"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Patentschwemme -

ID 42571
 
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[32. Kalenderwoche]
Es gibt jetzt eine Spezialuhr, welche nicht die Zeit abhakt, sondern meldet, wann man wieder etwas trinken sollte, dann macht auf dieser Uhr ein Lachgesicht, ein so genannter Smiley, eine bedenk¬liche Miene, und in immer höherer Frequenz pulst eine Werbung für Vittel oder Evian oder Perrier auf: Trink, Menschlein, trink!
Audio
11:17 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 16.08.2011 / 13:53

Dateizugriffe: 406

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 16.08.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das ist mir wieder mal einer jener Fortschritte, die sich insgesamt nicht vermeiden lassen. Irgendwo habe ich gelesen, ich fürchte, in jenem Schriftsetzer-Magazin mit dem Namen Viertelgeviert oder Ligatur oder Cicero, dass die 11 Millionen Griechen im Jahr 2010 insgesamt 827 Patente angemeldet hätten, während es die braven siebeneinhalb Millionen Schweizerinnen auf 11'000 Patente gebracht hätten. Ich bin sicher, diese Spezialuhr wurde in der Schweiz ersonnen. Sie bringt die definitive Lösung für eines der großen, vielleicht aber auch nur klein-aber-oho-en, möglicherweise bringt sie aber vor allem die Lösung für ein Problem, das gar nicht existiert. Wie viele Menschen sind in den letzten fuffzich Jahren zum Beispiel in Erfurt verdurstet? Die Zahl dürfte deutlich unter 12, 10 und 5 liegen. Dabei ist die Information durchaus nicht an mir vorüber gegangen, dass insonderheit ältere Menschen manchmal vergessen, genügend Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Wenn aber dieser ältere Teil der Bevölkerung soweit ist, dass er sich nicht mal mehr an das Trinken erinnert, dann hat er in der Regel noch ganz andere Probleme, und ein Wasserzähler am Unterarm dürfte weder die Flüssigkeits- noch eine der multiplen anderen Fragen zu beantworten helfen. Ich selber habe bei solchen Kunstprodukten immer einen Rückfall in niedrigere Zivilisationsstufen und sage dann: Früher hat man einfach getrunken, wenn man Durst hatte oder wenn man beim Essen saß. Heute aber braucht es 7,5 Millionen Schweizerinnen, welche die Menschheit mit 11'000 Erfindungen im Jahr darüber belehren, welche Körperfunktionen wie zu betätigen sind. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass uns demnächst Sauerstoffmessgeräte umgehängt werden, welche uns daran erinnern, auch ja mindestens 10 Mal pro Minute einzuatmen. In der Tat, es ist nämlich wissenschaftlich erwiesen, dass bei mangelnder Atmung die Versorgung mit Sauerstoff in Gefahr gerät, wodurch ein Leben in ziemlicher Anaerobie droht, also leuchtet die Notwendigkeit eines solchen Warn- und Blinkgerätes unmittelbar ein, und wer hats erfunden? – Na, die Griechinnen wohl nicht, und dafür bleiben wir ihnen verbunden; endlich ein Grund, diesem Land doch unter die Arme zu greifen.

Unterdessen scheint allerdings der gesamte Gesellschaftskörper einige Organe erfunden zu haben, für welche noch nicht sämtliche Apparaturen bereit stehen, jedenfalls musste ich in den letzten Wochen verschiedene Mitglieder meines Bekanntenkreises trösten und sedieren, welche eine undeutliche Angst vor dem Kollaps vor allem der Finanzfunktionen des modernen Menschheits¬organismus entwickelt haben. Wenn die Finanzmärkte vergessen zu trinken und zu atmen, dann bleibt zum Beispiel den Rentenversicherungen die Spucke weg. Das hatte ich ja bereits vor einem Jahr mitgekriegt, als sich herausstellte, dass alle Pensionskassen in Großbritannien die Hälfte ihres Anlagevermögens in BP-Aktien gesteckt hatten. Als die BP-Aktienkurse implodierten wegen der Explosion auf Deepwater Horizon, drohte plötzlich die gesamte Altersvorsorge der britischen Be¬völ¬kerung zusammen zu brechen. Der Konflikt präsentierte sich in einer unerreichten Schönheit: Wenn man die Umwelt nicht zugrunde richtet, verarmen uns die britischen Pensionäre. Das ist perfekt – für Misanthropen, nämlich; für alle anderen ist es eher unangenehm, und ich und meines¬gleichen hoffen, dass sich die britischen Pensionskassen langsam von Erdöl- und Automobil-Aktien absetzen und auch nicht zu Fischerei-Unternehmen oder zu Atomstrom-Konzernen wech¬seln, son¬dern eher auf sichere und umweltschonende Werte setzen wie z.B. Fußballvereine. Oder Getränke¬hersteller, das ist noch besser. Cadbury Bitter Lemon, Gin und Guiness Stout. – Jedenfalls hängen Rentensysteme, welche auf der Bildung von Kapital beruhen, sehr direkt von den Finanz¬märkten ab, und dementsprechend ist die verwirrte Panik sehr begreiflich, die sich beim anhaltenden Tohu¬wa¬bohu zwischen Standard und Poor's breit macht; und abgesehen von allem anderen sind ja auch Milliarden von kleinen Anlagevermögen kleiner privater Spar-Aktivistinnen unterdessen in die globalen Finanzmärkte geflossen, sodass auch hier bald der alte Heuler angestimmt werden kann: Die Armen werden immer ärmer.

