"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ärgerliche Ideologen -

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[41. Kalenderwoche]
Eigentlich wundere ich mich darüber, dass es immer noch Leute und insonderheit Politiker gibt, welche ungerührt den gleichen Stuss von sich geben wie vor der Finanzkrise im Stil von «Leistung muss sich lohnen», ungefähr gemäß dem inzwischen von sämtlichen Bäumen gefallenen Affen Westerwelle.
Audio
10:35 min, 7439 kB, mp3
mp3, 96 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 17.10.2011 / 15:59

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.10.2011
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ungerührt warnen sie vor Umverteilungsübungen, als ob die herrschenden Verhältnisse etwas anderes wären als der momentane Status der Umverteilung. Unlängst hat mir ein Kollege ein paar Zahlen für Deutschland zugemailt: Dementsprechend hätte die Zahl der Euro-Millionäre im Jahr 2010 einen neuen Rekord erreicht mit 830'000 Stück; vor der Finanzkrise 2007 waren es 800'000, und auf dem Höhepunkt der Krise ging die Zahl auf 720'000 zurück. Ihr Vermögen nahm gegenüber 2009 um 8.8% zu auf insgesamt 2.2 Billionen Euro, also 2200 Milliarden Euro, was im Durchschnitt relativ bescheidene 2.65 Millionen pro Mann und/oder Frau ergibt. Die 10 reichsten Deutschen aber besaßen 2010 gemeinsam dann doch 100 Milliarden. Und denen ihre Befehlsempfänger in den PR-Büros und eben in der Politik erdreisten sich, anständige Renten und eine anständige Krankenversicherung und was es der öffentlichen Leistungen halt noch mehr braucht, als Umverteilung zu kennzeichnen, und der liebe Gott schickt denen keinen Blitz über den Scheitel und auch keine Geschlechtskrankheit zwischen die Beine, und auch die Oppositionsparteien und noch viel wunderbarer: das Wahlvolk machen keinen Wank, da irgendwie dreinzufahren, die Milliardäre zu enteignen und die Politiker-Schleimbeutel von der Watschen-Polizei in Gewahrsam nehmen zu lassen – das sind Zustände, welche direktemang an einen sozialdemokratischen Staat gemahnen. Das ist in der Tat die Schattenseite der Zeit, in der wir leben.

Dabei wäre mir das mit den Millionen und Milliarden eigentlich ganz egal. Soweit die Herren bzw. die Damen und Herren mir damit nicht das Frühstücksei versalzen, brauche ich mich um die nicht zu kümmern, erstens habe ich schon immer gesagt, dass ich mich mit sozialem Abschaum nicht beschäftige, und zweitens sind diese Menschen ja in der Regel eher Gefangene ihres Vermögens, als dass sie eine wirkliche Freiheit daraus gewinnen könnten jenseits des Luxus, in Moët Chandon baden zu können, wenn es ihnen beliebt, aber das tun die wahrscheinlich auch nur selten, denn man riecht danach immer so streng. Nein, ich bin hier so was von tolerant und liberal, dass sich die Grä¬ten biegen. Aber die anderen Dumm- und Lackaffen, jene Liebediener, welche veraltete Polit-Floskeln aus veralteten Lehrbüchern von Partei- und Wirtschaftsweisheit über die Medien verbreiten, als hätte sich gar nichts ereignet, die gehen mir dann schon auf den Sack, insbesondere, weil ich genau weiß, dass sie dann auch in den Kommissionssitzungen und überall, wo es drauf ankommt, die Strippen ziehen, um den Reichtum der Reichen möglichst ins Unermessliche zu steigern, während die armen Schlucker eh weder größere Bedürfnisse haben noch Perspektiven brauchen. Sowas gehört eigentlich verboten.

