"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wagenknecht -

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[37. Kalenderwoche]
Letzte Woche habe ich mal einen Blick geworfen in das neue Buch von Sahra Wagenknecht «Freiheit statt Kapitalismus».
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Upload vom 13.09.2011 / 10:55

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 13.09.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nach den ersten Seiten schaute ich etwas gehäkelt aus der Wäsche, denn da hält Frau Wagenknecht dem Kapitalismus vor, er habe das Versprechen von Ludwig Erhard nicht eingelöst, Wohlstand für alle zu schaffen. Ein paar Takte weiter wurden diese bitteren Vorwürfe ausgeweitet oder vertieft, nämlich verstößt der Kapitalismus offenbar gegen einige, alle oder mindestens die zentralen Thesen des Ordoliberalismus ebenso wie des echten und originalen Neoliberalismus, dessen Ursprünge Wagenknecht in die dreißiger Jahre ansetzt. Oho, dachte ich und fragte mich, ob ich vielleicht auch Aha denken solle. Worum geht es: um Macht, Konkurrenz und Monopole und um den idealen Markt. Themen also, die uns durchaus bekannt sind, wenn auch bisher in anderer Anordnung: Grob gesagt, führt die kapitalistische Industriegesellschaft ziemlich zwangsläufig zur maximalen Automatisierung und damit auch zur maximalen Konzentration der Produktion, und damit erscheint auch das Monopol oder mindestens das Oligopol nichts als die logische Konsequenz der freien Marktwirtschaft. Allerdings ist dies wirklich sehr schematisch gesagt und betrifft in der Praxis nur Teilbereiche der Wirtschaft. Trotzdem beruft sich Wagenknecht prominent auf die bürgerlichen Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft, welche diese Macht- und Eigentumskonzentration verhindern wollten.

Nun: Originell ist sowas allemal, beziehungsweise es handelt sich um eine beliebte Figur aus der Rhetorik. Man dreht dem Gegner das Wort im Maul herum. «Freiheit statt Kapitalismus» antwortet auf «Freiheit statt Sozialismus», und zweifellos ist es lustig, den Neoliberalen unter die Nase zu reiben, dass ihre Gründerväter eigentlich einen starken Staat befürworteten. Dennoch habe ich den Eindruck, dass Sahra Wagenknecht hier nichts anderes skizziert als die Grundlagen eines gezähmten Kapitalismus und damit eine Diskussion neu auflegt, die schon vor vierzig Jahren nicht besonders produktiv war. Ich muss das hier aber offen lassen und begnüge mich mit der Anmerkung, dass mindestens in jenen Passagen, die ich mir zu Gemüte geführt habe, alle Verweise auf einen allfälligen Klassencharakter sowohl des Systems als auch der Auseinandersetzungen darin und darum fehlen. Das halte ich für bemerkenswert für eine Autorin, die noch vor Kurzem als Kandidatin für das Präsidium der Linken im Gespräch war. Auch hier füge ich gleich an, dass ich das nicht einmal unbedingt für falsch halte; mit der erwähnten Vollautomatisierung zerbröselt nämlich tatsächlich die sozioökonomische Grundlage für den Begriff der Lohnarbeit oder des Proletariats, auf diese Einsicht bin auch ich schon gestoßen. Aber für die Denkrichtung, die sich in der Tradition von Marx und Engels sieht, stellt diese Einsicht – wenn es denn überhaupt eine ist beziehungsweise eine gesicherte Einsicht ist – doch einen derart großen Einschnitt dar, dass man ihn nicht undiskutiert unter den Tisch schieben sollte in der großen Systemdebatte. Und darum geht es hier doch eindeutig.

Auf diese Einleitung lässt Sahra Wagenknecht eine kritische Revue der Finanzkrise folgen. Hierzu habe ich nicht allzu viel zu sagen, weil auch Wagenknecht nicht allzu viel Neues beibringt, mit einer Ausnahme: Der Hinweis darauf, dass all diese gewaltigen Geldschöpfung, die wundersame Vermehrung des internationalen Finanzkapitals praktisch niemals verbunden war mit einer nennenswerten Inflation. Daran hatte ich effektiv noch nicht gedacht, und diese Tatsache beweist doch recht eindeutig, dass die beiden Welten des Zirkulationsgeldes und eben des Finanzkapitals sehr gründlich voneinander getrennt sind. Die Kapriolen des Finanzkapitals müssten somit aber auch in anderen Bereichen mit den Kriterien eines Zirkuskritikers bewertet werden und nicht mit ernsthaft bedachtem ökonomischem Stirnrunzeln, zum Beispiel mit dem Verweis darauf, dass die Banken immer mehr Finanzspekulation betrieben haben und immer weniger Kapital für Investitionskredite zur Verfügung stellten. Diese Bereiche darf man miteinander ebenso wenig in Relation setzen wie mit dem Zirkulationsgeld. – Übrigens haben wir ja gesehen, dass sich die Realwirtschaft während dem ganzen Finanzschlamassel recht gut gehalten hat und schon 2009 wieder Gewinne produzierte, während 2010 ein unerhörtes Boomjahr war, wenn auch nicht in allen Branchen und offenbar vor allem in den USA nicht. Aber abgesehen davon: In welchem Ausmaß in den am weitesten entwickelten Gesellschaften des Planeten Innovation und Investition überhaupt noch möglich sind, ist eine Debatte, die mit den Finanzheinis vom Investmentbanking praktisch nichts zu tun hat.