Was solls. Die Verwirrung geht natürlich über die direkten Verlustängste hinaus und betrifft in erster Linie ein Finanzsystem, über welches niemand mehr den Überblick hat, weder die Spekulanten selber, welche die Sache vor fünf Jahren und beflügelt vom Dorftrottel Wilhelm Busch eindeutig zu weit getrieben haben, so weit, dass das Ding tatsächlich gekippt ist, aber auch nicht die Zentral- und Notenbanker, die Regierungen nicht und eben überhaupt niemand. Die Unsicherheit ist nicht nur greifbar, sondern auch verständlich. Und so gehe ich unter meinen Bekannten herum, welche im übertragenen Sinne wie Kriegsversehrte am Wegrand liegen, und spende ihnen Trost und streiche Balsam auf ihre Wunden, zwar nicht, indem ich ihre Börsenverluste beziehungsweise die Einbußen ihrer Pensionskassen-Guthaben wieder korrigiere, aber indem ich doch darauf hinweise, dass auch dieses spät- oder postkapitalistische System nach wie vor ein Menschensystem ist. Konkret heißt dies nämlich, dass die Nationalstaaten im Fall eines definitiven Kollapses auf den Finanzmärkten nichts anderes tun werden, als den gesamten Geldverkehr mit einem Notsystem zu stabilisieren, selbstverständlich in gegenseitiger Absprache; so, wie in Kriegs- oder anderen Notzeiten die lebens¬wichtigen Güter rationiert werden, so werden die Nationalstaaten das Geld rationieren und für eine Übergangszeit von einem bis drei, maximal sechs Monaten ein Kunst-Geld ausgeben, das sich selbstverständlich auf die bestehenden Währungen bezieht, aber für die Dauer der Notma߬nahme nicht konvertibel ist und keinerlei Spekulationen erlaubt; anderseits bleibt so der Warenfluss und damit die Versorgung der Gesellschaft mit den üblichen Gütern völlig problemlos gesichert, zu aktuellen Preisen, die Löhne werden weiter bezahlt, bloß die Spekulation wird für die Dauer der Notstandsmaßnahmen ausgesetzt.

Das ist simpel, oder? – Und wenn ich das jeweils sage, dann stehen die Niedergeschlagenen mehr oder weniger schnell wieder auf und gehen ihrem normalen Leben nach, nicht mit großer Begeisterung, aber immerhin, denn genau so würde es kommen, wenn es so weit kommen würde.

Danach sieht es allerdings nicht aus – wir sind schon wieder nicht untergegangen. Die Finanz¬märkte müssen zwar nach wie vor noch jene Luft ablassen, die unter Hansjockel Wilhelm Busch hinein gepresst wurden, aber wenn dann mal endlich der Tiefpunkt erreicht ist, wird dieser auch zum Wendepunkt, und die Blasebälge können wieder in Betrieb genommen werden. Ich bin nicht in der Lage vorherzusagen, wann dies der Fall sein wird, aber mit einer echten, ausgereiften und breit abgestützten Börsenkonjunktur rechne ich durchaus, und zwar erscheint mir dies durchaus möglich noch vor den Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten im nächsten Jahr. Im Prinzip lieben nämlich die Finanzmärkte Optimisten wie den Obama, und es ist nicht einzusehen, weshalb die depressive Verwirrung nicht von einer mindestens zeitweiligen Euphorie durchbrochen werden sollte; die Ingredienzien liegen nach meinen Beobachtungen alle bereit, aber es fragt sich natürlich immer noch, was der automatische Koch damit anstellen wird.