Auch bei uns in der Schweiz werden Sozialleistungen und natürlich sowieso ein bedingungsloses Grundeinkommen oft als «leistungsloses Einkommen» bezeichnet, womit die BezügerInnen in die Ecke der SozialschmarotzerInnen gedrückt werden sollen, Menschen, die zu faul sind, um ihren Beitrag am Bruttosozialprodukt zu leisten. Dabei braucht man sich die Augen nicht besonders stark zu reiben, um festzustellen, dass die wirklich leistungslosen Einkommen an ganz anderen Orten an¬fallen, nämlich eben zum Beispiel bei den 830'000 Damen und Herren Millionärinnen, welche bei einer Gesamtrendite von nicht eben umwerfenden 4% pro Jahr schon mal 40'000 Euro pro Million einsacken können, ohne auch nur einen verdorbenen Gedanken dabei gedacht zu haben. Und vollends lustig wird es dann bei den Erbschaften; wenn so ein Multimillionär sein Vermögen den Nach¬fahren steuerbegünstigt weiterreicht, wo liegt denn hier die Leistung, einmal abgesehen von jener der Hausjuristen, welche eine allfällige Erbschaftssteuer mit zwanzigtausend Tricks aushebeln?

Am schönsten wurde Leistung in den letzten Jahren aber zweifellos im Bankensektor entlohnt. Den zuständigen Fachleuten ist nämlich das gelungen, was weder den Alt-68-ern noch der neuen Linken geglückt ist: Sie haben das System derart destabilisiert, dass es in seinen Finanzbestandteilen kurz vor dem Kollaps steht. Und ich kann euch versichern, geschätzte Freundinnen und Freunde: Für den Kapitalismus ist das Finanzielle durchaus keine Bagatelle, keine Beiläufigkeit, keine Nebensache, das Kapital ist für den Kapitalismus durchaus nicht Peanuts, sondern das Kapital ist das Kernelement dieses Systems, und ausgerechnet hier haben die Absolventen der Elite-Wirtschaftshochschulen und die Anhänger der Privatisierungsideologie, die vermeintlichen Zöglinge von Friedrich Hayek und Milton Fried¬man, die würdigen Nachfahren von Ronald Reagan und Margaret Thatcher ein solches Schlamassel veranstaltet, dass die westliche Welt auch jetzt noch nicht so richtig begriffen hat, wie es ihr geschieht.

Wie gesagt: Das ist das eine. Praktische Systemkritik hat ihre lustigen Seiten, auch wenn heute die meisten Menschen mit erheblichen Befürchtungen bezüglich ihrer beruflichen und rentenmäßigen Zukunft herum schlurfen. Aber dass die Ideologen des Liberalismus nach wie vor gegen jenen Staat keifen, der drauf und dran ist, sich selber schuldenmäßig in die Luft zu sprengen, nur damit die Finanzinstitute nicht vor die Hunde gehen, das ist doch ein Stück, das eigentlich zu stark ist für einen gesunden Menschenverstand. Das einzig Positive dabei ist, dass immer klarer wird, dass man neue Lösungen braucht, von Grund auf neue Lösungen. Es geht nicht mehr um die alten Gegensätze zwischen Planwirtschaft und freiem Wettbewerb, und den alten Systemstreit zwischen Liberalismus und Kommunismus können wir ebenfalls getrost auf die Ofenbank schieben. Wir müssen die richtigen Institutionen entwerfen für diese Zeit und für die nächste Zukunft.

