"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Solidar-Konjunktur -

ID 43275
 
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[39. Kalenderwoche]
Und übrigens stehts ja auch im Grundgesetz: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, also praktisch von Gesetzes wegen sozialdemokratisch, was regen sich denn die alten CDU-Mitglieder so auf, wenn Frau Merkel bzw. die Regierung eine sozialdemokratische Politik betreiben?
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mp3, 96 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 27.09.2011 / 11:59

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.09.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Strafe für Verstöße gegen dieses Prinzip ist hart: Die FDP erleidet sie gegenwärtig in erheblichem Umfang, bis auch sie von der sozialdemokratischen Tugend der Nächstenliebe und Solidarität wieder eingefangen wird. Damit dies nicht so schnell geschieht, möchte ich hier etwas ausführlicher den schon fast in Vergessenheit geratenen ehemaligen FDP-Chef Guido Westerwelle zitieren mit einem Bundestagsvotum zum bedingungslosen Grundeinkommen aus dem Jahr 2007: «Denn wir wollen mal feststellen: dieses bedingungslose Grundeinkommen heißt ja in Wahrheit: leistungsloses Grundeinkommen. Das heißt: der Staat bezahlt alle – ob sie morgens aufstehen oder ob sie liegen bleiben. Ich bin der Meinung, der Staat ist für diejenigen da, die sich nicht helfen können. Er ist nicht für diejenigen da, die lieber auf Kosten der Allgemeinheit leben möchten. Unser Sozialstaat soll die Schwachen schützen – nicht die Faulen. Und deswegen halte ich auch dieses bedingungslose, leistungslose Grundeinkommen für ein Programm «Brüder zur Sonne zu Faulheit». Leistung muss sich lohnen. Alles andere ist mit Verlaub gesagt Quatsch. Ich bin ja sehr dafür, dass wir darüber debattieren Nebenbei bemerkt, ich finde es auch gut, dass Sie das hier ansprechen, weil nämlich das auch mal Augen öffnet, worüber mittlerweile in der deutschen Politik geredet wird. Ich meine, Wenn alle – egal ob sie sich anstrengen oder nicht anstrengen, das Gleiche bekommen, wie nach dem Konzept der Grünen, eben das leistungslose Grundeinkommen, ja, wer soll da morgens noch aufstehen?» – Und wir erinnern uns daran, dass die Gründen damals nicht etwa über 1500 Euro pro Monat diskutierten, sondern etwas später über ein Grundeinkommen von etwa 400 Euro abstimmten und auch dies noch für zu hoch befanden. «Leistung muss sich lohnen» – na, tut sie es denn gemäß den Konzepten des Westerwelle- und FDP-Liberalismus? Lohnt sich die Leistung auch der kleinen, der einfachen Leute, der braven Durchschnittsbürgerinnen und -bürger? Sind solche Sprüche im Zeitalter einer globalisierten und vollautomatisierten Wirtschaft und vor allem der absolut leistungslosen Einkommen der Investmentbanker auch nur am Rand von irgendeiner Vernunftvermutung gestreift? – Aber wem sage ich dies; Ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer in Deutschland, habt die FDP in für sie Schwindel erregenden Prozentanteils-Höhen gewählt, um sie nur umso dramatischer ins Nichts stürzen zu lassen. Eben, ich bin gespannt, bei welchem Niveau Ihr dann doch noch den Rettungsschirm aufspannt. Vielleicht mobilisiert Ihr irgendwelche Stimmen-Kredite? – Ach, macht doch, was Ihr wollt, solange es eben einfach tüchtig sozial und demokratisch ist.

