"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ach Charlotte Roche -

ID 42680
 
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[34. Kalenderwoche]
Wer war, verfickt nochmals, Michel Houellebecq? – Ich musste lange studieren, bis ich mich mit mir selber auf eine Übersetzung von «Who the fuck» einigen konnte, auf Deutsch wirkt die Sexualprosa auch nach Jahren der Öffentlichkeitseinführung aufgesetzt; «Fick deine Mutter» passt eher in den Kindergarten als ins Vokabular noch des obszönsten Poeten.
Audio
10:50 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 23.08.2011 / 15:12

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.08.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und trotzdem wurde der verfickte Houellebecq auch im deutschen Sprachraum rezipiert, und geradezu sämtliche Dämme sind jetzt gebrochen im Zusammenhang mit der verfickten Charlotte Roche und ihrem neuen Diktionär der sauberen Begriffe für unsaubere Tätigkeiten; als Krone zitiere ich den Artikel im «Stern» vom 18. August, während das Haupt, auf welchem diese Krone sitzt, meiner Ansicht nach von den emanzipierten Kolumnistinnen gebildet wird, welche sich unterdessen weit über die aufgeklärten Frauenzeitungen wie Brigitte oder Cosmopolitan verbreitet haben und überall, wo Zeitgeist nicht nur ein Wort im Lexikon, sondern erwünschte Praxis ist, ihren recherchefreien Saft auspressen zu Themen, wie sie eben in den Blickwinkel einer autonomen Frau zwischen 35 und 45 Jahren grad eintreten. Charlotte Roche eignet sich für diese durchaus nicht scheue Frauen-Gattung offenbar ausgezeichnet, solange man die Diskussion darüber, ob es sich nun um Literatur handle oder um Pornografie, noch einigermaßen offen halten kann, während doch schon längstens feststeht, dass es sich wie beim Houellebecq um einen primitiven, aber umso reineren Appell an die Marktmechanismen des Büchermarktes handelt. So wäre unsereins recht zufrieden, wenn mal die säuische Literatur um ihrer selbst willen rezipiert würde, aber die Erfüllung solcher Wünsche bleibt einem versagt, weil der so genannte Skandal, der im Übrigen längstens keiner mehr ist, sondern eben nur noch nackerte Marketingstrategie, in keiner Art und Weise auf einer richtig tollen schweinischen Leistung beruht, ganz im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, dass heutzutage gerade wegen der Skandalisierung und der Verkaufsmechanismen keine Sau mehr in der Lage ist, ein ordentliches Stück Pornografie zu Papier zu bringen. Schade drum! – Die Sphäre des Verbotenen, der Anspielungen, der Sublimation mit all dem Zubehör wie Verklemmungen sonder Zahl, all das wird mit dem kalkulierten Gesudel komplett entstellt. Es ist sehr lebens-unfreundlich, was da an unsere niedrigen Triebe rühren soll, und dabei sind doch gerade unsere niedrigsten Triebe grundsätzlich die höchsten, die vitalsten und oft auch die freudigsten – sonst hätte die Institution der Ehe wohl nicht die Jahrtausende überdauert.

Ach je, so hatte ich mir die sexuelle Befreiung eigentlich nicht vorgestellt, nämlich den Ersatz einer lebensfeindlichen Moral durch eine zwanghafte Libertinage. Es ist alles gemusst, nichts gedurft, und dies erinnert mich an den anderen alten Heuler von Kurt Tucholsky, wonach Satire alles dürfe; auch dies trifft heute nur noch beschränkt zu, auch Satire muss heutzutage öfters, als dass sie dürfte, und Ihr erlaubt mir jetzt sicher, dass ich dies einfach so unspezifisch stehen lasse, weil ich nämlich sonst nicht den Bogen schlagen könnte zurück nicht zur Frage des Geschlechts, sondern der Geschlechter. Die zeitgenössische Satire ist über weite Strecken anti-heterosexuell, wie man zum Beispiel dem absoluten Frauen-Defizit auf der Redaktion meines Referenzblattes «Titanic» entnehmen kann; und als Zeichen nehmet dieses, dass nämlich die praktisch einzige Frau an Bord dieses Magazins, welche in den letzten zweihundert Jahren eine eigenständige Präsenz eingenommen hatte und mit «Frau Rettich, die Czerni und ich» ein Buch veröffentlicht hat, welches sogar verfilmt wurde, Simone Borowiak, sich vor zwei oder drei Jahren als Simon geoutet hat, das heißt als Mann, und zwar ohne Geschlechtsumwandlung, und wer die Struktur der Titanic-Satire halbwegs beziehungsweise halbwegs analytisch betrachtet hat, der hat es ohnehin gewusst: Solche Frauen können nur Männer sein. – Mich ärgert das, und zwar aus dem Grund, weil ich finde, dass Witz und Gelächter eben doch auch heterosexuell geartet sein können; Witz und Gelächter können ebenso gut homosexuell sein, aber wenn sie in der Grundstruktur verkorkst homosexuell sind, dann sind sie eben das, was das gemeine Berliner Schulkind «schwul» nennt, und ich entschuldige mich in aller Form bei der Schwulenbewegung bzw. beim politischen Arm davon, denn diese ist das größte Opfer solcher Verklemmungen.

