Focus Europa (#133) vom 19. Oktober 2010

ID 36714
 
Themen:

-Frankreich streikt - ein Korrespondentenbericht aus Mulhouse

-Warum wurden revolutionäre Ideale zur autoritären Herrschaft? Eine Buchrezension zu "Die Sowjetmacht" von Alexander Rabinowitch


Nachrichten:

-Angriff auf das Parlament in Tschetschenien:

-Wulff äußert sich in Ankara zur Migrationsdebatte

-EU-Kommission verzichtet auf Verfahren gegen Frankreich

-Deutschland und Frankreich beschließen höhere Strafen für Defizitsünder

-Schärferes Vorgehen gegen Hedgefonds
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32:28 min, 30 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.01.2011 / 19:52

Dateizugriffe:

Klassifizierung

Beitragsart: Magazin
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Politik/Info
Serie: Focus Europa
Entstehung

AutorInnen: David, Martin, Alex
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 19.10.2010
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Themen:

-Live aus Mulhouse:

Bei den Protesten gegen die französische Rentenreform ist es gestern und heute zu schweren Zusammenstößen zwischen der Polizei und Schülern gekommen. Justizministerin Alliot-Marie sagte dem Sender Europe 1, gegen "Randalierer" werde mit "Härte" vorgegangen. Französische Medien sprechen bereits von einer "wahren Stadtguerilla". Doch auch außerhalb der Hauptstadt wachsen die Proteste, unter anderem waren fast 400 Schulen und 12 Universitäten von Streiks betroffen.
Durch die Streiks versinkt Frankreich logistisch im Chaos. Sehr viele Flüge mussten gestrichen werden, dazu war zuletzt in zahlreichen Städten der Nahverkehr lahmgelegt. Weil Treibstoff-Depots und Raffinerien von Demonstranten blockiert werden, ist inzwischen jede fünfte Tankstelle des Landes von Benzin- und Dieselknappheit betroffen. Die Gewerkschaften wollen mit den Streiks die bevorstehende Anhebung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre verhindern, über die am morgigen Mittwoch im Senat abgestimmt wird. Rein zufällig zum Betroffenen der Streiks in Frankreich wurde unser Mitarbeiter Alexander Sancho-Rauschel.

-Oktoberrevolution revisited: Wenn etwas die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat, dann war es die Russische Revolution von 1917. Die Geschichte der Linken ist unweigerlich mit diesem Datum verbunden, sei es, dass man mit der bolschewistischen Politik nichts am Hut haben will, oder sich nach wie vor und gegen jeden Zeitgeist auf sie beziehen mag.
Einige Fragen sind aber besonders für historisch interessierte Menschen immer noch offen. Wie konnte aus dem revolutionären Aufbruch des Jahres 1917 in kürzester Zeit ein autoritäres Herrschaftsmodell entstehen? Der Historiker Alexander Rabinowitch hatte Einblick in die bislang unter Verschluss gehaltenen Archivbestände bekommen und hat danach das umfassende Werk „Die Sowjetmacht“ geschrieben, das seit neuestem auf deutsch vorliegt. Focus Europa wird es vorstellen.


Nachrichten:

-Angriff auf Parlament in Tschetschenien:

Aufständische haben das Parlamentsgebäude in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny gestürmt. Dabei erschossen sie drei Wachleute. Laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax sprengten sich zwei der Angreifer anschließend selbst in die Luft, dabei kamen mindestens vier weitere Menschen ums Leben. Alle Angreifer sind der Agenturmeldung zufolge mittlerweile von Sicherheitskräften getötet worden. Die genaue Zahl der Kämpfer sowie die der Toten und Verletzten sind bislang unklar. Die Leitung des Parlaments ist Meldunge zufolge mit gepanzerten Fahrzeugen in Sicherheit gebracht worden. Die prorussische Regierung vermutet radikalislamische Rebellen, die für die Unabhängigkeit von Moskau kämpfen, hinter dem Anschlag. Einem Polizeisprecher in Grosny zufolge ist der tschetschenische Republikchef Kadyrow kurz nach dem Angriff zum Tatort gefahren, um persönlich die Gegenmaßnahmen zu leiten. In Moskau habe sich inzwischen auch der russische Innenminister Raschid Nurgalijew eingeschaltet.