In letzter Zeit hatte ja eine sehr schöne Leiche eine sehr bemerkenswerte Konjunktur, parallel zum Absturz der FDP, nämlich unser guter alter Karl Marx, und demnächst wird Chemnitz wieder zurückgetauft in Karl-Marx-Stadt, oder wenn das so weiter geht mit dem Finanzkapitalismus, werdet Ihr den Namen hoffentlich direktemang Berlin überstülpen. Viel Feind, viel Ehr, sagt man in der Regel; aber wie steht es denn mit all diesen neuen Freunden? Jedenfalls habe ich bei all den Huldigungen nicht sehr viel Reflexion geortet, aber darum gings wahrscheinlich auch nicht, sondern um eine Bewegung einer kollektiven Schicht irgendwo zwischen der Vernunft und der Emotion, nämlich um die Retourkutsche gegenüber den unsäglichen Egoismen auf allen Ebenen, am volksnahsten bekanntlich ausgedrückt im Slogan «Geiz ist geil». Die FDP war unter der Westerwelle nicht nur, aber doch auch prominent der politische Ausdruck dieses Spottliedes auf die Solidarität, und was dabei in der Praxis herauskommt, haben wir en gros eben beim Kollaps des gierigen Investmentbanking und en détail bei den Steuergeschenken für die FDP-Kollegen in der Hotellerie gesehen. Es ist wohl nicht falsch, dem Volk eine gewisse Grunddummheit zuzuschreiben, aber gleichzeitig, und zwar wirklich absolut gleichzeitig, verfügt das gleiche Volk auch über eine gewisse Grundintelligenz, und wenn hin und wieder die Dummheit die Oberhand hat, so ist es meistens nur eine Frage der Zeit, bis die Intelligenz zurück beißt, und in einer solchen Phase befinden wir uns gegenwärtig offenbar. Natürlich gibt es Ausnahmen wie zum Beispiel beim demokratischen Staatsstreich in Ungarn, aber davon abgesehen erkenne ich eigentlich recht viele Hoffnungslichter am Firmament. In Dänemark geht der zehnjährige Rechtspopulismus wieder in die Opposition, und in Deutschland erwacht so etwas wie ein soziales Gewissen, das durchaus keine klassenmäßige Unterfütterung hat. Es könnte sein, dass die Einsicht in grundlegende Zusammen¬hänge und Zusammenhalte in der Gesellschaft zum Einen, aber auch eine relative und absolute Saturiertheit von der Gewinnideologie dazu führen, dass ein neuer Grundkonsens entsteht darüber, dass die moderne Gesellschaft – na, Ihr wisst schon: eben demokratisch und sozial einzurichten sei. Wenn sich dieser Konsens durchsetzt, dann erscheint die Pfennigfuchserei um die Hartz-IV-Sätze plötzlich als das, was sie ist: eine bis ins Mark hinein schäbige Haltung mit keinem Pfifferling an ökonomischer oder vernünftiger Unterfütterung. All das, was ich oben von der Westerwelle zitiert habe, ist bei genauer Betrachtung nur Luft und Brunz. Das gilt auch für die geifernden Attacken gegen den Sozialstaat oder überhaupt den Staat: Was soll das, oder vielmehr und präziser: Wo bleibt denn da die Grundaussage, dass der Staat in jedem Fall nicht nur ein Herrschaftsinstrument, sondern auch die oberste Institution des ganzen Gemeinwesens darstellt, und zwar bis zu jenem Grad, da sich die Einwohnerinnen und Einwohner sogar Bürger nennen, nämlich die obersten Bestandteile der Republik? – Ich könnte mir vorstellen, dass wir in eine Zeit eintreten, in welcher diese Sorte der politischen Einsicht wieder zum bestimmenden Element des Diskurses wird. Dabei braucht man mit der Kritik am Staat durchaus nicht zu sparen, die Vorwürfe in Sachen Bürokratie und Verfilzung und die gesamten Lobbyisten, all das hat nach wie vor Gültigkeit, und auch in Zukunft wird es der Staat immer wieder versuchen, sich auf Kosten anderer Organismen auszudehnen. Aber eben: Daneben gilt im Prinzip halt nach wie vor, dass der Staat eigentlich die Summe seiner BürgerInnen darstellt. Es geht eigentlich nur noch darum, diesen Zustand auch wirklich herzustellen. Damit dies geschieht, benötigt es Voraussetzungen auf der Ebene der öffentlichen Meinung beziehungsweise der Moral; und hier eben meine ich im Moment eine echte Verschiebung festzustellen.

