"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Stachelschwein -

ID 43408
 
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[40. Kalenderwoche]
Generell ist der Wildwest-Kapitalismus in Westeuropa beseitigt, aber in einigen Schattenbereichen lebt er weiter und verzahnt sich durchaus mit der normalen Wirtschaftswelt.
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11:25 min, 10 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 04.10.2011 / 10:06

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.10.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
So lässt der schwedische Autohersteller Volvo in der Nähe der Schweizer Stadt Lausanne ein neues Vertriebs- und Ausstellungszentrum bauen. Ende September entdeckte die Bauarbeiter-Gewerkschaft Unia, dass auf der Baustelle ein paar Portugiesen beschäftigt waren, die bis zu 60 Stunden pro Woche arbeiteten, zu zehnt in einem 25 Quadratmeter grossen Zimmer wohnten und 550 Euro pro Monat an Lohn erhielten. Angestellt waren sie von einer portugiesischen Firma mit dem schönen Namen Construtoria Lubruma, die von einer deutschen Unternehmung beauftragt worden war, welche wiederum als Subunternehmerin der verantwortlichen Bauunternehmung fungierte, der Ten Brinke Gruppe. Diese beschreibt sich auf ihrer Webseite wie folgt: «Mit Niederlassungen u.a. in den Niederlanden, in Deutschland, Spanien und Griechenland realisieren wir überall in Europa Projekte im Wohnungs- und Gewerbebau», und weiter heisst es: «Wir wissen, was der Markt verlangt, und passen unsere Produkte und Dienstleistungen kontinuierlich daran an.» Ganz genau. Jedenfalls hat die Ten Brinke Gruppe dann offenbar auch diese komplett illegalen Arbeitsverhältnisse doch noch dem Markt angepasst. Die betreffenden portugiesischen Arbeiter wurden entlassen und durch andere ersetzt, welche jetzt vermutlich immerhin den Mindestlohn erhalten, der mit der Einführung der Personenfreizügigkeit auch in der Schweiz zwischen den Sozialpartnern für ausländische Arbeitskräfte festgelegt wurde.

In der Bauindustrie kommen solche Verstöße immer mal wieder vor, wenn auch nicht grad in diesem Ausmaß, aber es finden sich auf den Baustellen recht viele Arbeiter aus Polen oder sogar aus Ostdeutschland, welche weniger erhalten, als sie eigentlich müssten. Immerhin gibt es regelmäßige Kontrollen, welche von der Fremdenpolizei gemeinsam mit Gewerkschaftsvertretern durchgeführt werden. Daneben arbeiten sehr viele Menschen schwarz in der Reinigung und in den Privathaushalten, ohnehin ein Niedriglohnbereich, wo praktisch keine Aufsicht möglich ist. Und dann sind Niedriglöhne ebenfalls beliebt in der Landwirtschaft, natürlich nicht nur in der Schweiz, aber in der Schweiz ist es etwas pikanter, da sich die rechtsnationalistische Volkspartei ideologisch in erster Linie auf den Bauernstand beruft, dessen Branchenorganisation fest im Griff hat und auch einige Bauern in das nationale Parlament abstellt, wo sie im Chor mit den übrigen SVP-lern gegen die Einwanderung geifern. Auf ihren eigenen Höfen lassen sie aber Portugiesen und Polen zu Magerlöhnen schuften. So schön und kohärent kann rechte Ideologie sein.