Daneben staune ich immer wieder darüber, welch mächtige Grundbewegungen unserer Zeit einerseits gleichzeitig stattfinden und sich anderseits durchaus ausschließen. In den entwickelten Ländern wären wir so weit, dass wir endlich vom Produktivitätsdogma abkommen, und zwar in all seinen Facetten, also bis hin zur unfreundlichen Moral, welche uns sämtliche menschlichen Aktivitäten ausschließlich unter dem Aspekt der Rentabilität betrachten lässt. Gleichzeitig befinden sich zahllose Gesellschaften auf dem Globus auf einer Zeitreise, welche scheinbar ohne den Umweg über die Arbeitsmoral nicht zu bewerkstelligen ist. Einem naiven Verständnis von Freizeit und Faulheit zum Beispiel geht jegliches Wissen über notwendige gesellschaftliche Grundlagen ab, zum Beispiel über Energieversorgung, effiziente Verwaltung, kollektives Unter-, Neben- und Überbewusstsein. Solche Diskrepanzen müssen zuerst überwunden werden, und hierfür spielt unglücklicherweise das internationale Finanzsystem die alles entscheidende Rolle, indem nur Geld und Kapital das nicht Vergleichbare mindestens in der Geldform vergleichbar macht. Es ist eben nicht das ewig Weibliche, sondern ganz simpel die Knete, welche uns allesamt hinan zieht. Hinter dem Geld befindet sich allerdings oft weiter nichts, aber das ist wieder ein anderes Kapitel. Jedenfalls handelt es sich um eine nicht zufällig turbulente Inszenierung; die Konflikte werden um so notwendiger, je näher sich die unterschiedlichen Regionen rücken. Sie nehmen alle nur denkbaren Formen an, zum Beispiel jene des Religionskonfliktes, namentlich zwischen Islam und Christenheit; in der Sache unterscheiden sich die beiden Doktrinen kaum, aber in der Praxis der jeweiligen Weltgegenden schon. In diesen Auseinandersetzungen zeigen sich die entwickelten Länder gegenwärtig von ihrer schlechtesten Seite, nämlich der phantasielosen. Was nützen zum Beispiel den Schweizerinnen und Schweizern 11'000 Patente, wenn sie gleichzeitig politischen Bewegungen hinterher laufen, welche ihr Brot aus lauterem Fremdenhass und ebenso reiner Dummheit backen? Und das gilt nicht für die Schweiz allein, wie man weiß. Rund ums Mittelmeer krachen die Diktaturen zusammen, und zwar nicht als Folge einer islamistischen Unterwanderung, sondern weil die Bevölkerung ganz offensichtlich Staats- und Wirtschaftsformen nach europäischem Muster wollen. Und was tun die Europäerinnen? Statt mit Entwicklungsplänen reagieren sie mit Grenzkontrollen. Sie sehen ganz offensichtlich nicht die riesigen Chancen, die sich in Nordafrika eröffnen täten, wenn man sie bloß nutzen wollte. Man braucht dabei den Nordafrikanerinnen nicht einmal zum Vornherein exakt den gleichen Lebensstandard anzubieten wie in Europa; bloß eine Arbeitsteilung, bei der sie auch etwas abbekommen vom Kuchen und welche ihnen ihrerseits Chancen eröffnet, ihre Kreativität und ihren Schaffensdrang unter Beweis zu stellen. Es gibt dafür unzählige Möglichkeiten, von der Stromerzeugung über gewisse Bereiche der industriellen Produktion, medizinische Angebote vor allem bei der Rehabilitation und Tourismus bis zum Handwerk oder was Herz und Hand und Kopf sonst noch so begehren – Nordafrika ist heute mit Sicherheit ein viel einfacherer Kooperationspartner als beispielsweise Russland, wo nach 10 Jahren an Putin-Stabilisierung jetzt die Zeit reif wäre für die Errichtung eines Rechtsstaates im modernen Sinne, und dafür gibt es unglücklicherweise gegenwärtig überhaupt keine Hinweise. Nordafrika befindet sich dagegen gegenwärtig in einer «weichen» Phase der Staatsbildung, in welcher keine klar strukturierten Interessenskonstellationen einen bestimmten und vor allem möglichst schwachen und schlechten Verwaltungstypus durchsetzen wollen. Hier eine Art von Hilfestellung zu leisten, wäre eine Selbstverständlichkeit für eine gebildete und aufgeklärte Gesellschaft. Stattdessen wälzen sich große Teile Europas im krudesten Nationalismus. Das ist doch zum Davonlaufen, eigentlich.