebrenica zurückkehrte. Mein Brüderchen hatte sie nicht einmal ein, zwei Monate getragen, als alles das geschah. Ich habe ihn auch Levis „501“ gekauft. Er hat sie getragen. Ich weiß auch genau, welchen Pullover er getragen hatte und welches Hemd.
Und heute zeigte mir der Doktor die Fotografien der Kleidung. Er sagt es ist nicht viel übrig geblieben, sehr wenig, aber die Sportschuhe gibt es noch.
Als er die Fotos vor mich auf den Stuhl stellte, sah ich die Sportschuhe, die Adidas vom Brüderchen, als ob sie jemand erst letztens ausgezogen hätte. Sie sind nicht einmal aufgeschnürt.
Der Doktor brachte eine Tüte vor mich und schüttete auf einen Karton aus, alles was sie von seinen Überresten gefunden haben. Und nach fünfzehn Jahren des Wartens nahm ich die Schuhe meines Brüderchens in die Hände. Neben ihnen auch ein Gürtel, eine große metallene Gürtelschnalle und die Überreste der Levis. Es gab noch die Socken, beide.
Ich suchte das berühmte Etikett der Levis 501, damit auch sie uns die Identität meines Brüderchens bestätigt. Ich nahm die Überreste der Jeans meines Brüderchens in die Hände, nach fünfzehn Jahren. Metallknöpfe. Die Überreste der Innentaschen. Alles aus Baumwolle ist verwittert. Es gibt sie nicht mehr. Nur die Kunststoffe sind übrig geblieben.
Irgendein Etikett, ein anderes, besser lesbar, nur ein bisschen verschmutzt, verheddert in diesen Schnüren, Nieten, Resten.
Ich las, das Schild der Levis suchend. Dort steht: „Made in Portugal“.
Den ganzen Tag ist mir „Made in Portugal“ vor Augen. Und mein ganzes Leben wird es mir, glaube ich, vor Augen sein. Ich werde alles zu hassen beginnen, was „Made in Portugal“ ist, so wie ich Heineken-Bier zu hassen begann, das die holländischen Soldaten in Potočari sauften, in ihrem Stützpunkt, nicht einmal eine Stunde nachdem sie die Muslime heraustrieben – direkt in die Hände der Četniks. Oder vielleicht werde ich alles beginnen zu mögen, worauf „Made in Portugal“ steht, alles das, was mich bis zum Ende meines Lebens an meinen getöteten Bruder erinnert.

3.
Ein holländischer Soldat trat an mich heran, damals, ein jüngerer und bot mir einen Karton Bier an und Marlboro. Ich winkte mit dem Kopf ab. Er senkte nur die Schultern und ging.
Und ich, wie auch alle anderen, habe fünfzehn Jahre lang zu Gott gebettet, dass, wenn wir einmal erfahren, was passiert ist, sie nicht lange gelitten haben, dass sie nicht in Leiden starben.
Sie sind schon fünfzehn Jahre tot. Diese Jahre sind irgendwelche neuen Kinder geboren worden. Und heute haben diese Kinder fünfzehn Jahre. Jemand hat am 11. Juli dieses Jahres den fünfzehnten Geburtstag.
Ich werde niemals, mit keinen Mitteln, nichts tun, was diesen Kindern die Zukunft beeinträchtigen würde. Ich würde nicht einmal daran denken. So Gott will, soll so etwas niemanden je wieder geschehen.
Nur, es gibt keine Amnestie, mein Freund. Für Scharfrichter gibt es keine Amnestie.

4.
Die Journalisten fragten mich häufig, und letztens wieder: Welche ist meine Botschaft für die zukünftigen Generationen. Ich erzählte ihnen, wie ich nach Dayton im Auto Ostbosnien durchfuhr auf der Suche nach den Spuren der Verschwundenen, Getöteten. Ich wusste, dass nahe bei Konjević Polje, Nova Kasaba, Glogova, wo lang es nach Srebrenica geht, Massengräber gibt, dass die Felder voll von ihnen sind. Und als ich diesen Weg entlang fuhr, an Tagen als alles blühte, als alles grün wurde, sah ich die Schönheit gar nicht. Ich sah nur Massengräber, die die Felder verbergen. Unter den Blumen lagen unsere Väter und Brüder, Söhne. Ihre Knochen.
Ich fuhr an Ortschaften vorbei, wo Serben wohnen – sehe sie durch das Fenster an und denke: Welcher von ihnen ist ein Mörder? Welcher von ihnen ist ein Mörder.
Jahrelang war es so. Jahrelang. Aber dann, eines Tages, neben den Weg auf dem Feld, für das ich gehört habe, dass es ein Massengrab versteckt, spielte ein Mädchen. Sie hatte fünf, sechs Jahre. Genau wie meine Tochter. Ich wusste, dass es serbische Häuser sind.
Das Mädchen rannte über die Wiese. Und alles vermischte sich: Sowohl Traurigkeit, als auch Schmerz, als auch Hass.
Und dann dachte ich: Das arme Mädchen, was hat sie jemanden zu Leide getan. Sie weiß ja gar nicht, was sich unter der Wiese befindet, den Blumen. Mir tat das kleine Mädchen Leid, das aussah genau wie meine Tochter. Sie könnten zusammen auf der Wiese spielen, dachte ich.
Und wünschte mir, dass dieses Mädchen und meine Tochter niemals erleben werden, was wir erlebt haben. Niemals. Sie verdienen eine bessere Zukunft. Das sagte ich diesen Journalisten. Die letzten waren aus Belgrad.
Und siehe da, Doktor Kešetović bestätigte mir, die sterblichen Überreste werden für die Beerdigung für den 11. Juli bereit sein. So als hätte sich mein Brüderchen im letzten Moment gemeldet, damit sie ihm begraben mit seiner Mutter, neben dem Vater, der auf sie in Potočari wartet.
Und so werden, schließlich, mein Bruder, getötet in Pilica, exhumiert in Kamenica, mein Bruder getötet in Pilica, exhumiert in Kamenica und meine Mutter, getötet in Vlasenica, exhumiert in einem Bach unter Müll begraben, nebeneinander liegen in Potoćari.

Kommentare
09.07.2010 / 21:03 R,
Gefechtstote präsentiert man als Massakeropfer
Vor 15 Jahren marschierte die bosnisch-serbische Armee in Srebrenica ein. Daß sie einen Völkermord an bis zu 8000 Muslimen zu verantworten hat, ist zweifelhaft. Ein Gespräch mit Alexander Dorin http://www.jungewelt.de/2010/07-10/051.php
 
10.07.2010 / 18:22 Balkanredaktion LORA München, LORA München
Leugnen macht es auch nicht besser
"Das Massaker von Srebrenica war ein Kriegsverbrechen während des Bosnienkriegs, das durch UN-Gerichte als Völkermord klassifiziert worden ist." http://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Srebrenica