Die rechte Ideologie ist wie eh und je ein steter Born der Konsternation. Wenn man zum Beispiel auf der Webseite der Zeitschrift «Junge Freiheit» spazieren geht, stellt man in erster Linie ihr ungebrochenes Interesse an den Heldentaten der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg fest oder an den weiteren schönen Errungenschaften des Hitler-Regimes, wobei natürlich kritische Töne nicht fehlen dürfen. So ergeht sich zum Beispiel Doris Neujahr ganz unzeitgemäß, nämlich nicht am 1. Jänner, sondern am 5. August über das sportliche Großereignis der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin, zu dem, was ich wirklich nicht wusste, Richard Strauß die Hymne komponierte, das macht seine Werke noch etwas appetitlicher, als sie schon bisher waren. Und Leni Riefenstahl bannte das ganze in unvergänglichen Bildern, die laut Frau Neujahr bis heute «der Inbegriff des friedlichen Kampfes auf dem Feld des Sports» seien. Das ist ja wirklich zum Schießen. Aber am Schönsten finde ich den Abschluss des Artikels unter dem Untertitel «Vom Gendertum unberührt», den ich ungeschnitten zum Vortrag bringen will: »Bei Olympia 1936 dagegen bleiben Männer stets Männer und Frauen stets Frauen, polar aufeinander bezogen, vom Gendertum unberührt und bereit zur natürlichen Fortpflanzung. Auf praktische Weise bestätigt sich die Fähigkeit zur Transzendenz, zur Selbstüberschreitung, die Leni Riefenstahl in unvergänglichen symbolischen Bildern festgehalten hat.» Da muss man kurz innehalten, damit man nicht den gedanklichen Schluckauf kriegt: Im Olympiastadion standen Männer und Frauen polar aufeinander bezogen bereit zur natürlichen Fortpflanzung, was auf praktische Weise die Fähigkeit zur Transzendenz bestätigt – solange die rechts gewickelten Gehirne solchen Unsinn zustande kriegen, brauchen wir uns wohl keine Sorgen zu machen um ihre Zukunft. Und jetzt kommts aber zum Abschluss und Klimax: «Die Olympischen Spiele von Berlin waren in diesem Sinne auch ein Gegenbild zur europäischen Dekadenz. Die historische Tragik besteht darin, dass sie unter Herrschaft eines Lumpenproletariats inszeniert wurden, dem die ethische Potenz dieser Ästhetik verschlossen blieb. Sonst wäre es um Deutschland und Europa heute besser bestellt.»

Das ist natürlich ein übler Vorwurf an die Nazis bzw. an die eigenen geistigen Großeltern, dass sie nichts weiter als die Herrschaft eines Lumpenproletariats gewesen wären. Das galt womöglich auch für die polar aufeinander bezogenen richtigen Männer und richtigen Frauen. Schreck lass nach. Wie gesagt: Hier haben wir es mit unfreiwilliger Satire zu tun, und damit brauche ich mich weiter nicht zu beschäftigen, wäre da nicht jenes Merkmal der postfaschistisch reaktionären Bewegung, dass sie laut und unverschämt für sich in Anspruch nimmt, Denkverbote zu bekämpfen. Im Kern geht es auch hier immer nur darum, den Mord an 6 Millionen Juden, die Gleichschaltung der Massen und die Auslösung eines Weltkriegs im Namen der rassisch-nationalen Überlegenheit Deutschlands zu bestreiten, sei es durch Relativierung, durch die Lobhudelei der Wehrmachts-Taten, durch Verweise auf die Kriegsverbrechen der Gegenseite oder was auch immer. Und es geht natürlich darum, im aktuellen Kontext «eine Gasse zu schlagen» für die Verbreitung offensichtlicher und auch raffinierterer Unwahrheiten, die stets als Vorbereitungshandlungen zur Wiederherstellung eines national-rassistischen Wahnzustandes verstanden werden müssen. Dies gilt nebenbei durchaus nicht allein für Deutschland, bewahre, aber in Europa hat sich diese Ideologie halt nachhaltig in erster Linie vor 80 Jahren in Deutschland durchgesetzt, mit den entsprechenden Erfahrungen, die bis heute nachhallen.

Und dann bewundern die nationalistischen Reaktionäre von der Jungen Freiheit natürlich offenen Mundes die nationalistischen Reaktionäre von der schweizerischen Volkspartei und unter ihnen in erster Linie den unerschrockenen Oskar Feyersinger, den serbischen Literaten, dem es Ende September übrigens gelungen ist, im Nationalrat einen Vorstoß für den Verbot der Burka im öffentlichen Raum durchzusetzen. Ob der Ständerat den Text nach den Wahlen ebenfalls genehmigen wird, steht noch aus, das heißt, es ist anzunehmen, dass er dies eben nicht tun wird, weil es dann eben nach den Wahlen ist und die nationalistische Scheiße für ein paar Monate wieder auf kleinerem Feuer gekocht wird. Jedenfalls ist es aus neutraler Sicht durchaus eine Unehre, von den rechtsextremen Idioten auf dem ganzen europäischen Kontinent andauernd gelobt zu werden wegen unserer rechtsextremen Idioten, und ich hoffe wirklich, dass das bei Gelegenheit mal aufhört. Aber vielleicht muss für diesen Zweck zuerst der Führer dieser Partei ins Gras beißen oder mindestens noch stärker debil werden, als er dies heute schon ist; der Mann ist über 70-jährig, und seine Latenzzeit dürfte keine 5 Jahre mehr betragen. Wenn der Christoph Blocher erst einmal alt aussieht, dann wird seine Partei ihm mit fest geschlossenen Reihen folgen.

