Gipfelproteste, Militanz und Repression - Von Seattle nach Göteborg, Genua, Evian

ID 3901
 
Seattle, Prag, Göteborg, Genua... Europäische Union, G8, WTO, IWF, Weltbank... Global Action Day, Rote Zone, weisse Overalls, Black Bloc...

Symbole für eine Bewegung, die sich immer militanter ausdrückt und immerhin schon zur Absage oder Verlegung der Austragungsorte dieser repräsentativen Großereignisse geführt hat.

Beitrag mit Musik und O-Tönen aus der Razzia in der Diaz Schule in Genua.
Audio
11:51 min, 8331 kB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 08.05.2003 / 00:00

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Entstehung

AutorInnen: moussaka
Radio: FRBB, Berlin und Brandenburg im www
Produktionsdatum: 08.05.2003
keine Linzenz
Skript
Als sich Ende 1999 die dritte Ministerkonferenz der World Trade Organisation WTO in Seattle zusammenfand, kam es erstmals zu medial weltweit beachteten Massenprotesten gegen die ökonomische Globalisierung. Indigene Gruppen aus aller Welt nahmen hier ebenso teil wie Gewerkschaften, sozialistische und anarchistische Gruppen oder Umweltschutzorganisationen. Gerade die Teilnahme sozialer Bewegungen aus dem sog. "Trikont" war etwas Neues.

Neben dem medial erfolgreichen Protest stand damals das politische Scheitern der Konferenz. Aufgrund der Konflikte zwischen der EU und den USA, und nicht zuletzt aufgrund des Widerstandes vieler Entwicklungsländer, konnten in vielen Punkten keine Abkommen erzielt werden.

Seattle war nicht der erste Protest dieser Art. Bereits 1994, zum 50jährigen Geburtstag von IWF und Weltbank, gab es eine internationale Mobilisierung nach Madrid um die Feiern zu stören und in einem Kongreß eigene Perspektiven zu diskutieren.

Die Euromärsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse und Ausgrenzung etwa fanden auch zuvor schon als Großdemonstrationen statt, hatten jedoch nie die genannte mediale Wirkung.

Auch die Mobilisierungen zu EU-Gipfeln wie in Essen 1996 oder die EU- und G8-Gipfel in Köln 1999 oder 2000 in Nizza brachten nicht mehr als 40.000 Menschen auf die Straße. Die Proteste blieben weitestgehend friedlich, die Institutionen gaben sich offen und versuchten, die NGOs zu integrieren.

Mit dieser "Offensive des Lächelns", einer Strategie der Kooptation und Einbindung, hatten die staatlichen Akteure großen Erfolg. Viele Lobby- und NGO-VertreterInnen sahen in diesen Dialogangeboten auch einen Beweis ihrer Stärke. Sie produzierten Expertisen, bewegten sich professionell auf dem diplomatischen Parkett und vertrauten auf die Macht des besseren Arguments.

Mit Seattle änderte sich die Situation. Die massiven Proteste auf der Straße unterstrichen, dass es mit der "Offensive des Lächelns" allein nicht mehr getan ist. Der Battle of Seattle" sollte zum Symbol werden. Mit ihrer Mischung aus Massenmobilisierung, Entschiedenheit und Militanz hat die internationale Protestbewegung es geschafft, den Schwerpunkt der Aktivitäten in Seattle zum ersten Mal seit langer Zeit vom Konferenzsaal auf die Straße zu verlagern.

Anschließende Proteste in Davos bei der jährlichen WEF-Tagung, in Prag oder in Göteborg hatten den Erfolg von Seattle, wo die Militanz eine große Rolle gespielt hat, als Vorbild vor Augen . Neun Monate nach den heftigen Demonstrationen und Aktionen gegen die Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Prag feierten Tausende im Juni 2001 in Barcelona, weil deren ursprünglich dort geplante Tagung aus Angst vor Protesten abgesagt worden war. Ein Jahr später wurde der G8-Gipfel in die abgelegenen kanadischen Rocky Mountains verlegt.