Ich nehme an, dass so was nicht von ungefähr kommt, sondern seinen Ursprung im viel gerühmten schwarzen Humor der Engländer hat. Die großen Vorbilder im britischen Fernsehen, von Marty Feldmann über die Monty Pythons bis zu einigen heutigen Serien, besetzen konsequent auch Frauenrollen immer mit Männern. Das wiederum geht zurück auf das antike griechische Theater, also nicht auf das Schuldentheater. Nichtsdestotrotz ist es mir schleierhaft, weshalb diese Sorte von Tradition auf Teufel komm raus aufrecht erhalten werden soll, und zwar erst noch im Satirefach, welches doch ein erhöhtes Bewusstsein auch seiner selber haben müsste, mindestens soweit die Satire ihrerseits in einer Tradition steht, nämlich jener der neuen Frankfurter Schule. Mir ist das jedenfalls zu hoch, um nicht zu sagen zu schwul, insonderheit jene auch nicht mehr ganz neue britische Sitcom, die ihr ganzes Humorkapital schlägt aus dem Umstand, dass Männer sich die Lippen schminken, Rouge auflegen und einen Rock tragen zum einen, zum anderen bzw. vor allem aus einem jüngeren blonden Dickwanst, der die Tunte gibt in einem Kaff in Süd-, Nord-, West- oder Ostengland – ist das nun wirklich jahrelang lustig? Muss ich mir darüber tagein, tagaus die Schenkel wund klopfen?

Ich weise an dieser Stelle darauf hin oder erinnere daran, dass es im allerkatholischsten Freistaat Bayern, den der Freistaat Thüringen durchaus nicht als Referenz zu brauchen braucht, auch in der Kabarettszene einige ausgewachsene Frauenspersonen gibt, welche den Vergleich mit der Männerschar durchaus nicht zu scheuen brauchen, zum Beispiel die dralle Luise Kinseher, aber auch die Sexgöttin Lissy Aumeier, ganz zu schweigen von Sissy Perlinger, die schon eher ins Akrobatikfach neigt, oder aber Martina Schwarzmann, bei welcher man ebenfalls eine Tradition herbeizitieren kann, nämlich die bekannten Couplets, z.B. von Karl Valentin, aber auch von Fredl Fesl. Frau und Witz, das geht also durchaus, oder anders gesagt: Es gibt auch einen heterosexuellen Humor, und vielleicht ist es kein Zufall, dass dieser grad im allerkatholischsten Freistaat Bayern die schönsten Frauenblüte treibt.

Was wollte ich eigentlich sagen? – Nix, wie üblich, außer dass mich, im Falle sowohl von Charlotte Roche als auch von Michel Houellebecq und allen, die auf jeden Fall noch kommen werden, dieses erfreute Reiben an einem selbst deklarierten Skandal nicht aufgeilt, sondern abturnt, und wer sich im Ernst mit solchen Sachen befasst, wie ich hier gerade, der sollte eigentlich ein 6-monatiges Publikationsverbot erhalten. Aber so funktioniert diese Welt ja nicht. «Ungeschminkt wie ihre Wahrheiten», steht als Zwischentitel im «Stern» neben einer Fotografie von Frau Roche – ich glaube, ich muss meinen Herzschrittmacher zur Reparatur bringen. Von Wahrheit oder von Wahrheiten kann bei solchen PR-Kampagnen strukturell nicht die Rede sein.