Was ihr mit Europa und dem Euro angefangen hat, waren justament Versuche in diese Richtung, und ich möchte diese Versuche noch nicht mal als absolute Misserfolge werten, aber ein Vollerfolg waren sie bisher wohl auch nicht. Die Zukunft wird aber in jedem Fall nicht mehr national sein, und insofern ist Europa absolut zwingend. Wenn man für Europa mehr Transparenz und eine zunehmende Entscheidungsgewalt der Bürgerinnen und Bürger fordert, was ich für korrekt halte, dann muss man gleichzeitig fordern, dass die Bürgerinnen und Bürger auch ein eigenes und ein gegenseitiges Verständnis auf europäischer Ebene entwickeln. So etwas kann man zusammen mit der geeigneten Auf¬gabenteilung entwickeln, wobei ich nicht jenes Beispiel meine, dass Deutschland und Österreich den Ausstieg aus der Atomenergie ankündigen, damit anschließend die französische Regierung im Auftrag des Atomtechnologiekonzerns Areva den Tschechen 16 Atommeiler anzudrehen versucht. Sowas finde ich unanständig, und ich hoffe, dass eure freundliche Bundeskanzlerin die Muße findet, dies ihrem kleinen französischen Amtskollegen Luis de Funès auch mal so richtig vor die Stirn zu stoßen. – Nein, der europäische Weg ist mit Sicherheit der richtige, bloß eben über den konkreten Weg und über die Institutionen muss man sich unterhalten. Das reicht vom Grundeinkommen über gemeinsame oder mindestens gleich strukturierte Rechtskörper bis hin zum Bildungssystem, wo ja die ersten Anläufe durchaus Erfolge gebracht haben, übrigens. Und dann sowieso die Grundstrukturen des Staates und der Staatshaushalte, welche ihrerseits abhängen von der politischen Struktur zum einen und der Wirtschaftskraft zum anderen. Gerade in Sachen Wirtschaftskraft ist es allzu offensichtlich, dass Schwerpunkte gesetzt werden müssen, die von der Solarenergie über die Metall verarbeitende Industrie gehen bis hin zum Gesundheitswesen. Der Tourismus ist zwar eine rein kommerzielle Form des gegenseitigen Austausches, aber wenn man die mal im besten marktökonomischen Sinne versteht, dann kommt man bald einmal drauf, dass für einen Erfolg im Tourismusbereich nur etwas zählt, nämlich Freundlichkeit und gute Produkte und eine gute Infrastruktur und so weiter und so fort. Ach ja, genau, Infrastrukturen gehören auch dazu. Und ebenfalls dazu gehört die Verhinderung oder der Ausschluss krimineller Organisationen aus der Politik und aus dem Land, wenn ich da mal an Italien denke. Oder aber in der Landwirtschaft: Wenn es schon Konsens ist, dass die Bauern aus der EU-Zentralkasse Milliarden an Zuschüssen erhalten, dann sollen die bitte so eingesetzt werden, dass nicht die Massenproduktion das absolute Ziel ist, sondern eine landwirtschaftliche Produktion, welche neben der Sicherstellung der Kalorienzufuhr auch noch einen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt bringt. Das lässt sich nämlich machen, vor allem, wenn wie gesagt Geldmittel in diesen Sektor fließen, die sich gewaschen haben.

Und dann halt eben die Banken. Jetzt steht schon die zweite Rettungsaktion bevor, und erneut saniert sich der Sektor mit Staatsgeldern, und zwar, weil alles andere gar nicht mehr möglich ist. Na gut, angenommen, es brauche die Banken und einen Finanzsektor, dann saniert ihn halt, und zwar richtig; aber wie kommt es, dass nach solchen Sanierungsaktionen immer noch das gleiche Gesocks die gleichen alten frechen Sprüche vom Stapel lässt und nach wie vor nicht zu den Vermögens-, sondern zu den Einkommensmillionären zählt? Könnt ihr mir das mal erklären? Beziehungsweise und etwas konkreter: Könnt ihr mir erklären, weshalb es in Europa nicht längstens eine Partei gibt, welche die komplette Verstaatlichung des Bankensektors und alle weiteren korrekten Modernisierungsschritte mit topmodernen Institutionen und einer prächtig auf Vordermann gebrachten, direktdemokratisch konditionierten europäischen Gesamtbevölkerung fordert? Könnt ihr mir dieses bitte mal erklären? Wieso stehen weder die Grünen noch die SPD auf den Barrikaden oder blockieren die Bankeneingänge wie die anderen Jungs und Mädels in der Wall Street? Gibt es dafür auch nur einen klitzekleinen Grund?

Vielleicht liegt es daran, dass die Sprücheklopfer eben nicht nur auf Seiten der Liberalen und der Bankenlobbyisten zu finden sind, sondern generell bei allen Lobbyisten aller Parteien. Tatsächlich fallen bei mir auch bei den rituell herunter geleierten Statements meiner linken Lieblingspolitikerinnen, vor allem von Claudia Roth, stets die Augen- und Ohrenklappen. Ich glaube, dass eine der ersten Institutionen, welche eine Komplettrenovation benötigen, das Parteiensystem ist bzw. die Art, den Staat als künstlichen freien Markt der Interessen und Lobbyisten zu handhaben, in dem eine Parodie auf Adam Smith geboten wird. In Zeiten wie diesen, aber durchaus auch in anderen Zeiten muss das Gezerre um Einzelinteressen, der Markt der gegenseitigen Interessenabsprachen irgendwie unterbunden werden, sonst kommt man schon grad überhaupt nirgends mehr hin.