Genug der verärgerten Worte! – Oder soll ich euch noch sagen, welches Bild ich vor mir liegen habe? Nun gut. Es zeigt einen Raum in Buchenwald, an der Wand hängt eine Fotografie mit einem ordentlichen Stapel an toten Häftlingen, vermutlich Jüdinnen und Juden; und davor posieren zwei Junge Männer mit dem Hitlergruß. Einer davon nennt sich Jonas Schneeberger, und er kandidiert für eine Partei mit dem ordentlichen Namen «Schweizer Demokraten» für den Nationalrat. Das sei eine alte Sache gewesen, ließ er ausrichten, er hätte sich mitreißen lassen. Und der Parteipräsident hat in Aussicht gestellt, dass er demnächst mit Jonas Schneeberger ein ernstes Wörtchen reden wolle. – Der Fall liegt übrigens unterdessen bei den deutschen Behörden.

Nun solltet ihr aber nicht etwa den Eindruck haben, dass in unserem Land eine neofaschistische Horde politische Gestalt angenommen hat. Noch nicht einmal die SVP kann und will mit diesen Vögeln etwas anfangen – ihr reicht es völlig, dreist, dumm, rassistisch und nationalreaktionär zu sein. Uns reicht es auch, übrigens. – Allerdings hat sich unterdessen der Nationalismus bis in die Werbung ausgedehnt, und zwar nicht nur für die Wahlen ins nationale Parlament, wo unterdessen fast alle Parteien irgendwie ihrer Liebe zur Schweiz Ausdruck geben, mit lobenswerter Ausnahme der Sozialdemokrat/innen und der Grünen, aber die anderen tun in diesem Reigen mit wie narrisch, und eben, auch für Kartoffeln, Käse, sogar für Sonnenenergie wird heute geworben als typisch schweizerisch. Das ist ziemlich prekär, wenn man sich nicht mal mehr die Werbesendungen zu Gemüte führen kann wegen nationalistischer Überhitzung. Immer wieder fragt man sich, wie weit man solchen Brunz überhaupt ernst nehmen soll, wie gesagt: in einer Welt der vollautomatisierten und voll globalisierten Produktion, in der unter anderem 50% der Schweizer Bevölkerung ihren Urlaub in Thailand und auf den Malediven verbringen. Ich tippe nach wie vor auf eine gewisse Event-Qualität der entsprechenden Medien-Manifestationen, das hat so ein bisschen Fan-Charakter wie bei einem Fußballclub. Aber gleichzeitig weiß man, wie schnell sich so ein Event dann doch seiner realen Vorbilder zu erinnern vermag. Schließlich hat der Bürgerkrieg in Jugoslawien auch mit den Fans eines Belgrader Fussballclubs angefangen. Man befindet sich da immer etwas in einer Zwickmühle, denn man will sich anderseits den Tag ja auch nicht verderben durch die andauernde Schwarzmalerei.

Was ihn aber definitiv und immer wieder verdirbt, das ist die unverhohlene Dummheit, die Anti-Intelligenz, welche sich in diesen Geistesschichten äußert. Mehr noch: Sie äußert sich nicht nur, sondern sie bleibt auch zunehmend unwidersprochen. Das ist nicht nur ein grundsätzliches, sondern eben unterdessen auch ein alltägliches Problem. Wir wollen hoffen, dass diese Krankheit erstens ihre größte Ausbreitung unterdessen erreicht hat, wobei neuere Filme wie «Contagion» zweifellos genau dieses Phänomen zum Thema haben, wenn mans sich genau überlegt, und hier ist die Ansteckung dann ja hundertprozentig; aber in der Politik siehts vielleicht doch nicht so verheerend aus. Wenn sie also ihre größte Ausbreitung erreicht hat , dann setzt möglicherweise auch eine gewisse Immunität ein, quasi eine Dekontaminierung, und das Ding verliert sich so, wie es gekommen ist. Mir will scheinen, wir hätten solche Epochen in der neueren Geschichte auch schon durchgemacht, in der Schweiz zum Beispiel vor etwa 40 Jahren, als vier Überfremdungsinitiativen in Folge jeweils nur recht knapp abgelehnt wurden. Vorderhand rate ich euch jedenfalls davor ab, das kleine Stachelschwein am südlichen Ende eures Landes zum Vorbild zu nehmen.