-Wulff äußert sich in Ankara zur Migrationsdebatte:
In einer Rede vor dem türkischen Parlament hat Bundespräsident Christian Wulff betont, Einwanderer hätten Deutschland vielfältiger, offener und der Welt zugewandter gemacht. Das "Zusammenleben in Vielfalt" sei aber auch eine große Herausforderung. Die Probleme im Zusammenleben müssten klar benannt werden. Dazu gehörten "das Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung". Durch "multikulturelle Illusionen" seien diese Probleme regelmäßig unterschätzt worden. Allerdings handele es sich nicht nur um Probleme von und mit Einwanderern. Wulff ist das erster deutsches Staatsoberhaupt, das vor dem türkischen Parlament gesprochen hat.
-EU-Kommission verzichtet auf Verfahren gegen Frankreich:

Die EU-Kommission hat mitgeteilt, dass sie das geplante Verfahren gegen Frankreich wegen der gegen europäisches Recht verletzenden Abschiebung von tausenden Roma, zunächst nicht weiterverfolgen will. Das teilte EU-Justizkommissarin Viviane Reding am heutigen Dienstag im Anschluss an die Kommissionssitzung in Straßburg mit. Reding sagte weiterhin, Frankreich habe „positiv, konstruktiv und fristgerecht“ auf die Forderung der Kommission reagiert, die Verfahrensrechte aus der EU-Freizügigkeitsrichtlinie schnell in französisches Recht zu übertragen. Die französischen Behörden hatten der Kommission am vergangenen Freitag ausführliche Unterlagen übermittelt, darunter Gesetzesentwürfe und einen „glaubhaften Zeitplan „zur Übertragung der Verfahrensrechte in französische Gesetzgebung. Reding schloss daraus, diese Reaktion zeige, „dass die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft gut funktioniert“. Die Europäische Kommission werde aber genau darüber wachen, dass die Zusagen, die wir von Frankreich erhalten haben, vollständig eingehalten werden. Mit Bezug auf die Situation der Roma in EU-Mitgliedsstaaten sagte Reding, man müsse „dem Problem auf den Grund gehen und stärkere nationale Bemühungen einfordern, wenn es um den Zugang zu Unterkunft, Bildung, Gesundheit und zum Arbeitsmarkt geht, sowie um die Beseitigung der Armut“. Die Erarbeitung einer EU-weiten Roma-Strategie solle zeigen, „dass der Einsatz für Europas größte Minderheit keine Eintagsfliege bleibt“.



-Deutschland und Frankreich beschließen höhere Strafen für Defizitsünder

Bei einem Treffen in Deauville gaben Merkel und Sarkozy bekannt, dass sie bis 2013 eine Änderung der europäischen Verträge planen, um dadurch den Stabilitätspakt zu reformieren. Der gemeinsame Vorschlag sieht eine schärfere Ahndung von exzessiver Defizitpolitik in der Eurozone und eine Automatisierung von Sanktionen vor. Die Entscheidungsgewalt solle jedoch beim Europäischen Rat verbleiben, der über die Eröffnung eines Defizitverfahrens zu befinden haben soll. Die Vorschläge sollen von den Staats- und Regierungschefs der EU kommende Woche in Brüssel beschlossen werden.
Ebenfalls in Deauville anwesend ist der russische Präsident Medwedjew. Er gab bekannt, dass er eine Teilnahme am Lissabonner NATO-Gipfel im November plane. Damit weitet Russland seine Strategie der verstärkten Kooperation von den USA auch auf EU und NATO aus.


-Schärferes Vorgehen gegen Hedgefonds

Die Finanzminister der Staaten der Europäischen Union haben sich am heutigen Dienstag erstmals auf Vorschriften für die Manager sogenannter Hedgefonds geeinigt. Die hochspekulativen Fonds unterliegen von nun an einer Meldepflicht und der Kontrolle durch Aufsichtsbehörden. Das Marktvolumen der Hedgefonds wird zwischen 1200 und 1300 Milliarden Euro geschätzt.
Ziel der EU war es die Regelungen vor dem bevorstehenden G20 Gipfel im November in Südkorea zu verabschieden. Bis zu diesem Zeitpunkt soll es möglich sein alle Aktiengesellschaften, Ratingagenturen, Fonds und sonstige Teilnehmer des weltweiten Marktes zu regulieren.
Die französischen Delegierten hatten sich zunächst gegen den ursprünglichen Vorschlag der Präsidentschaft gewehrt. Dieser sah vor außereuropäischen Hedgefondsmanagern einen Europafondspass auszustellen. Die Abgeordneten aus Frankreich kritisierten an diesem Vorschlag, dass die Fonds der außereuropäischen Staaten nicht denselben regulatorischen Ansprüchen unterliegen würden, wie die europäischen selbst.
In der jetzigen Entscheidung spielt die Europäische Wertpapieraufsicht kurz ESMA eine größere Rolle. Sie soll das Vorgehen der Hedgefonds genauer überwachen.