Stimme - Reflektionen und Resonanzen

ID 41996
 
Sing along with Derrida: Die Stimme ist das Bewusstsein

„Rede, damit ich dich sehe“, Sokrates, Über Physiognomik

"Die Ohren sind auf dem Feld des Unbewussten die einzige Öffnung, die sich nicht schließen kann.“
Jaques Lacan

"Ein Mann rupft eine Nachtigall und sprach, da er nur wenig zu essen fand: 'Du bist nur eine Stimme und sonst nichts.'" Plutarch

Was hat es mit der Macht dieses Nichts der Stimme auf sich?
Audio
59:03 min, 54 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.07.2011 / 22:41

Dateizugriffe: 6

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Wirtschaft/Soziales, Arbeitswelt, Kultur
Serie: Stimme - Reflektionen und Resonanzen
Entstehung

AutorInnen: Jorinde Reznikoff
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 08.07.2011
CC BY-ND-NC
Creative Commons BY-ND-NC
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
„Der Ton macht die Musik“ in der Kommunikation. Der Klang der Stimme,
dieses primäre Ausdrucksmedium des Menschen, gibt vor allen bewusst
eingesetzten rhetorischen und argumentativen Strukturelementen den prägenden Grundton an. Durch die Rollen-Maske der Per-sona gleichsam hindurch-tönend, erreicht der Stimmklang das Gemüt vor dem Bewusstsein und hinterlässt bereits in den ersten 30 Sekunden des Hörbarwerdens einen nachhaltig aufrichtigen, zuweilen demaskierenden Eindruck davon, wer wir sind, wer wir sein wollen und wofür wir stehen.

Albert Mehrabian stellte in einer Studie "Inference of Attitude from Nonverbal Communication in Two Channels" (The Journal of Counselling Psychology 31, S. 248-252, 1967) fest, dass bei einer Präsentation vor Gruppen 55 Prozent der Wirkung durch nonverbale Kommunikation (Körperhaltung, Gestik und Augenkontakt) bestimmt wird, 38 Prozent des Effekts durch den Stimmklang und nur 7 Prozent durch den Inhalt des Vortrags.

Ob es einem passt oder nicht: die Stimme des/r Sich-Ausdrückenden erklingt/tönt in jedem Fall – wie, das ist die andere entscheidende Frage.

„Wenn man [in einer politisch ausgerichteten Talkshow] unvorteilhaft posiert oder eine unangenehme Stimme hat, dann hat man in diesem Format ein Problem. Ganz unabhängig von der Sache oder der Argumentation, der man sich bedient. Man ist Teil eines medialen Spiels, eines bestimmten Formats. Und hier stellt sich die Frage: Wie weit geht diese Anpassung? Man ist schnell Teil von etwas, das man eigentlich nicht will…“
Viel Lärm um nichts. Die Talkshow als Moment von Antiaufklärung, Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Dietrich Leder, ak 18.06.2010

Diese subtile, unbewusst agierende „Macht“ der Stimme haben sich professionelle Kommunikationsstrategen, die im Auftrag von Führungs- und Unternehmensstrukturen agieren, schon längst intensiv zu Nutze gemacht. Führungskräfte aus Wirtschaft, Politik und Kultur lassen Stimme und Styling coachen, was bei Auseinandersetzungen mit Protestbewegungen allzu oft unüberhör- und -sehbar im wortwörtlichen Sinn ist. Systemkritische Wortergreifer, denen ihre eigene Stimme fatalen Widerstand leistet, erweisen sich gewieft-durchtrainierten Sprachmanipulatoren gegenüber als durchaus ir-resistent.

Die Ohren „sind auf dem Feld des Unbewussten die einzige Öffnung, die sich nicht schließen kann.“
Jaques Lacan, zit. n. Manfred Pabst, Bild, Sprache, Subjekt:
Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, 2004, S.32

Nun bestünde ein naheliegender Ausweg aus diesem Dilemma ungleicher Stimmwappnung darin, die kommunikativ überlegenen Redner mit ihren eigenen Instrumentarien zu „schlagen“, sich mithin deren etabliert-bewährte Herrschaftsstrukturen stimmlichen und darüber hinaus allgemein ästhetischen Ausdrucks anzueignen. (Das Styling-Potential, der visuelle Gegenpart, wäre hier eine signifikante Ergänzung.)
Das würde bedeuten, schon einmal zu lernen, dass es eben nicht darum geht, Parolen noch lauter schreien zu lernen, ohne heiser zu werden, sondern im Gegenteil darum, subtiler und raffinierter sprechen zu lernen, also die neuesten Erkenntnisse moderner Kommunikationstechniken zu integrieren, um den „Gegner“ sprachlos zu machen.
Doch wäre solches Procedere nicht mehr als Fortsetzung des ewig Gleichen unter besten Falls umgekehrten Vorzeichen. Haarscharf vorbei an der Chance zu der tiefstgründigen strukturellen Veränderung, welche im Potential der stimmklanglichen Konstituierung von Kommunikation der subversiven Entdeckung harrt. Bedauerlich rasant vorbei an dem emanzipatorischen Sprengstoff, den die Körperlichkeit der menschlichen Stimme in jedem laut werdenden Wort in sich birgt.

Die Antike von Pythagoras bis zu Hildegard von Bingen und die noch nicht vermarkteten außereuropäischen Kulturen lebten aus dem Bewusstsein heraus, dass der Mensch erst als musikalisches Wesen, als Klangwesen, ganz Mensch ist. Vielleicht vermag ihre transhistorische, weil klanganthropologische Aktualität uns technozeitigen Kopffüßlern, die alles hoffnungs- wie ausnahmslos und vor allem klangbeliebig-monoton instrumentalisieren, Beistand bei der Rettung aus der Havarie der Emanzipation zu leisten.

"No, I ain´t got my childhood/ Or friends I once know/ But I still got my voice left/ I can take it anywhere I go." (Bob Dylan)

Wie wäre es, wenn die Stimme als universales integer-integrales Ausdrucksmedium individuelle Authentizität und durch die Authentifizierung des individuellen Stimme-Seins ein kollektives Ausdrucksreservoir schöpfen könnte?