Die gleiche «Stern»-Ausgabe greift das Hunger-Problem am Horn von Afrika auf, was nichts als die verdammte Pflicht und Schuldigkeit eines solchen Organs ist und weshalb man es auch nicht zu schelten braucht, allerdings dann doch eher dafür, dass der Reporter zunächst mal die Gelegenheit benutzt, auf das äthiopische Regime einzudreschen, welches sich erdreistet, die Lebensmittel- und Saatgut-Hilfe der internationalen Gemeinschaft nicht sofort an alle oppositionellen Kräfte im ganzen Land auszuschütten. – Nein, natürlich geht es hier um echte Missstände in Äthiopien, aber indem die Kollegen auf Äthiopien eindreschen, treffen sie voll am Thema daneben, nämlich an der Katastrophe, die sich ein paar hundert Kilometer weiter südlich, an der Grenze zwischen Somalia und Kenia abspielt. Auch dazu fallen den Autoren zunächst mal ein paar kritische Anmerkungen ein, nämlich dass von der Hungerkatastrophe angeblich vor allem die Farmer im reichen mittleren Westen der USA profitieren. Diese olle Kamelle ist nun aber so was von ausgelutscht, dass man sie lieber im Abfall stecken lassen täte; denn wenn auch die USA ihren Farmern zweifellos Getreide abkauft und damit unter anderem Weltpolitik via Nahrungsmittelhilfe betreibt, so hat die konkrete Dürreperiode in Ostafrika damit überhaupt nichts zu tun. Das US-amerikanische Getreide würde bei der Bekämpfung der Hungersnot gute Dienste erweisen, wenn es denn tatsächlich bis zu den Hungernden vordringen täte, was es aber nur zum Teil tut, weil nämlich die soziale Organisation zur anständigen Verteilung der Lebensmittel in dieser Weltgegend schlicht nicht existiert.

Die anderen Probleme, welche der Stern-Artikel aufwirft, nämlich dass angeblich von den 170 Milliarden US-Dollars an Hilfsgelder für die eine Milliarde an armen Menschen auf der Welt pro Kopf nicht 170 US-Dollar ankommen, wie dies mathematisch berechnet werden kann, sondern bloß mal 7 Dollar, während der Rest drauf geht «für Schuldendienst, Korruption oder Honorare für Berater aus dem Ausland», wie der Stern schreibt, diese Probleme sind weiter nicht neu, bleiben aber tatsächlich empörend, ebenso wie die Tatsache, dass sowohl mit der Entwicklungshilfe als auch mit dem Hunger tatsächlich Politik gemacht wird, und zwar im Großen wie im Kleinen, also sowohl Welt- als auch Strukturpolitik, und das ist für zarte Gemüter nicht lustig. Umgekehrt habe ich nie begriffen, wie gut meinende und empörte Menschen wie zum Beispiel der Schweizer Uno-Hungerbotschafter Jean Ziegler unterstellen, dass sämtliche Probleme von Hunger und Unterentwicklung, vor allem in Afrika, nur auf die Profitgier der internationalen Großkonzerne zurückzuführen seien. Das ist Unfug aus dem Kindergarten. Wenn die internationalen Großkonzerne nicht von einfachen Rentabilitätsrechnungen, sondern tatsächlich von Profitgier getrieben werden, vergleichbar etwa jener der Jungs und Mädels in den Investment-Banking-Abteilungen der internationalen Großbanken vor der Finanzkrise, dann müssten die internationalen Großkonzerne in erster Linie dafür sorgen, dass in Afrika eine Schicht entsteht, deren Kaufkraft dazu ausreicht, massenweise die Güter besagter internationaler Großkonzerne zu erwerben. Dieser Mechanismus ist ebenso alt wie das T-Modell von Ford, und es ist ohne jeden Zweifel ein Merkmal der heutigen Zeit, dass ungeachtet der Finanzkrise in weiten Teilen des Globus exakt jene Entwicklung stattfindet, nämlich dass eine immer breitere Schicht von Arbeitnehmerinnen sich in Konsumentinnen verwandelt, welche Zugang zu einer immer größeren Anzahl von Produkten hat. Unabhängig von den daraus entstehenden Fragen im Zusammenhang mit Umweltverschmutzung, Energie und ähnlichen, auf die man in Europa schon verschiedene Antworten gefunden hat, ist dieser Prozess jener, der dem Welthunger mittelfristig am gründlichsten den Garaus machen wird.

In der Zwischenzeit rate ich aber weiterhin zu einer dicken Haut, damit man ob dem Hunger-Wahnsinn nicht selber in den Wahnsinn gerät.