Regierungen, Polizei und Justiz quittierten die Militanz mit massiver Repression. In Göteborg fielen die ersten Schüsse von Seiten der Polizei, die den EU-Gipfel schützen sollte: Fünf Personen wurden verletzt, eine von ihnen lebensgefährlich. Was in Göteborg als Eskalation, sollte sich in Genua noch extremer fortsetzen. Die Konsequenz, die die Polizei beim Gipfel der acht mächtigsten Staaten in Genua aus den Ereignissen in Göteborg gezogen hat, lautet: Auf die "Chaoten" darf geschossen werden. Ein 20jähriger Carabinieri tötete am 21. Juli in Genua den 23jährigen Carlo Giuliani durch zwei gezielte Schüsse in Kopf und Brust. Auch die Räumung der Schule Diaz ging mit äußerster Brutalität von sich. Wie auch schon zuvor in Prag und Göteborg wurde das Unabhängige Medienzentrum gestürmt. 600 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, hunderte willkürlich verhaftet. GegnerInnen des globalisierten Kapitalismus wurden von Polizisten und paramilitärischen Carabinieri misshandelt, gefoltert und gedemütigt. In Göteborg sind bereits 41 Menschen zu Haftstrafen von im Durchschnitt einem Jahr verurteilt worden, weitere Verurteilungen in den Herkunftsländern folgen. Ein Berliner wurde im April wegen eines Steinwurfs in Göteborg zu 2 Jahren auf Bewährung verurteilt. Auch in Genua werden die Ermittlungen bald beendet und gegen Hunderte AktivistInnen Anklage erhoben. Strafen von 8 bis 15 Jahren Gefängnis stehen im Raum.

Wie auch immer man der Militanz gegenüberstehen mag, festzuhalten bleibt: Sie war seit der 68er Bewegung fester Bestandteil sozialer Bewegungen. Sie hat des Öfteren auch dazu beigetragen, Themen in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu bringen und somit Räume für politische Auseinandersetzungen zu öffnen. Zu nennen wären für die BRD etwa die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung und die Bewegung gegen die Startbahn West zu ihren Hochzeiten. Und in den 90er Jahren waren es vor allem Militante, die sich den neonazistischen Aufmärschen entgegen gestellt und Flüchtlingsheime vor dem rassistischen Mob geschützt haben. Die Militanz der Zapatisten, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hatte eine Fülle positiver Auswirkungen. Ihre Aktionen waren stets begründet und vermittelbar.

Im Juni findet der nächste G8-Gipfel in Evian am Genfer See statt. Die französische Regierung hat die Schweiz um die Hilfe bei der Ausrichtung gebeten; ein Angebot das die Schweiz gern annahm.
In den Camps in Genf, Annemasse und Lausanne werden mehrere Zehntausend Menschen erwartet. Europäische Gruppen von ATTAC werden dort ebenfalls sehr präsent sein. Gerade ATTAC hat sich immer wieder von Militanten distanziert. Zuletzt erklärte die Regionalgruppe in Straßburg nach dem NoBorder-Camp, dass sie Militanz als Mittel zur Durchsetzung von Politik ablehnt. Auch etablierte NGOs entsolidarisieren sich. Im Vorfeld von Genua erklärte Peter Wahl von der NGO WEED, die Militanten würden die Proteste instrumentalisieren und den Zielen der DemonstrantInnen schaden.

Es kommt darauf an, einer Spaltung der globalisierungskritischen Bewegung zu verhindern. Jede Protestform hat ihre Berechtigung. Und alle Teile dieser Bewegung, die zu Protesten aufrufen, müssen sich den Konsequenzen für die AktivistInnen stellen. Die Militanz der Proteste hat es geschafft, die Kritik und Ablehnung von Europäischer Union, G8, WTO, IWF, und Weltbank sichtbar zu machen.
Sorgen wir dafür, dass die AktivistInnen, die deswegen zu hohen Strafen verurteilt werden, nicht vergessen werden!