Wenn man nun etwas Konstruktives daraus machen will, dann muss man die eigenen Positionen mindestens zum Teil räumen und nicht zuletzt anerkennen, dass es gerade in reichen Gesellschaften zunehmend große Personengruppen geben kann, welche nicht in erster Linie aus Eigeninteresse oder für ihre Gruppen- bzw. Partikulärinteressen handeln, sondern aus Einsicht, zum Beispiel aus Einsicht darein, dass es ein Skandal ist, wie die Menschen am unteren Ende der Gesellschaftsleiter behandelt werden. Genau den gleichen Skandal finden wir allerdings auch oben, bloß umgekehrt. Um diese Einsicht zu gewinnen und um eine Änderung anzustreben, braucht man, und das ist vielleicht wirklich neu, nicht zwingend Mitglied der Linken oder der Sozialdemokraten zu sein. Natürlich ist dort die Wahrscheinlichkeit höher, dass man auf Menschen mit solchen Einstellungen trifft; aber insgesamt verliert die Linke hier vielleicht bald einmal ein moralisches Monopol, dank dem sie ihrerseits ganze Stücke des Sozialstaates unter ihre eigenen Fittiche reißen konnte. Jahrelang haben liberale, neoliberale, aber auch reaktionäre und zum Teil schlicht dumpfdumme Kreise die so genannten Gutmenschen verhöhnt; jetzt, da dieses ganze Gesocks nach der Finanzkrise sowohl ideologisch als auch politisch am Boden liegt, kommt vielleicht justament die Zeit eines moralischen Fortschrittes, in dem als Minimalkonsens wenigstens die Geldleistungen für die untersten Schichten nicht nur angehoben werden, sondern auch befreit von Bedingungen, Prüfungen, Auflagen und Sanktionen, welche insgesamt keinen anderen Effekt haben, als ein stehendes Heer an Aufsichtsbeamten zu beschäftigen. Mindestens soviel muss sich diese Gesellschaft jetzt endlich leisten, ganz unabhängig davon, ob schon wieder eine Rezession auf uns zurollt oder ein Kollaps oder überhaupt der Weltuntergang. Nach dem Weltuntergang möchte ich mit anderen Worten endlich ein anständiges Grundeinkommen sehen.


Die Vorstellung, dass Menschen gegen ihre eigenen direkten Interessen stimmen, ist ja nicht nur irritierend oder beängstigend. In der direkten Demokratie in der Schweiz ist dies eine gelebte Praxis, ich habe an dieser Stelle schon mehrfach davon gesprochen. Wenn der Klassenfeind genügend Propagandamittel hat, dann stimmen die Werktätigen gerne und zuverlässig für seine Projekte. Umgekehrt ist aber eben denkbar, dass sich mit der Zeit der erwähnte Konsens über minimale gesellschaftliche Leistungen zu modernisieren beginnt, wie vorher erwähnt, und daraus müsste dann eine echte Bürgerbewegung entstehen, welche mindestens eine gewisse Zeit lang sämtliche Gruppeninteressen zu sabotieren vermag und damit eben erst die Voraussetzungen schafft für die Anpassung der Institutionen an die neuen Gegebenheiten oder sogar an künftige Herausforderungen. Vielleicht kann man das Revival von Karl Marx, aber auch den plötzlichen sehnlichen Wunsch einer steigenden Anzahl an Millionärinnen und Milliardären, doch endlich mal Steuern zahlen zu dürfen, vor diesem Hintergrund begreifen; und wenn es stimmt, dann wären sogar verschiedene Vorschläge der aktuellen Bundesregierung, namentlich von Frau Arbeitsministerin von der Leyen, durchaus nicht nur als taktisches Kalkül zu sehen, sondern würden sich bestens in diese generelle Bewegung einfügen. Könnte ja sein, oder?