Naja, viel weiter kam ich nicht bei der Lektüre; aber dann las ich in der Zürcher Wochenzeitung noch ein Interview mit Frau Wagenknecht über das Buch und die zentralen Themen, und der Titel dieses Interviews lautete: «Wer Leistung, Wettbewerb und Wohlstand will, muss links sein.» Oho, dachte ich, und diesmal wusste ich, dass ich auch Aha! denken muss. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man im Bereich der Ideologie nicht einfach wie in «Pirates of the Caribbean» ein feindliches Schiff entern und unter eigener Flagge weiter betreiben kann. Die Schlagworte-Kombination «Leistung und Wettbewerb» hat aufgrund nachweislicher Hohlheit zum Untergang der F.D.P. geführt, da ist es kommunikationstechnisch nicht ratsam, die ollen Kamellen aufzuklauben und als eigene frische Pralinen zu verkaufen.

Aber die Verschiebung der Perspektiven scheint ein hoch aktueller Prozess zu sein. Haben nicht zahlreiche konservative Kommentatoren, zum Beispiel der FAZ-Kulturchef Frank Schirrmacher, in letzter Zeit öffentlich verlautbart, dass die Linken seit 30 Jahren eben doch Recht hätten? Das kann natürlich die Linke nicht auf sich sitzen lassen, und sie beruft sich postwendend auf die liberalen Gründerväter. Wenn sich diese Spirale weiter dreht, dann nimmt die Bundestagsfraktion der Linken demnächst die gesammelten Werke von Ronald Reagan in ihr Programm auf.

Nehmen wir zugunsten aller Beteiligten mal an, dass sie unter dem Schock der Finanzkrise stehen, die uns gegenwärtig vor allem in der Form der Schuldenkrise und der Euroschwäche noch vor der Nase herumflirrt. Die Verstöße der internationalen Bankclowns gegen sämtliche Regeln der Berufskunst haben tatsächlich nicht nur groteske Ausmaße angenommen, sondern auch die System-Ideologie in eine echte Krise gestürzt. Äußerungen wie jene von Schirrmacher und seinen Kollegen sind vor diesem Hintergrund zu sehen bzw. zu verstehen sozusagen als Nottriebe, auf die sie sich nicht im Ernst langfristig festlegen werden, auch wenn es durchaus Ausreißer und Vorläufer gibt, die schon länger in diese Richtung arbeiten wie z.B. der ehemalige deutsche Minister und CDU-Generalsekretär Heiner Geissler, der vor vier Jahren attac-Mitglied geworden ist. Den rhetorischen Dreh von Sahra Wagenknecht dagegen halte ich für unbedarft. Er erinnert zum einen an die neue Sozialdemokratie in den 90-er Jahren, deren prominenteste Produkte der britische Konvertiten-Pudel Tony Blair und dann der Nicht-Konvertit Gerhard Schröder waren bzw. politisch gesehen die völlige Liberalisierung der Finanzindustrie einerseits, die Hartz-IV-Gesetze anderseits. Die Linke braucht für ein fortschrittliches, soziales und vielleicht sogar sozialistisches Programm durchaus nicht den Sukkurs von Erhard, Eucken oder Röpke, bei allem Scherzgehalt, den ich hiermit noch einmal einräume. Aber wenn man diese Volte einmal getan hat, dann kommt man eben zwangsläufig auch auf Annahmen, die keiner Prüfung statt halten. Dies betrifft vor allem jene Aussagen, wonach das Großkapital den mittleren Betrieben keinen Kredit mehr gebe zum einen, und zum anderen, dass das Verhältnis zwischen Investitionen und Konsum zuungunsten des Konsums verschoben werde, damit ein paar wenige immer reicher würden; anders gesagt: wenn die Gewinne kleiner und die Löhne höher wären, würde der Konsum zunehmen. Das halte ich einfach für Humbug in einer Welt, in der die Produktewerte tendenziell gegen null sinken – wenn man ein solches System über die Stärkung des Konsums beziehungsweise über Lohnsteigerungen sanieren will, dann müssen sich alle Leute zu Tode konsumieren, das geht eben nicht, und genau hier vermisse ich eine eigenständige Denkleistung. Genau hier müsste ein fortschrittliches Programm ansetzen.

Daneben stehen in diesem Buch ja auch noch andere Dinge, gegen die ich gar nicht übermässig anstänkern will, nicht zuletzt deshalb, weil ich eben noch nicht dazu gekommen bin, sie überhaupt zu lesen. Aber die Neben- und Obertöne, sowohl im Buch als auch Artikel, lassen mich skeptisch bleiben. In der Bildlegende zum Artikel in der Wochenzeitung wird Frau Wagenknecht mit folgendem Satz zitiert: «Leute, die mir sagen, sie hätten mit linken Ideen bisher nichts am Hut gehabt, finden die Ideen überzeugend.» – Da hätte ich jetzt einen natürlichen Reflex gegen ein solches Zitat; es ist allzu offensichtlich, dass es die Ideen selber als nicht links charakterisiert. Und dann lautet der Unter- oder Nebentitel des Buches auch noch: «Wie wir zu mehr Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit kommen.» – Wieso denn mehr Arbeit? Was ist denn das für eine Forderung in einer globalisierten Welt, die wirtschaftlich auf umfassender Vollautomation beruht?

Mich überzeugt das nicht. Anderseits kann man das Buch zweifellos auch als einen Beitrag zu einer Debatte sehen, die gegenwärtig tatsächlich offener ist als auch schon. Und wenn man hier auch mal auf linker Seite ein Tabu bricht, so ist das weiter nicht schlimm.